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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_703/2011 
 
Urteil vom 3. Februar 2012 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Merkli, 
Gerichtsschreiber Stohner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Josephsohn, 
 
gegen 
 
Giovanni Busa, Kreisrichter, 
Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland, 1. Abteilung, Bahnhofstrasse 10, 8887 Mels, Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Ausstand, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 16. November 2011 der Anklagekammer des Kantons St. Gallen. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Gegen X.________ ist am Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland ein Strafverfahren wegen Verdachts des mehrfachen Vergehens gegen das UWG (SR 241) hängig. Am 19. Oktober 2011 wurde X.________ zur Hauptverhandlung vom 21. bis 25. November 2011 vorgeladen. Der Vorladung war zu entnehmen, dass Giovanni Busa als Vorsitzender des Gerichts amten würde. Mit Eingabe vom 28. Oktober 2011 beantragte X.________, Kreisrichter Giovanni Busa habe wegen Vorbefassung in den Ausstand zu treten. Dieser widersetzte sich dem Begehren und leitete das Gesuch am 2. November 2011 zuständigkeitshalber an die Anklagekammer des Kantons St. Gallen weiter. Zugleich wurde die Hauptverhandlung auf den 4. bis 8. Juni 2012 verschoben. 
 
Mit Entscheid vom 16. November 2011 wies die Anklagekammer das Ausstandsbegehren ab. 
 
B. 
Mit Eingabe vom 13. Dezember 2011 führt X.________ Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht mit den Anträgen, der Entscheid der Anklagekammer vom 16. November 2011 sei aufzuheben, und sein Begehren vom 28. Oktober 2011 auf Ausstand von Kreisrichter Giovanni Busa sei gutzuheissen. Eventualiter sei das Verfahren an die Anklagekammer zurückzuweisen. 
 
Kreisrichter Giovanni Busa beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Anklagekammer verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Eingaben von Kreisrichter Giovanni Busa und der Anklagekammer wurden dem Beschwerdeführer zur Kenntnisnahme zugestellt. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Der angefochtene Entscheid schliesst das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht ab, er ermöglicht vielmehr dessen Weiterführung. Es handelt sich um einen selbstständig eröffneten, kantonal letztinstanzlichen Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren (vgl. Art. 59 Abs. 1 lit. b StPO), gegen den die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 92 Abs. 1 BGG zulässig ist. Als Angeklagter ist der Beschwerdeführer zur Beschwerde berechtigt (Art. 81 Abs. 1 lit. a und b BGG). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sei eine Personalunion zwischen dem über die Anklagezulassung entscheidenden und dem später urteilenden Richter mit Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht zu vereinbaren (BGE 114 Ia 50 E. 5 S. 66 ff.). Der Beschwerdegegner habe als Verfahrensleiter geamtet und in dieser Funktion in Anwendung von Art. 329 Abs. 1 StPO über die Zulässigkeit der Anklage entschieden. Unter dem Titel "Prozessvoraussetzungen" gemäss Art. 329 Abs. 1 lit. b StPO habe der Beschwerdegegner insbesondere geprüft, ob ein genügender, die Anklage rechtfertigender Tatverdacht vorliege. Da er den hinreichenden Tatverdacht bejaht habe, gelte er als vorbefasst und dürfe an der Urteilsfindung nicht mehr mitwirken. 
 
2.2 Die Vorinstanz hat erwogen, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers könne in der Vorprüfung der Anklagezulassung im Sinne von Art. 329 Abs. 1 StPO kein Ausstandsgrund gemäss Art. 56 StPO erblickt werden. 
 
2.3 Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Art. 30 Abs. 1 BV soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen. 
Die Garantie des verfassungsmässigen Richters wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Solche Umstände können entweder in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein. Eine gewisse Besorgnis der Voreingenommenheit und damit Misstrauen in die Unabhängigkeit des Gerichts kann bei den Parteien insbesondere dann entstehen, wenn ein Richter in einem anderen, die gleiche Streitsache betreffenden Verfahren oder in einem früheren Stadium desselben Verfahrens bereits tätig war. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob sich der Richter durch seine frühere Mitwirkung in einzelnen Punkten bereits in einem Mass festgelegt hat, die ihn nicht mehr als unvoreingenommen und dementsprechend das Verfahren als nicht mehr offen erscheinen lässt (BGE 131 I 113 E. 3.4 S. 116). 
 
2.4 Die Verfassungsbestimmung von Art. 30 Abs. 1 BV wird in Art. 56 StPO konkretisiert. Nach dieser Bestimmung tritt eine in einer Strafbehörde tätige Person insbesondere dann in den Ausstand, wenn sie in einer anderen Stellung, insbesondere als Mitglied einer Behörde, als Rechtsbeistand einer Partei, als Sachverständige oder Sachverständiger, als Zeugin oder Zeuge, in der gleichen Sache tätig war (lit. b) oder aus anderen Gründen, insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte (lit. f). Ist die Gerichtsperson in derselben Stellung mit der gleichen Sache mehrfach befasst, liegt kein Fall der Vorbefassung im Sinne von Art. 56 lit. b StPO vor. Eine Mehrfachbefassung in diesem Sinn kann aber im Rahmen von Art. 56 lit. f StPO relevant werden (MARKUS BOOG, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 26 zu Art. 56 StPO). 
 
2.5 Der Beschwerdeführer stützt seine Auffassung, es liege ein Ausstandsgrund vor, vorab auf BGE 114 Ia 50. In diesem den Kanton Zürich betreffenden Entscheid hielt das Bundesgericht fest, nach der kantonalen Strafprozessordnung folge dem Abschluss des Vorverfahrens das sog. Zwischenverfahren, in dem die Anklage durch die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich einer Kontrolle unterzogen und geprüft werde, ob genügend Anlass zur Durchführung der Hauptverhandlung bestehe (BGE 114 Ia 50 E. 4b S. 61). In materieller Hinsicht befinde die Anklagekammer im Zulassungsverfahren, ob der Angeschuldigte eines strafbaren Verhaltens hinreichend verdächtig erscheine. Damit werde im Anklagezulassungsverfahren eine sehr ähnliche Frage geprüft wie im Hauptverfahren (BGE 114 Ia 50 E. 5b/bb S. 69). Weiter hob das Bundesgericht hervor, mit dem Entscheid über die Anklagezulassung werde die förmliche Versetzung in den Anklagezustand und die Überweisung der Strafsache an das zuständige Gericht verbunden. 
 
Die Strafprozessordnung hat eine andere Vorgehensweise eingeführt. Insbesondere hat der Gesetzgeber bewusst auf ein separates Anklagezulassungsverfahren, wie es der Kanton Zürich kannte, verzichtet (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1115 Ziff. 1.5.4.5). Es fehlt damit an einem formalisierten Zwischenverfahren, welches mit einem anfechtbaren Zulassungs- oder Nichtzulassungsentscheid endet. Die Strafprozessordnung kennt nur ein Vorverfahren (6. Titel, Art. 299 ff. StPO) und ein Hauptverfahren (7. Titel, Art. 328 ff. StPO). Damit aber unterscheidet sich die heutige Rechtslage grundlegend von jener, auf welche sich die Ausführungen in BGE 114 Ia 50 beziehen, wo das Bundesgericht betonte, mit der personellen Identität von einzelnen Richtern werde die kantonale Verfahrensordnung, welche den Zulassungsentscheid und das Urteil in der Sache selbst verschiedenen Organen zuordne, gewissermassen unterlaufen (BGE 114 Ia 50 E. 5b/ee S. 71). Der Beschwerdeführer kann deshalb aus BGE 114 Ia 50 nichts zu seinen Gunsten ableiten. 
 
2.6 Mit der Prüfung der Anklage gemäss Art. 329 Abs. 1 StPO verifiziert die Verfahrensleitung (des erstinstanzlich zuständigen Gerichts), ob die Anklageschrift und die Akten ordnungsgemäss erstellt sind (lit. a), ob die Prozessvoraussetzungen erfüllt sind (lit. b) und ob Verfahrenshindernisse bestehen (lit. c). 
 
Diese Prüfung durch die Verfahrensleitung erfolgt nicht in einem formalisierten Verfahren, das mit einem Zulassungs- oder Nichtzulassungsentscheid endet. Die Verfahrensleitung entscheidet diesbezüglich nichts. Hinsichtlich des Tatverdachts hat sie bloss summarisch zu prüfen, ob dem Beschuldigten überhaupt ein strafbares Verhalten vorgeworfen wird und sich die Durchführung eines Verfahrens rechtfertigt (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1278 Ziff. 2.7.1). Stellt die Verfahrensleitung Mängel oder Prozesshindernisse fest, kann sie nur dem Gericht die geeigneten Vorkehren beantragen (Rückweisung der Anklage an die Staatsanwaltschaft zur Ergänzung oder Berichtigung [Art. 329 Abs. 2 Satz 2 StPO]; Sistierung [Abs. 2 Satz 1]; Einstellung des Verfahrens [Abs. 4 und 5]). Sie hat aber darüber selber keinen Entscheid zu fällen; dies obliegt dem Gericht. Im Übrigen trifft sie die zur Durchführung der Hauptverhandlung notwendigen verfahrensleitenden Anordnungen (Art. 330-332 StPO). Derartige Vorbereitungshandlungen und Instruktionsmassnahmen sind in jedem Gerichtsverfahren erforderlich und lassen den verfahrensleitenden bzw. instruierenden Richter nicht als befangen oder vorbefasst erscheinen. Eine andere Sichtweise würde das Vorantreiben des Verfahrens und die Beurteilung innert nützlicher Frist und mit vertretbarem Aufwand erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen und wäre auch unpraktikabel. Die in Art. 329 Abs. 1 StPO umschriebene Prüfung durch die Verfahrensleitung geht nicht über die in jedem (Straf-)Gerichtsverfahren unumgänglichen ersten Vorkehrungen hinaus und begründet keine Ausstandspflicht (vgl. auch Niklaus Schmid, Praxiskommentar StPO, 2009, N. 8 zu Art. 56 StPO; Markus Boog, a.a.O., N. 31 zu Art. 56 StPO; ferner - zum bisherigen Strafprozessrecht des Kantons St. Gallen - Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2005, S. 85 N. 184). Die abweichende Lehrmeinung von Yvona Griesser (in: Zürcher Kommentar StPO, 2010, N. 12 zu Art. 329 StPO) übersieht, dass das separate Zwischenverfahren über die Anklagezulassung weggefallen ist und die Verfahrensleitung im Rahmen von Art. 329 StPO keinen entsprechenden Entscheid fällt. Mit der Erfüllung der in dieser Bestimmung umschriebenen Obliegenheiten allein legt sich die Verfahrensleitung nicht in einem Mass fest, dass sie nicht mehr als unvoreingenommen gelten könnte und das Verfahren nicht mehr als offen erschiene. Das gilt auch für die Abweisung von Beweisanträgen der Verteidigung, zumal abgelehnte Beweisanträge an der Hauptverhandlung erneut gestellt werden können (Art. 331 Abs. 3 StPO). Weitere Umstände, die den im vorliegenden Fall verfahrensleitenden Kreisrichter als befangen erscheinen lassen könnten, hat der Beschwerdeführer nicht vorgebracht. Eine Verletzung der konventions- und verfassungsmässigen Garantien ist daher nicht ersichtlich. Die Beschwerde erweist sich als unbegründet. 
 
3. 
Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Parteientschädigungen sind keine zuzusprechen (Art. 68 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3. 
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 3. Februar 2012 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Stohner