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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_932/2012 
 
Urteil vom 22. März 2013 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Frésard, Maillard, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG, PRD Rechtsdienst, Hohlstrasse 552, Postfach, 8048 Zürich, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
V.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Bernadette Zürcher, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Leistungskürzung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des 
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich 
vom 24. September 2012. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Der 1976 geborene V.________ war bei der B.________ AG angestellt und bei der Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG (nachfolgend Allianz) obligatorisch unfallversichert. Am 4. Juli 2010 wurde er in einem Parkhaus in Zürich von zwei Männern geschlagen. Er erlitt eine Orbitabodenfraktur rechts mit Involvierung des Foramen infraorbitale, eine mediale Orbitawandfraktur rechts und eine Rissquetschwunde supraorbital und infraorbital; am 8. Juli 2010 wurde er im Spital X.________ operiert (Orbitabodenrekonstruktion rechts). Mit Verfügung vom 29. Dezember 2010 und Einspracheentscheid vom 19. Mai 2011 kürzte die Allianz seinen Taggeldanspruch um 50 %, da er sich an einer Rauferei bzw. Schlägerei beteiligt habe. 
 
B. 
In Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde hob das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den Einspracheentscheid auf (Entscheid vom 24. September 2012). 
 
C. 
Mit Beschwerde beantragt die Allianz die Aufhebung des kantonalen Entscheides. 
Der Versicherte schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG geltend gemacht werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Trotzdem prüft es - vorbehältlich offensichtlicher Fehler - nur die in seinem Verfahren geltend gemachten Rechtswidrigkeiten (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). 
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). 
 
2. 
2.1 Das Ereignis vom 4. Juli 2010 ist unstreitig als Nichtberufsunfall zu qualifizieren und begründet als solcher grundsätzlich einen Anspruch auf Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung (Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 4 ATSG). Streitig und zu prüfen ist, ob die Taggeldleistungen zu Recht um die Hälfte gekürzt wurden. 
 
2.2 Die Vorinstanz hat die Grundlagen über die Kürzung von Leistungen der Unfallversicherung (Art. 39 UVG), namentlich nach Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV, richtig wiedergegeben. 
Danach ist der Tatbestand der Beteiligung an Raufereien oder Schlägereien gemäss Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV grundsätzlich verschuldensunabhängig konzipiert und weiter gefasst als der Straftatbestand der Beteiligung an einem Raufhandel gemäss Art. 133 StGB. Es genügt, dass das zu sanktionierende Verhalten objektiv gesehen die Gefahr einschliesst, in Tätlichkeiten überzugehen oder solche nach sich zu ziehen, und die versicherte Person dies erkannt hat oder erkennen musste (BGE 134 V 315 E. 4.5.1.2 S. 320). Der Tatbestand des Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV ist daher nicht nur bei der Teilnahme an einer eigentlichen tätlichen Auseinandersetzung gegeben. Es ist auch nicht notwendig, dass der Versicherte selbst tätlich geworden ist. Unerheblich ist zudem, aus welchen Motiven er sich beteiligt hat, wer mit einem Wortwechsel oder Tätlichkeiten begonnen hat und welche Wendung die Ereignisse in der Folge genommen haben. Entscheidend ist allein, ob die versicherte Person die Gefahr einer tätlichen Auseinandersetzung erkannt hat oder erkennen musste (nicht publ. E. 1.1 des Urteils BGE 132 V 27, in: SVR 2006 UV Nr. 13 S. 45 [U 325/05]; RKUV 2005 Nr. U 553 S. 311 E. 2 [U 360/04]; Urteil 8C_579/2010 vom 10. März 2011 E. 2.2.1). 
Eine Leistungskürzung nach Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV setzt voraus, dass zwischen dem als Beteiligung an einer Rauferei oder Schlägerei zu qualifizierenden Verhalten und dem Unfall ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang besteht. Die Beurteilung der Adäquanz im Besonderen hat retrospektiv zu erfolgen. Es ist zu fragen, ob und inwiefern die objektiv unter Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV fallende Handlung als eine wesentliche Ursache des Unfalles erscheint. Dies ist dann zu bejahen, wenn die spezifischen Gefahren des allenfalls zu sanktionierenden Verhaltens des Versicherten sich beim Unfallereignis konkret ausgewirkt haben und nach der allgemeinen Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge geeignet sind, einen Unfall von der Art des eingetretenen herbeizuführen. Dabei ist auch ein gewisser zeitlicher Konnex notwendig (nicht publ. E. 1.2 des Urteils BGE 132 V 27, in: SVR 2006 UV Nr. 13 S. 45; siehe auch BGE 134 V 315 E. 4.5.1.2 S. 320 f.; Urteil 8C_579/2010 E. 2.2.1 und 8C_363/2010 vom 29. März 2011 E. 3.2). 
 
3. 
Die Vorinstanz erwog im Wesentlichen, gestützt auf den Polizeibericht vom 31. August 2010 und die Zeugenaussage der Ehefrau des Versicherten bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich vom 15. November 2010 seien die späteren Täter im Parkhaus zunächst vor dem Fahrzeug der beiden Ersteren hergelaufen und hätten, als sie langsam an ihnen vorbeigefahren seien, provokative Gesten gemacht und ihnen Schimpfwörter nachgerufen. Der Versicherte habe sich durch das Verhalten der beiden jungen Männer provozieren lassen, indem er die Fensterscheibe der Beifahrerseite heruntergelassen und ihnen den rechten Mittelfinger gezeigt habe. Danach sei er von diesen angegriffen und brutal zusammengeschlagen worden. Das Bundesgericht verlange stets ein aktives Verhalten, um auf ein Mitverschulden und eine Kürzung der Versicherungsleistungen schliessen zu können. Vorliegend hätten die Täter die erste Ursache für die (einseitige) Schlägerei gesetzt. Sie hätten den Versicherten und seine Ehefrau, die das Parkhaus hätten verlassen wollen, absichtlich behindert. Beim langsamen Vorbeifahren hätten sie weiter provoziert, abwertende Gesten gemacht und den Versicherten sowie seine Ehefrau mündlich beleidigt. Sein nachfolgendes Zeigen des rechten Mittelfingers sei bei dieser Sachlage unglücklich gewesen. Der natürliche Kausalzusammenhang dürfte gegeben sein, da die Täter erst nach dieser Geste dem Auto nachgerannt seien, die Türe geöffnet und auf den Versicherten eingeschlagen hätten. Indessen sei das Zeigen des Mittelfingers wohl eine provokative Geste, aber nach der üblichen Lebenserfahrung nicht geeignet, bewusstlos geschlagen zu werden. Die Reaktion der Täter sei dermassen übertrieben gewesen, dass der Versicherte damit vernünftigerweise nicht habe rechnen müssen. Vergegenwärtige man sich den Geschehensablauf, sei er derart überwiegend als Opfer zu sehen, dass das Zeigen des Mittelfingers in einem Masse in den Hintergrund trete, dass es nicht mehr als adäquates Kausalelement erscheine. Ein ausschlaggebendes Element des Handelns, das den Angriff mitentscheidend ausgelöst hätte, sei nicht gegeben. Die relevante Aggression sei einzig von den Jugendlichen ausgegangen. Damit habe der Versicherte durch sein Verhalten nicht adäquat kausal dazu beigetragen, verprügelt zu werden, weshalb für die Leistungskürzung nach Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV kein Raum bleibe. 
 
4. 
Der vorinstanzlichen Verneinung des adäquaten Kausalzusammenhangs kann nicht gefolgt werden. Es trifft zwar, dass der Beschwerdegegner von den beiden jungen Tätern (Jahrgänge 1990 und 1991) provoziert wurde, was aber unerheblich ist (E. 2.2. hievor). Entscheidend ist, dass er darauf in einer Art und Weise mit einer Gegenprovokation reagiert hat, die das folgende Unheil geradezu heraufbeschwor. Die Annahme der Vorinstanz, die Adäquanz sei zu verneinen, ist weltfremd. Die beiden jungen Erwachsenen hatten es geradezu auf Streit abgesehen, was dem Beschwerdegegner und seiner schwangeren Ehefrau nicht entgangen ist. Ihnen in einer solchen Situation mit einer obszönen Geste zu entgegnen, war nach der allgemeinen Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge geeignet, einen Unfall von der Art des eingetretenen herbeizuführen. Denn in der heutigen Zeit ist bei solchen Vorkommnissen mit einer derartigen Eskalation zu rechnen. Die Ehefrau des Beschwerdegegners hat denn auch unmittelbar nach seiner unüberlegten Reaktion zu ihm gesagt, es sei nicht gut gewesen, was er gemacht habe. 
Nicht stichhaltig ist auch die vorinstanzliche Argumentation, die bundesgerichtliche Praxis sehe ein passives Verhalten der versicherten Person nicht als Grund für eine Leistungskürzung an, sondern verlange ein aktives Verhalten. Denn Letzteres hat der Versicherte mit dem Zeigen des "Stinkefingers" klarerweise an den Tag gelegt, was aufgrund der Aktenlage der ausschlaggebende Grund für den Angriff der Täter war. Demnach erübrigt sich eine nähere Auseinandersetzung mit der diesbezüglichen Rechtsprechung des Bundesgerichts. 
Soweit die Vorinstanz erwogen hat und auch der Beschwerdegegner geltend macht, die Reaktion der zwei Täter sei nicht voraussehbar und unverhältnismässig gewesen und dürfe keinen Schutz geniessen, ist dieses Argument im Ansatz falsch. Denn es ist unerheblich, welche Wendung die Ereignisse nach dem Zeigen des "Stinkefingers" genommen haben (E. 2.2 hievor). Den Tätern wird dadurch mitnichten Verständnis entgegengebracht. Massgebend ist im vorliegenden Verfahren nämlich einzig, dass ihr Handeln - bei all seiner Verwerflichkeit - nicht als derart aussergewöhnlich oder ausserhalb der allgemeinen Lebenserfahrung zu betrachten ist, als dass mit einer entsprechenden Reaktion auf das Verhalten des Versicherten - Zeigen des "Stinkefingers" - objektiv nicht zu rechnen war (vgl. auch Urteil 8C_579/2010 E. 5.2.4; 8C_363/2010 e contrario). In diesem Sinne wird dem Versicherten sein Mitverschulden am Unfall vor Augen geführt, für das die Gemeinschaft der Versicherten nicht einzustehen hat. 
Unbestritten und nicht zu beanstanden ist die vorinstanzliche Feststellung, dass der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Versicherten und dem Unfall vom 4. Juli 2010 zu bejahen ist. Damit sind die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV gegeben. 
 
5. 
Nach dem Gesagten braucht nicht geprüft zu werden, ob der - von der Allianz zusätzlich angerufene, aber von der Vorinstanz ebenfalls verneinte - Tatbestand des Art. 49 Abs. 2 lit. b UVV erfüllt ist. 
 
6. 
Der unterliegende Versicherte trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 24. September 2012 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft vom 19. Mai 2011 bestätigt. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 22. März 2013 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Ursprung 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar