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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
5C.115/2006 /bnm 
 
Urteil vom 18. Oktober 2006 
II. Zivilabteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Raselli, Präsident, 
Bundesrichter L. Meyer, Ersatzrichter Riemer, 
Gerichtsschreiber Gysel. 
 
Parteien 
1. A.________, 
2. B.________, 
3. C.________, 
4. D.________, 
5. E.________, 
6. F.________, 
Kläger und Berufungskläger, 
alle vertreten durch Advokat Dr. Claude Schnüriger, 
 
gegen 
 
Versicherung G.________, 
Beklagte und Berufungsbeklagte, 
vertreten durch Advokat lic. iur. Thomas Rieder, 
 
Gegenstand 
Versicherungsvertrag, 
 
Berufung gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Y.________ vom 18. Januar 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
H.________ und die Versicherung G.________ (im Folgenden: G.________) schlossen mit Wirkung ab 1. Februar 1999 einen Lebensversicherungsvertrag ab. In dem vom 22. Januar 1999 datierten Formular "Ergänzung zum Antrag" hatte H.________ die Frage 4.1 ("Waren Sie in den letzten 5 Jahren in Behandlung bei einem Arzt, Naturheilpraktiker, Chiropraktor, Physiotherapeuten oder Psychologen, die mehr als 3 Wochen dauerte, oder mussten Sie sich dort wiederholten Kontrollen unterziehen?") und die Frage 4.3 ("Ist bei Ihnen ein AIDS-Test durchgeführt worden, der das Resultat 'HIV-positiv' ergab?") mit "nein" beantwortet. Mit Nachtrag vom 4. Dezember 2002 bezeichnete er seine Geschwister als Begünstigte im Todesfall. 
 
Am 19. Mai 2003 starb H.________. G.________ holte bei seinem Hausarzt, Dr. med. I.________, mit ihrem Formular "Ärztlicher Bericht" Auskünfte zum Todesfall ein. In dem vom 7. Juni 2003 datierten Bericht beantwortete der Arzt die Frage 7 ("an welchen Krankheiten hat der Verstorbene ausserdem gelitten?") mit "HIV-Infektion CDC A2.", die Frage 8, erster Teil ("Seit wann?"), mit "April 1997" und die Frage 8, zweiter Teil ("behandelnder Arzt"), mit "Innere Medizin II Kantonsspital Y.________". G.________ erhielt den ärztlichen Bericht am 12. Juni 2003. Mit Schreiben vom 19. Juni 2003 verlangte sie hierauf auch vom Kantonsspital Y.________ einen Bericht. Dieser wurde am 1. Juli 2003 erstattet und ging am 8. Juli 2003 bei ihr ein. 
 
Mit Schreiben vom 17. Juli 2003 (versehentlich mit dem Datum vom 15. März 2002 versehen) erklärte G.________ gegenüber den Erben von H.________, sie trete wegen Anzeigepflichtverletzung vom Versicherungsvertrag zurück. 
B. 
A.________, B.________, C.________, D.________, E.________ und F.________, die Geschwister des verstorbenen Versicherungsnehmers, reichten mit Eingabe vom 23. Februar 2004 beim Zivilgericht Y.________ gegen G.________ Klage ein und beantragten, die Beklagte zu verpflichten, ihnen je Fr. 9'016.95 nebst Zins zu 5 % auf Fr. 11'551.50 vom 19. Mai 2003 bis zum 25. Juli 2003 und auf Fr. 9'016.95 seit 26. Juli 2003 zu zahlen. 
 
 
Das Zivilgericht hiess die Klage am 24. November 2004 vollumfänglich gut. 
 
Die Beklagte appellierte, worauf das Appellationsgericht des Kantons Y.________ mit Urteil vom 18. Januar 2006 den erstinstanzlichen Entscheid aufhob und die Klage abwies. 
C. 
Mit eidgenössischer Berufung vom 4. Mai 2006 verlangen die Kläger, den Entscheid des Appellationsgerichts aufzuheben und die Klage gutzuheissen. 
 
Die Beklagte schliesst mit Berufungsantwort vom 3. Oktober 2006 auf Abweisung der Berufung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Der Versicherer ist berechtigt, den Vertrag durch schriftliche Erklärung zu kündigen, falls der Anzeigepflichtige beim Abschluss der Versicherung eine erhebliche Gefahrstatsache, die er kannte oder kennen musste und über die er schriftlich befragt worden ist, unrichtig mitgeteilt oder verschwiegen hat (Art. 6 Abs. 1 VVG). Das Kündigungsrecht erlischt vier Wochen, nachdem der Versicherer von der Verletzung der Anzeigepflicht Kenntnis erhalten hat (Art. 6 Abs. 2 VVG). 
1.2 Dass der verstorbene Versicherungsnehmer durch die Verneinung der Fragen 4.1 und 4.3 des Formulars "Ergänzung zum (Versicherungs-)Antrag" seine Anzeigepflicht verletzt hat und die Beklagte deshalb grundsätzlich berechtigt war, im Sinne von Art. 6 Abs. 1 VVG den Rücktritt vom Versicherungsvertrag zu erklären, wird auch von den Klägern anerkannt. Strittig ist indessen, ob die Beklagte den Rücktritt rechtzeitig, d.h. innert der einschlägigen Frist von vier Wochen, erklärt hat. 
 
Das Zivilgericht hatte die Rücktrittserklärung der Beklagten bezüglich der Frage 4.3 (Durchführung eines AIDS-Tests mit positivem HIV-Resultat) als verspätet bezeichnet und bezüglich der Frage 4.1 (mehr als dreiwöchige Behandlung bzw. wiederholte Kontrollen in den letzten fünf Jahren) die Frage der Rechtzeitigkeit letztlich offen gelassen, da aus der Sicht der Anzeigepflichtverletzung die HIV-Erkrankung und die dadurch bedingte Behandlung als einheitlicher Sachverhalt zu betrachten seien. 
 
Demgegenüber hat das Appellationsgericht dafür gehalten, dass die Beklagte mit Bezug auf beide vom Versicherungsnehmer unrichtig beantworteten Gesundheitsfragen den Rücktritt vom Vertrag fristgerecht erklärt habe. 
2. 
Die Rücktrittsfrist von Art. 6 Abs. 2 VVG ist eine Verwirkungsfrist und beginnt, sobald der Versicherer zuverlässige Kunde von Tatsachen erhält, aus denen sich der sichere Schluss auf Verletzung der Anzeigepflicht ziehen lässt; blosse Vermutungen, die zu grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit drängen, dass die Anzeigepflicht verletzt ist, genügen nicht (BGE 119 V 283 E. 5a S. 287 f. mit Hinweisen; Urs Ch. Nef, in: Basler Kommentar zum Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag, N. 22 zu Art. 6). 
2.1 Nach Ansicht des Appellationsgerichts lässt sich nicht sagen, dass die Beklagte bereits bei Erhalt des vom 7. Juni 2003 datierten Berichts von Dr. med. I.________ sichere und zweifelsfreie Kenntnis über die Anzeigepflichtverletzung im Zusammenhang mit der Verneinung der Gesundheitsfrage 4.3 (AIDS-Test mit Resultat "HIV-positiv") erlangt habe. Wohl habe sich aus dem erwähnten Bericht ergeben, dass der Versicherte seit April 1997 an einer HIV-Infektion gelitten habe, doch sei zu bedenken, dass Dr. I.________ die Frage nach dem behandelnden Arzt mit "Innere Medizin II Kantonsspital Y.________" beantwortet habe, woraus zu schliessen sei, dass nicht er, der Hausarzt, selbst die Diagnose gestellt habe. Die Vorinstanz räumt alsdann zwar ein, dass mit Blick auf die seit 1997 bestehende HIV-Infektion eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für die Annahme gesprochen habe, der Versicherte habe beim Ausfüllen des Fragebogens im Jahre 1999 seine Anzeigepflicht verletzt, da kaum anzunehmen sei, er sei über die Infektion nicht aufgeklärt worden. Indessen gibt sie zu bedenken, dass die Beklagte dies nicht mit letzter Sicherheit habe ausschliessen können. Angesichts der Krebserkrankung, die letztlich zum Tode geführt habe, sei es zumindest vorstellbar gewesen, dass dem Patienten die Infektion vorerst nicht mit der letzten Klarheit kommuniziert worden sei. Zur Antwort von Dr. I.________ auf die Frage nach dem behandelnden Arzt bezüglich der von ihm erwähnten HIV-Infektion erklärt das Appellationsgericht, die Angabe der Inneren Medizin II des Kantonsspitals Y.________ besage nicht, dass dort auch tatsächlich eine Behandlung stattgefunden habe, bzw. es ergebe sich aus ihr nicht, welcher Art und Dauer eine Behandlung gewesen sei. Ebenso wenig lasse sich aus der erwähnten Antwort schliessen, es hätten im Kantonsspital in der fraglichen Zeitspanne wiederholte Kontrollen stattgefunden. Sodann habe eine Anzeigepflichtverletzung bezüglich der Gesundheitsfrage 4.1 (Behandlung von mehr als drei Wochen Dauer in den letzten fünf Jahren bzw. wiederholte Kontrollen durch die behandelnde Person) auf Grund des Berichts des Hausarztes zwar vermutet werden können; sichere und vollständige Kenntnis habe jedoch auch hier wiederum erst das Schreiben des Kantonsspitals vom 1. Juli 2003 gebracht. 
2.2 Der Auffassung des Appellationsgerichts ist nicht beizupflichten: Vorab ist hervorzuheben, dass die Beklagte die Erkundigungen über allfällige Krankheiten - seien es solche, die zum Tod des Versicherungsnehmers geführt hatten, seien es andere - auf einem von ihr stammenden Formular eingeholt hatte und dass es sich bei Dr. I.________, der die entsprechenden Antworten abgegeben hatte, um den Hausarzt des Verstorbenen gehandelt hatte. Hinzuweisen ist sodann vor allem auf die Vorbehaltlosigkeit der Antworten und auf den Umstand, dass es sich bei der von Dr. I.________ angegebenen Krankheit (HIV-Infektion) genau um das Leiden handelte, das Gegenstand der Gesundheitsfrage 4.3 gebildet hatte. Werden schliesslich noch die zeitliche Umschreibung der Behandlung (Seit wann?: "April 1997"), die keinerlei Eingrenzung hinsichtlich der Dauer enthielt, und die Angaben über die behandelnde Institution ("Innere Medizin II Kantonsspital Y.________") in Betracht gezogen, sind vernünftige Zweifel sowohl hinsichtlich der Krankheit als solcher als auch hinsichtlich einer drei Wochen übersteigenden Dauer für die entsprechende Behandlung ausgeschlossen. Ebenso ist nach dem Gesagten davon auszugehen, dass der Versicherungsnehmer im Zeitpunkt der Beantwortung der Gesundheitsfragen (22. Januar 1999) von den einschlägigen Tatsachen Kenntnis gehabt hatte. 
 
Mithin erlangte die Beklagte schon mit dem Eingang des Berichts von Dr. med. I.________ (12. Juni 2003) im Sinne von Art. 6 Abs. 2 VVG davon Kenntnis, dass der Versicherungsnehmer seine Anzeigepflicht verletzt hatte. Ob es sich dabei um eine einzige oder um zwei verschiedene Anzeigepflichtverletzungen - mit unterschiedlichem Fristenlauf (vgl. BGE 109 II 159 E. 2c S. 163) - gehandelt hatte, mag dahin gestellt bleiben, da nach dem Dargelegten die Frist hier im gleichen Zeitpunkt ausgelöst wurde. 
3. 
Die Rücktrittserklärung der Beklagten vom 17. Juli 2003 war nach dem Ausgeführten verspätet. Damit haben die Kläger als die vom Versicherungsnehmer begünstigten Geschwister Anspruch auf die vertraglichen Versicherungsleistungen im Todesfall. In quantitativer Hinsicht wird die Klage von der Beklagten nicht bestritten, so dass sie vollumfänglich gutzuheissen ist. 
4. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist die Gerichtsgebühr der Beklagten aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Diese ist ausserdem zu verpflichten, die Kläger für ihre Umtriebe im bundesgerichtlichen Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG). Sodann ist die Sache zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen für das kantonale Verfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
1.1 In Gutheissung der Berufung wird das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Y.________ vom 18. Januar 2006 aufgehoben. 
1.2 Die Beklagte wird verpflichtet, an die Kläger 1-6 je Fr. 9'016.95 nebst Zins zu 5 % auf Fr. 11'551.50 vom 19. Mai 2003 bis 25. Juli 2003 und auf Fr. 9'016.95 seit 26. Juli 2003 zu bezahlen. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird der Beklagten auferlegt. 
3. 
Die Beklagte wird verpflichtet, die Kläger für das bundesgerichtliche Verfahren mit insgesamt Fr. 3'000.-- zu entschädigen. 
4. 
Bezüglich der Kosten und Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens wird die Sache zu neuer Entscheidung an das Appellationsgericht des Kantons Y.________ zurückgewiesen. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons Y.________ schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 18. Oktober 2006 
Im Namen der II. Zivilabteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: