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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess {T 7} 
C 108/06 
 
Urteil vom 14. August 2006 
I. Kammer 
 
Besetzung 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari, Lustenberger, Borella und Kernen; Gerichtsschreiber Flückiger 
 
Parteien 
Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich, Brunngasse 6, 8400 Winterthur, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
O.________, 1975, Beschwerdegegnerin, 
vertreten durch ihren Vater 
 
Vorinstanz 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur 
 
(Entscheid vom 22. März 2006) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die 1975 geborene O.________ war - mit Unterbrüchen - vom 1. Juli 1992 bis 10. November 2004 als Küchenmitarbeiterin bei der C.________ AG angestellt. Am ... November 2004 wurde über die Arbeitgeberfirma der Konkurs eröffnet. Die Publikation im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) erfolgte am ... 2004. 
Am 28. November 2004 (Eingang 6. Dezember 2004) stellte O.________ bei der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich Antrag auf Insolvenzentschädigung. Die Kasse verlangte mit Schreiben vom 16. Dezember 2004 die Nachreichung zusätzlicher Unterlagen bis 25. Januar 2005. Nachdem die Dokumente nicht eingereicht worden waren, lehnte sie es mit Verfügung vom 1. Februar 2005 und Einspracheentscheid vom 11. März 2005 ab, eine Insolvenzentschädigung auszurichten. 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich in dem Sinne gut, dass es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache an die Arbeitslosenkasse zurückwies, damit sie nach Prüfung der übrigen Voraussetzungen über das Leistungsbegehren neu verfüge (Entscheid vom 22. März 2006). 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Arbeitslosenkasse die Aufhebung des kantonalen Entscheids. 
O.________ lässt das Rechtsbegehren stellen, auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei nicht einzutreten. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
Gemäss Art. 62 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 AVIG ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässiges Rechtsmittel gegen Entscheide der kantonalen Versicherungsgerichte auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung und der Insolvenzentschädigung. Die Arbeitslosenkasse ist durch den als Endentscheid zu qualifizierenden (BGE 120 V 237 Erw. 1a; AHI 2001 S. 127 Erw. 1) kantonalen Gerichtsentscheid vom 22. März 2006 materiell und formell beschwert und damit zur Beschwerde legitimiert. Der in der Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin gestellte Nichteintretensantrag ist deshalb unbegründet. 
2. 
2.1 Anspruch auf Insolvenzentschädigung haben Arbeitnehmer von Arbeitgebern, die in der Schweiz der Zwangsvollstreckung unterliegen oder in der Schweiz Arbeitnehmer beschäftigen, unter anderem wenn gegen ihren Arbeitgeber der Konkurs eröffnet wird und ihnen in diesem Zeitpunkt Lohnforderungen zustehen (Art. 51 Abs. 1 lit. a AVIG). Nach Art. 53 Abs. 1 AVIG muss der Arbeitnehmer den Entschädigungsanspruch spätestens 60 Tage nach der Veröffentlichung des Konkurses im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) bei der öffentlichen Kasse stellen, die am Ort des Betreibungs- und Konkursamtes zuständig ist. Mit dem Ablauf dieser Frist erlischt der Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 53 Abs. 3 AVIG). 
2.2 Gemäss Art. 77 Abs. 1 AVIV hat der Versicherte, der Insolvenzentschädigung beansprucht, der zuständigen Kasse das vollständig ausgefüllte Antragsformular (lit. a), den Versicherungsausweis der AHV/IV (lit. b), die Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung oder eine Wohnsitzbescheinigung der Gemeinde oder, wenn er Ausländer ist, den Ausländerausweis (lit. c) und alle weiteren Unterlagen einzureichen, welche die Kasse zur Beurteilung seines Anspruchs verlangt (lit. d). Nötigenfalls setzt die Kasse dem Versicherten eine angemessene Frist für die Vervollständigung der Unterlagen und macht ihn auf die Folgen der Unterlassung aufmerksam (Abs. 2). 
2.3 Nach der Rechtsprechung ist der Anspruch auf Insolvenzentschädigung verwirkt, wenn er zwar innert der Frist von Art. 53 Abs. 1 AVIG geltend gemacht wird, die versicherte Person aber innerhalb dieses Zeitraums oder einer ihr allenfalls gestützt auf Art. 77 Abs. 2 AVIV gesetzten Nachfrist nicht alle gemäss Art. 77 Abs. 1 AVIV erforderlichen Unterlagen beibringt. Dies gilt jedoch nur, wenn die Arbeitslosenkasse die Antrag stellende Person ausdrücklich und unmissverständlich auf die Verwirkungsfolge bei verspäteter Einreichung der für die Beurteilung des Leistungsanspruchs wesentlichen Unterlagen hingewiesen hat (ARV 2002 S. 188 Erw. 3c). 
3. 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf Insolvenzentschädigung und in diesem Rahmen die Frage, ob dieser frist- und formgerecht geltend gemacht wurde. 
3.1 In tatsächlicher Hinsicht ist unbestritten und erstellt, dass die Beschwerdegegnerin, nachdem die Konkurseröffnung über die Arbeitgeberfirma am ... 2004 im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) veröffentlicht worden war, einen Antrag auf Insolvenzentschädigung stellte, welcher am 6. Dezember 2004 bei der Arbeitslosenkasse eintraf. Diese verlangte mit Schreiben vom 16. Dezember 2004 die zusätzliche Einreichung von Kopien einer Wohnsitzbescheinigung der Gemeinde sowie der Lohnabrechnung vom Oktober 2004 mit dem Feriensaldo. Sie verband diese Aufforderung mit dem Hinweis, die zusätzlichen Unterlagen müssten bis 25. Januar 2005 zugestellt werden, da an diesem Datum die 60-tägige Frist zur Geltendmachung des Anspruchs (nach Art. 53 Abs. 1 AVIG) ablaufe. Die nicht fristgerechte Einlieferung der verlangten Dokumente führe zum ganzen oder teilweisen Verlust der Ansprüche gegenüber der Arbeitslosenversicherung. Nachdem die Unterlagen nicht eingetroffen waren, erging am 1. Februar 2005 die Leistungen verweigernde Verfügung. 
3.2 Weil das am 6. Dezember 2004 bei der Arbeitslosenkasse eingegangene Leistungsbegehren nicht alle für die Beurteilung des Anspruchs erforderlichen Unterlagen enthielt, hat die Kasse diese mit ihrem Schreiben vom 16. Dezember 2004 zu Recht nachgefordert. Angesichts des verbleibenden Zeitraums innerhalb der Frist von 60 Tagen gemäss Art. 53 Abs. 1 AVIG, welche gemäss den Berechnungen der Kasse am 25. Januar 2005 ablief, war es korrekt, dieses Datum als für die Wahrung des Anspruchs massgebenden Termin zu bezeichnen. Das Schreiben enthielt den von der Rechtsprechung verlangten klaren und unmissverständlichen Hinweis darauf, dass die Nichtbeachtung der Einreichungsfrist den Untergang möglicher Ansprüche bewirken könne. Der entsprechende Satz wurde durch Fettdruck und Unterstreichung optisch hervorgehoben. Unter diesen Umständen führt das nicht fristgerechte Einreichen der einverlangten Dokumente zur Verwirkung des Anspruchs auf Insolvenzentschädigung, sofern die 60-tägige Frist des Art. 53 Abs. 1 AVIG am 25. Januar 2005 endete, wie die Arbeitslosenkasse annimmt. 
4. 
4.1 Die Frist nach Art. 53 Abs. 1 AVIG wurde durch die Veröffentlichung der Konkurseröffnung über die Arbeitgeberfirma im SHAB vom ... 2004 eröffnet. Das kantonale Gericht hat unter Hinweis auf die Lehrmeinung von Urs Burgherr, Die Insolvenzentschädigung, Diss. Zürich 2004, S. 103, erwogen, gemäss Art. 38 Abs. 4 lit. c ATSG (in Verbindung mit Art. 1 AVIG) sei die Frist vom 18. Dezember 2004 bis 1. Januar 2005 still gestanden. Die Verwirkung hätte somit frühestens am 7. Februar 2005, also nach dem Erlass der Verfügung vom 1. Februar 2005, eintreten können. Die Beschwerde führende Arbeitslosenkasse und mit ihr das seco vertreten demgegenüber die Auffassung, der Stillstand nach Art. 38 Abs. 4 ATSG gelte für die Frist gemäss Art. 53 Abs. 1 AVIG nicht. 
4.2 Gemäss Art. 1 ATSG koordiniert dieses Gesetz das Sozialversicherungsrecht des Bundes, indem es unter anderem (lit. b am Anfang) ein einheitliches Sozialversicherungsverfahren festlegt. Diesem Zweck dient der die Art. 34-55 umfassende 2. Abschnitt "Sozialversicherungsverfahren" des vierten Kapitels "Allgemeine Verfahrensbestimmungen" (Art. 27-62 ATSG). Mit den darin enthaltenen Art. 38-41 ATSG wurden im Wesentlichen die Fristbestimmungen gemäss Art. 20-24 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren (VwVG) auch für jene Bereiche des Sozialversicherungsverfahrens übernommen, in welchen sie zuvor nicht ohne weiteres gültig gewesen waren (vgl. dazu Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, Zürich 2003, S. 555 Art. 55 Rz 13; derselbe, Das Verwaltungsverfahren in der Sozialversicherung, Zürich 1999, S. 129 Rz 284 ff.). Entsprechend ihrer Funktion, das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungsverfahren zu regeln, beziehen sich die Fristbestimmungen des ATSG (ebenso wie diejenigen des VwVG [BGE 102 V 116 Erw. 2b] und des OG [BGE 101 II 88 Erw. 2]) einzig auf die verfahrensrechtlichen Fristen, nicht aber auf jene des materiellen Rechts. Die Anwendbarkeit von Art. 38 Abs. 4 ATSG hängt demzufolge davon ab, ob die in Frage stehende Frist materiell- oder verfahrensrechtlichen Charakter hat. Dies entscheidet sich danach, ob die Nichteinhaltung der Frist die konkreten materiellrechtlichen Beziehungen beeinflusst oder ob sie sich stattdessen verfahrensrechtlich auswirkt, indem ein in unveränderter Weise bestehender Anspruch nicht mehr gleichermassen geltend gemacht werden kann (RKUV 2005 Nr. KV 337 S. 297 Erw. 3.5 mit Hinweisen [= Urteil Z. vom 28. Juli 2005, K 26/05]). 
4.3 Laut Art. 53 Abs. 3 AVIG erlischt mit dem Ablauf der 60-tägigen Frist der Anspruch auf Insolvenzentschädigung. Entsprechend dem Verwirkungscharakter der Frist (BGE 123 V 107 Erw. 2a; ARV 2002 S. 187 Erw. 1a; Thomas Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Stand Frühjahr 1998, S. 193 Rz 515) geht unter Vorbehalt einer allfälligen Wiederherstellung der Anspruch als solcher unter. Er existiert nicht mehr (Gerhard Gerhards, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz [AVIG], Band I, Bern 1987, S. 569, Rz 19 zu Art. 53; Beatrice Grob-Andermacher, Die Rechtslage des Arbeitnehmers bei Zahlungsunfähigkeit und Konkurs des Arbeitgebers, Diss. Zürich 1982, S. 117; vgl. auch Hans-Ulrich Stauffer, Die Arbeitslosenversicherung, Zürich 1984, S. 180; Urs Burgherr, Die Insolvenzentschädigung, Diss. Zürich 2004, S. 103; Boris Rubin, Assurance-chômage, Delémont 2005, S. 356). Die Frist nach Art. 53 Abs. 1 AVIG beschlägt somit nicht die verfahrens-, sondern die materiellrechtliche Ebene. Dies hat zur Folge, dass der Fristenstillstand nach Art. 38 Abs. 4 ATSG keine Anwendung findet (in diesem Sinn auch Edgar Imhof/Christian Zünd, ATSG und Arbeitslosenversicherung, SZS 2003 S. 291 ff., 309, und allgemein zu den im AVIG festgesetzten Fristen Ueli Kieser, Arbeitslosenversicherung und Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, ARV 2004 S. 1 ff., 5). Der in diesem Punkt abweichenden Lehrmeinung (Urs Burgherr, Die Insolvenzentschädigung, Diss. Zürich 2004, S. 103), auf welche sich das kantonale Gericht stützte, kann nicht gefolgt werden. 
4.4 Die Berechnung ohne Berücksichtigung des Fristenstillstandes führt zum Ergebnis, dass der Anspruch auf Insolvenzentschädigung verwirkt ist. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist dementsprechend gutzuheissen. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 22. März 2006 aufgehoben. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt. 
Luzern, 14. August 2006 
 
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Die Präsidentin der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber: