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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1A.38/2006 /scd 
 
Urteil vom 31. Mai 2006 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Nay, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiberin Schoder. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann, 
 
gegen 
 
Departement des Innern des Kantons Solothurn, 
vertreten durch das Amt für soziale Sicherheit, Ambassadorenhof, Riedholzplatz 1, 4509 Solothurn, 
Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn, 
Amthaus I, Postfach 157, 4502 Solothurn. 
 
Gegenstand 
Opferhilfe, 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn 
vom 12. Januar 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ wurde am 31. Oktober 2000 von einem Fahrradfahrer angefahren. Dabei erlitt er erhebliche Kopfverletzungen. Gestützt auf ein Gutachten des Zentrums Z.________ (MEDAS-Gutachten) vom 30. August 2004 stellte die Unfallversicherung ihre Leistungen, die sie seit September 2003 erbrachte, per 31. August 2004 ein. In der Folge leistete die Arbeitslosenversicherung während 260 Tagen Taggelder. Die Rahmenfrist zum Bezug von Arbeitslosengelder läuft noch bis am 20. September 2006. Die Invalidenversicherungs-Stelle des Kantons Solothurn verneinte einen Anspruch auf eine Invalidenrente. 
 
Am 5. Februar 2001 reichte X.________ beim Amt für Gemeinden und soziale Sicherheit (heute Amt für soziale Sicherheit) des Departements des Innern des Kantons Solothurn ein Gesuch um Soforthilfe nach Art. 3 des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) ein. Infolge der Kostengutsprache seiner Rechtsschutzversicherung zog X.________ dieses Gesuch am 20. April 2001 zurück. Gleichzeitig stellte er ein Gesuch um Entschädigung und Genugtuung nach Art. 11 ff. OHG und beantragte die Sistierung des opferrechtlichen Verfahrens, da die straf-, sozialversicherungs- und haftpflichtrechtlichen Fragen noch nicht abschliessend beurteilt waren. Mit Verfügung vom 29. Juli 2003 leistete das Amt für Gemeinden und soziale Sicherheit dem Antrag auf Verfahrenssistierung Folge. 
 
Am 19. August 2005 ersuchte X.________ um Ausrichtung eines Entschädigungsvorschusses gemäss Art. 15 OHG. Das Amt für soziale Sicherheit wies das Gesuch am 29. September 2005 mit der Begründung ab, dass die finanzielle Situation des Gesuchstellers nicht unmittelbar auf das Unfallereignis zurückgeführt werden könne. Gegen den abschlägigen Entscheid beschwerte sich X.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn und beantragte dessen Aufhebung sowie die Rückweisung der Sache an das Amt für soziale Sicherheit zur neuen Entscheidung. Mit Urteil vom 12. Januar 2006 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab. 
B. 
X.________ hat gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Neben der Aufhebung des angefochtenen Entscheids beantragt er die Rückweisung der Sache an die kantonalen Instanzen, damit über Zusprechung und Höhe der Vorschussleistung neu entschieden werde. Ausserdem beantragt er die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren. 
C. 
Das Verwaltungsgericht und das Amt für soziale Sicherheit beantragen die Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für Justiz (BJ) als beschwerdeberechtigte Bundesverwaltungsbehörde im Sinn von Art. 110 Abs. 1 OG verzichtete auf Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über die Gewährung eines Vorschusses nach Art. 15 des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts handelt es sich dabei um einen Zwischenentscheid, der einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirkt und daher grundsätzlich mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden kann (BGE 121 II 116 E. 1b/cc S. 119). 
1.2 Zwischenentscheide sind gemäss Art. 106 Abs. 1 OG innert 10 Tagen seit Eröffnung anzufechten. Diese Frist wurde vom Beschwerdeführer nicht eingehalten. In der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Entscheids ist indessen eine Frist von 30 Tagen angegeben. 
 
Nach Art. 107 Abs. 3 OG darf einer Partei aus der unrichtigen Rechtsmittelbelehrung kein Rechtsnachteil erwachsen. Diese Bestimmung findet jedoch nur Anwendung, wenn der Betroffene die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung nicht erkannte und sie auch bei gebührender Aufmerksamkeit nicht hätte kennen müssen (BGE 124 I 255 E. 1a/aa S. 258, mit Hinweisen). Kein Schutz des Vertrauens in eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung besteht namentlich dann, wenn deren Fehlerhaftigkeit bei einer Konsultation des Gesetzestextes hätte festgestellt werden können (BGE 127 II 198 E. 2b S. 205, mit Hinweisen). 
 
Dass die Rechtsmittelfrist zur Anfechtung von Zwischenverfügungen lediglich 10 Tage beträgt, lässt sich ohne weiteres Art. 106 Abs. 1 OG entnehmen. Nicht klar war im vorliegenden Fall hingegen, ob die fragliche Verfügung des Departements des Innern als Zwischenverfügung zu betrachten ist. Die Frage hätte sich nur aufgrund des Studiums der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beantworten lassen. Selbst eine durch einen Anwalt vertretene Partei ist aber nicht gehalten, neben dem Gesetzestext noch die einschlägige Rechtsprechung und Literatur beizuziehen, um eine allfällige Unrichtigkeit einer Rechtsmittelbelehrung erkennen zu können (BGE 117 Ia 421 E. 2a S. 422, mit Hinweisen). 
 
Der Beschwerdeführer durfte somit unter den gegebenen Umständen auf die unrichtige Rechtsmittelbelehrung vertrauen, weshalb die Nichteinhaltung der Beschwerdefrist ihm nicht schadet. Die Frist gemäss Rechtsmittelbelehrung hat er gewahrt. 
1.3 Auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist somit einzutreten. 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Bedingungen zur Ausrichtung eines Vorschusses nach Art. 15 OHG seien erfüllt. Insbesondere sei die Kausalität des Unfallereignisses für den erlittenen Schaden ausgewiesen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts setze das Opferhilfegesetz nicht voraus, dass Vorschussleistungen in engem zeitlichem Zusammenhang mit der Straftat stehen. Die Abweisung seines Vorschussgesuchs infolge Verneinung eines solchen Zusammenhangs sei daher bundesrechtswidrig. 
2.2 Das Verwaltungsgericht erwog, entgegen der Ansicht des Amtes für soziale Sicherheit könne gestützt auf die im Recht liegenden medizinischen Gutachten nicht der Schluss gezogen werden, dass zwischen der gesundheitlichen Situation resp. dem daraus resultierenden Schaden des Beschwerdeführers und dem Unfallereignis überhaupt kein Kausalzusammenhang bestehe. Die Frage der Unfallkausalität sei vorliegend aber nicht relevant und könne deshalb offen bleiben. Die Ausrichtung eines Vorschusses auf eine vorläufig noch ungewisse Entschädigungsleistung nach Art. 11 ff. OHG müsse in einem engen zeitlichen Zusammenhang zur Straftat stehen. Der Sinn eines gestützt auf Art. 15 OHG ausgerichteten Vorschusses liege in der Gewährleistung sofortiger finanzieller Hilfe an Opfer, die unmittelbar im Anschluss an eine Straftat in finanzielle Schwierigkeiten geraten und deshalb zur Deckung ihrer materiellen Bedürfnisse auf eine möglichst schnelle Unterstützung angewiesen seien. Im vorliegenden Fall liege das Unfallereignis aber über fünf Jahre zurück. Die Finanzierung der beruflichen Wiedereingliederung resp. des Lebensunterhalts des Beschwerdeführers stehe nicht mehr in engem zeitlichem Zusammenhang mit der Straftat. Der Beschwerdeführer habe daher keinen Anspruch auf Vorschussleistungen. 
2.3 
2.3.1 Nach Art. 15 OHG wird aufgrund einer summarischen Prüfung des Entschädigungsgesuchs ein Vorschuss gewährt, wenn das Opfer sofortige finanzielle Hilfe benötigt (lit. a) oder die Folgen der Straftat kurzfristig nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen sind (lit. b). Diese materiellen Voraussetzungen sind - dem Wortlaut des Gesetzes entsprechend - alternativ zu erfüllen (BGE 121 II 116 E. 2a S. 120). 
 
Hingegen lässt sich mit dem Wortlaut und mit Sinn und Zweck von Art. 15 OHG nicht vereinbaren, dass die Ausrichtung eines Vorschusses in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Straftat stehen müsste. Es trifft zwar zu, dass der Gesetzgeber mit der Möglichkeit der Auszahlung von Vorschusszahlungen beabsichtigte, eine sorgfältige Prüfung der Entschädigungsgesuche und gleichzeitig die schnelle Gewährung einer Hilfe an die Opfer zu garantieren (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 25. April 1990 zu einem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten [Opferhilfegesetz, OHG], BBl 1990 II 992). Aus dem Zweck des Vorschusses als schnelle Hilfeleistung an die Opfer lässt sich aber nicht ableiten, dass Vorschussgesuche in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Straftat stehen müssten. Für das Opfer stellt sich oftmals erst im Laufe der haftpflicht-, versicherungs- und opferrechtlichen Verfahren heraus, dass die Folgen der Straftat nicht kurzfristig festgestellt werden können. Letzteres ist nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes aber gerade die andere Voraussetzung (Art. 15 lit. b OHG), unter welcher das Opfer Vorschussleistungen verlangen kann (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1A.244/2005 vom 27. März 2006, E. 2.4.3). Zudem entstehen finanzielle Engpässe, die sofortige Hilfeleistungen erforderlich machen, oftmals nicht unmittelbar nach der Straftat, sondern erst während der Verfahrensdauer. Das Opferhilfegesetz sieht nicht vor, dass nur bei Engpässen, die der Straftat zeitlich unmittelbar folgen, Vorschüsse ausgerichtet werden könnten. Das Erfordernis eines engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen Straftat und Vorschusszahlung würde daher dem Sinn des Gesetzes, Engpässe während der Wartezeit bis zum Entscheid über das Entschädigungsgesuch durch schnelle Hilfeleistungen zu überbrücken (Art. 15 lit. a OHG), zuwider laufen. 
2.3.2 Die Vorschusshöhe ist im Gesetz nicht festgelegt. Gemäss Rechtsprechung ist sie auf den Betrag begrenzt, den das Opfer voraussichtlich als Entschädigung beanspruchen kann (Urteil des Bundesgerichts 1A.128/1997 vom 19. Januar 1998, E. 2a). Eine weitergehende Unterstützung des Opfers über den voraussichtlichen künftigen Entschädigungsanspruch hinaus ist nicht vorgesehen. Vielmehr hat das Opfer den Betrag, um den der geleistete Vorschuss die später zugesprochene Entschädigung übersteigt, zurückzuerstatten (Art. 5 der Verordnung über die Hilfe an Opfer von Straftaten vom 18. November 1992 [Opferhilfeverordnung, OHV; SR 312.51]). 
2.3.3 In verfahrensrechtlicher Hinsicht trägt der Einleitungssatz von Art. 15 OHG der Behörde auf, das Entschädigungsgesuch summarisch auf seine Begründetheit zu prüfen. Dazu gehört zunächst die Abklärung, ob das Gesuch rechtzeitig innert zwei Jahren nach der Straftat eingereicht worden ist (Art. 16 Abs. 3 OHG). Weiter hat sich die summarische Prüfung des Entschädigungsgesuchs im Hinblick auf eine Vorschussgewährung mit den Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 12 OHG (Opfereigenschaft, auf die Straftat zurückzuführender Schaden, wirtschaftliche Verhältnisse) auseinanderzusetzen. Summarische Prüfung heisst in diesem Zusammenhang Folgendes: Geht bereits aus dem Entschädigungsgesuch hervor, dass die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 12 OHG nicht erfüllt sind, so ist das Entschädigungsgesuch sofort abzuweisen. Das davon abhängige Vorschussgesuch wird in einem solchen Fall ohne weiteres gegenstandslos. Bedürfen hingegen die Fragen der grundsätzlichen Anspruchsvoraussetzung genauerer Abklärung, weil das Entschädigungsgesuch nicht zum vornherein aussichtslos ist, so ist auf das Gesuch um Vorschussleistungen einzutreten. Die Behörde muss alsdann - und zwar nicht bloss summarisch - prüfen, ob eine der beiden alternativen Voraussetzungen gemäss Art. 15 OHG erfüllt ist (BGE 121 II 116 E. 2a S. 120). 
2.4 Nach dem Gesagten ging das Verwaltungsgericht fälschlicherweise davon aus, es müsse zwischen Straftat und Vorschusszahlung ein enger zeitlicher Zusammenhang bestehen. Das Gericht nahm deshalb keine summarische Prüfung der Begründetheit des Entschädigungsgesuchs vor und liess auch die Frage ungeprüft, ob die in Art. 15 OHG erwähnten Voraussetzungen für die Ausrichtung eines Vorschusses erfüllt sind. Damit ist das Verwaltungsgericht seiner aus Art. 15 OHG fliessenden Prüfungspflicht nicht nachgekommen (vgl. BGE 121 II 116 E. 2b S. 120). Insoweit liegt eine Bundesrechtsverletzung vor. Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Im Hinblick darauf, dass bei der Bemessung eines allfälligen Vorschusses ein Ermessensspielraum besteht, entscheidet das Bundesgericht nicht selber (vgl. BGE 117 Ib 225 E. 7a S. 235), sondern ist die Sache ans Verwaltungsgericht zurückzuweisen (Art. 114 Abs. 2 OG). 
3. 
Es werden keine Kosten erhoben (Art. 156 Abs. 2 OG). Hingegen hat der Kanton Solothurn dem obsiegenden Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu zahlen (Art. 159 Abs. 2 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 12. Januar 2006 aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn zu neuem Entscheid zurückgewiesen. 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
3. 
Der Kanton Solothurn hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen. 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Departement des Innern und dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn sowie dem Bundesamt für Justiz, Hauptabteilung Staats- und Verwaltungsrecht, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 31. Mai 2006 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: