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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.716/2005 /gij 
 
Urteil vom 21. November 2005 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Nay, Eusebio, 
Gerichtsschreiberin Schoder. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Rolf Besser, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026 Zürich, 
Bezirksgericht Zürich, Einzelrichteramt für Zivil- und Strafsachen, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich. 
 
Gegenstand 
Haftentlassung, 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich, Einzelrichteramt für Zivil- und Strafsachen, vom 20. Oktober 2005. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ ist seit dem 17. Juni 2005 inhaftiert und wurde mit Urteil vom 15. September 2005 vom Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz und gegen das Ausländer- und Niederlassungsgesetz mit einer unbedingten Gefängnisstrafe von 6 Monaten abzüglich 40 Tagen erstandener Untersuchungshaft und abzüglich 52 Tagen erstandener Sicherheitshaft bestraft. Zudem widerrief der Einzelrichter die mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 18. Oktober 2004 bedingt ausgesprochene Freiheitsstrafe von 60 Tagen Gefängnis abzüglich einem Tag erstandener Haft. Mit separater Verfügung vom 15. September 2005 ordnete der Einzelrichter wegen Fluchtgefahr Sicherheitshaft bis zum möglichen Strafantritt, längstens bis zum 27. Oktober 2005 an. 
 
Am 22. September 2005 erklärte X.________ gegen das Urteil des Einzelrichters Berufung. Mit Verfügung vom 20. Oktober 2005 verlängerte der Einzelrichter die Sicherheitshaft bis zum möglichen Strafantritt, längstens bis zur Erstehung der gesamten sechsmonatigen Gefängnisstrafe. Zur Begründung verwies er auf die Verfügung vom 15. September 2005. 
B. 
X.________ hat gegen die Verfügung des Einzelrichters vom 20. Oktober 2005 staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte eingelegt. Sie beantragt die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und ihre unverzügliche Entlassung aus der Sicherheitshaft. Zudem beantragt sie für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege. 
C. 
Der Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich verzichtete auf Stellungnahme. Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl liess sich vernehmen, ohne einen Antrag zu stellen. Dabei kündigte sie an, dass sie voraussichtlich keine Anschlussberufung erheben wird und gegen eine Entlassung der Beschwerdeführerin aus der Sicherheitshaft per 27. November 2005, d.h. nach Verbüssung von zwei Dritteln der insgesamt achtmonatigen Gefängnisstrafe (6 Monate Gefängnis gemäss Urteil vom 15. September 2005 plus 60 Tage Gefängnis gemäss Strafbefehl vom 18. Oktober 2004) nicht opponiere. Die Beschwerdeführerin hat repliziert. In ihrer Replik beantragt sie ihre Haftentlassung per 27. November 2005 und behält sich einen Rückzug der Beschwerde ausdrücklich vor. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Die Beschwerdeführerin beantragt neben der Aufhebung des angefochtenen Entscheids, dass sie umgehend aus der Haft zu entlassen sei. Dieses Begehren ist in Abweichung vom Grundsatz der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde zulässig, da im Falle einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft die von der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheids, sondern erst durch eine positive Anordnung hergestellt werden kann (BGE 129 I 129 E. 1.2.1 S. 131 f., mit Hinweisen). 
2. 
Die Beschwerdeführerin rügt als erstes eine Verletzung der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 3 EMRK). Sie macht geltend, sie habe bereits mehr als zwei Drittel der vom Einzelrichter angeordneten Strafe verbüsst. Aufgrund ihres guten Verhaltens während der Haft und aufgrund der Annahme, dass sie sich in der Freiheit bewähren werde, könne nach Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 StGB die bedingte Entlassung gewährt werden. Zudem sei davon auszugehen, dass das Obergericht die erstinstanzlich ausgefällte Strafe erheblich reduzieren werde. Eine Fortdauer der Haft sei daher unverhältnismässig. Sodann rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 9 BV) und des Rechts einer verurteilten Person auf Beurteilung durch eine höhere Instanz (Art. 32 Abs. 3 BV), weil nicht einzusehen sei, weshalb die Einlegung eines Rechtsmittels zur Verlängerung der Sicherheitshaft führen solle, und weil die Ergreifung eines Rechtsmittels durch die Haftverlängerung nutzlos werde. In der innerhalb der dreissigtägigen Beschwerdefrist (vgl. Art 89 Abs. 1 OG) eingereichten Replik beanstandet die Beschwerdeführerin zudem die "Abänderung eines richterlichen Entscheids durch diesen selbst", wobei anzunehmen ist, dass die Beschwerdeführerin die Änderung der Verfügung vom 15. September 2005 durch die Haftverlängerung in der angefochtenen Verfügung vom 20. Oktober 2005 meint. 
3. 
Gemäss § 67 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Zürich betreffend den Strafprozess vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH) ist für den Entscheid über die Anordnung von Sicherheitshaft § 58 anwendbar. Diese Vorschrift bestimmt, dass Untersuchungshaft nur angeordnet werden darf, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und ausserdem einer der speziellen Haftgründe der Flucht-, Kollusions-, Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr gegeben ist (§ 58 Abs. 1 und 2 StPO/ZH). Die Untersuchungshaft ist aufzuheben, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr bestehen. Sie darf nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (§ 58 Abs. 3 StPO/ZH). Der Haftrichter kann die Haft zeitlich begrenzen und anordnen, dass die Untersuchungsbehörde innert dieser Frist bestimmte Untersuchungshandlungen vorzunehmen hat (§ 62 Abs. 3 StPO/ZH). Bei der zeitlichen Begrenzung der Haft handelt es sich nicht um eine absolute Höchstgrenze, sondern um eine vorläufige Beschränkung der Haftdauer (Andreas Donatsch, in: Andreas Donatsch/Niklaus Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Zürich 2000, N. 37 zu § 62). Der Untersuchungsbeamte hat dem Haftrichter von Amtes wegen die Fortsetzung der Untersuchungshaft zu beantragen, wenn er eine Fortsetzung der Untersuchungshaft über die vom Haftrichter gemäss § 62 Abs. 3 StPO/ZH bewilligte Zeit hinaus für notwendig hält. 
 
Vorliegend sind Tatverdacht und Fluchtgefahr auch im Zeitpunkt der Haftverlängerung am 20. Oktober 2005 unbestrittenermassen gegeben. Die Voraussetzungen zur Anordnung und Verlängerung von Sicherheitshaft sind damit erfüllt (§ 67 Abs. 2 i.V.m. § 58 Abs. 1 Ziff. 1 StPO/ZH). Die Sicherheitshaft wurde mit der angefochtenen Verfügung verlängert, weil infolge der eingelegten Berufung der Strafantritt nicht möglich war. Zwar enthält die zürcherische Strafprozessordnung, anders als bezüglich der Untersuchungshaft, keine Vorschriften über die zeitliche Begrenzung und Verlängerung der Sicherheitshaft. In Anbetracht der oben dargestellten Vorschriften ist es aber nicht zu beanstanden, wenn der Einzelrichter davon ausgeht, dass die zeitliche Begrenzung nicht nur der Untersuchungshaft, sondern auch der Sicherheitshaft als eine vorläufige zu verstehen ist und dass die Sicherheitshaft, wenn die Haftvoraussetzungen nach wie vor erfüllt sind, durch eine spätere Verfügung verlängert werden darf. Die angefochtene Verfügung vom 20. Oktober 2005, mit welcher die Sicherheitshaft über die in der Verfügung vom 15. September 2005 festgesetzte Haftdauer hinaus verlängert wird, verletzt somit die Verfassung nicht. 
4. 
Art. 32 Abs. 3 BV räumt jeder verurteilten Person das Recht ein, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Ausgenommen sind die Fälle, in denen das Bundesgericht als einzige Instanz urteilt. Das Recht, Strafurteile durch ein höheres Gericht überprüfen zu lassen, ergänzt als Rechtsmittelgarantie die Rechtsweggarantie von Art. 29a BV, indem in Strafsachen ein Anspruch auf eine zweistufige Gerichtsbarkeit besteht (vgl. BGE 128 I 237 E. 3 S. 238 f.; René Rhinow, Grundzüge des schweizerischen Verfassungsrechts, Basel/ Genf/München 2003, N. 2791). Durch die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft während des Rechtsmittelverfahrens wird dieses Recht keineswegs ausgehöhlt. Die Beschwerdeführerin kann nicht ausschliessen, dass das Obergericht die unbedingt ausgesprochene Gefängnisstrafe von 6 Monaten bestätigen wird. Eine Verletzung von Art. 32 Abs. 3 BV fällt damit ausser Betracht. 
5. 
5.1 Bei der Anordnung von Sicherheitshaft handelt es sich um eine Beschränkung der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 3 EMRK). Sie darf nur angeordnet werden, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruht und durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und verhältnismässig ist (Art. 36 Abs. 1-3 BV). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist eine Haftdauer dann nicht mehr verhältnismässig, wenn sie in grosse Nähe der zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt oder gar die mutmassliche Dauer der zu erwartenden Strafe übersteigt (BGE 123 I 268 E. 3a S. 273; 116 Ia 143 E. 5a S. 147). Die in Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 StGB vorgesehene Möglichkeit einer bedingten Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe ist bei der Berechnung der mutmasslichen Dauer der Freiheitsstrafe grundsätzlich ausser Acht zu lassen, es sei denn, die konkreten Umstände des Falles würden eine Berücksichtigung ausnahmsweise gebieten. Ein Ausnahmefall kann insbesondere dann vorliegen, wenn die Voraussetzungen von Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 StGB aufgrund der konkreten Umstände aller Wahrscheinlichkeit nach erfüllt sein werden (Bundesgerichtsurteile 1P.18/2005 vom 31. Januar 2005, E. 1; 1P.505/2002 vom 22. Oktober 2002, E. 3.4.1). 
5.2 Im Rechtsmittelverfahren ist eine Prognose über die mutmassliche Dauer der Strafe weniger unsicher als vor der Ausfällung des erstinstanzlichen Urteils. Vorliegend kann die ausgesprochene Gefängnisstrafe von 6 Monaten mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht erhöht, sondern nur reduziert oder bestätigt werden, da die Staatsanwaltschaft gemäss ihrer Vernehmlassung auf die Erhebung einer Anschlussberufung voraussichtlich verzichten wird (vgl. § 399 StPO/ZH). Unter diesen Umständen ist die angefochtene Verfügung zu summarisch begründet. Der Einzelrichter hätte bei der Verlängerung der Sicherheitshaft die Möglichkeit einer bedingten Entlassung nach Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 StGB nicht ausblenden dürfen. Zumindest hätte er sich in der Haftverfügung kurz zu dieser Möglichkeit äussern und dartun müssen, ob er die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung als erfüllt oder nicht erfüllt erachtet (Bundesgerichtsurteile 1P.18/2005 vom 31. Januar 2005, E. 2; 1P.246/2000 vom 11. Mai 2000, E. 2b). Die Verlängerung der Sicherheitshaft verletzt daher das Grundrecht auf persönliche Freiheit. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und die Verfügung vom 20. Oktober 2005 aufzuheben. Der Einzelrichter ist gehalten, 
- entweder innert sehr kurzer Frist über die Haftverlängerung zu befinden und seinen Entscheid unter dem Blickwinkel von Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 StGB hinreichend zu begründen 
- oder in Anbetracht dessen, dass die Staatsanwaltschaft nicht opponiert, die Beschwerdeführerin nach Verbüssung von zwei Dritteln der insgesamt achtmonatigen Gefängnisstrafe per 27. November 2005 aus der Haft zu entlassen. 
6. 
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich somit als begründet. Sie ist teilweise gutzuheissen und die angefochtene Verfügung des Einzelrichters vom 20. Oktober 2005 aufzuheben. 
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. Der Kanton Zürich ist zu verpflichten, die Beschwerdeführerin angemessen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und die Verfügung des Einzelrichters vom 20. Oktober 2005 aufgehoben. 
2. 
Das Gesuch um sofortige Haftentlassung wird abgewiesen. 
3. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
4. 
Der Kanton Zürich hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'800.-- zu entschädigen. 
5. 
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl und dem Bezirksgericht Zürich, Einzelrichteramt für Zivil- und Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 21. November 2005 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: