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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
4C.372/2006 /len 
 
Urteil vom 27. Februar 2007 
I. zivilrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Corboz, Präsident, 
Bundesrichterinnen Klett, Rottenberg Liatowitsch, 
Bundesrichter Kolly, Bundesrichterin Kiss, 
Gerichtsschreiberin Hürlimann. 
 
Parteien 
A.X.________, 
B.X.________, 
Beklagte und Berufungskläger, 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger, 
 
gegen 
 
Y.________, 
Klägerin und Berufungsbeklagte, 
vertreten durch Fürsprecher Martin Lüscher. 
 
Gegenstand 
Mieterausweisung, 
 
Berufung gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Zivilgericht, 4. Kammer, vom 7. September 2006. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
A.X.________ (Beklagte 1 und Berufungsklägerin) ist seit 1. April 1976 Mieterin einer Wohnung sowie einer Garage in C.________. Sie bewohnt die Wohnung zusammen mit ihrem Sohn B.X.________ (Beklagter 2 und Berufungskläger). 
Vermieterin ist die Firma Y.________ (Klägerin und Berufungsbeklagte), die die Verträge mit amtlichem Formular vom 5. September 2005 auf den 31. März 2006 kündigte. Die Beklagten fochten die Kündigung nicht an. 
 
B. 
Mit Eingabe vom 4. April 2006 beantragte die Klägerin beim Bezirksgericht Baden die Ausweisung der Beklagten. Die Präsidentin 4 des Bezirksgerichts Baden hiess das Begehren am 16. Juni 2006 gut und verpflichtete die Beklagten, die genannten Mietobjekte spätestens innert zehn Tagen seit Rechtskraft des Entscheids zu räumen. 
 
C. 
Die Beklagten erhoben am 31. Juli 2006 Beschwerde und beantragten dem Obergericht des Kantons Aargau, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und das Begehren der Klägerin sei abzuweisen. Mit Entscheid vom 7. September 2006 wies das Obergericht die Beschwerde ab. Es kam zum Schluss, die Kündigung sei gültig erfolgt. Ein Mieter, der einen offenbaren Rechtsmissbrauch geltend machen wolle, müsse die Kündigung innert der in Art. 273 Abs. 1 OR vorgesehenen Verwirkungsfrist anfechten, da Art. 271 OR eine lex specialis zu Art. 2 Abs. 2 ZGB darstelle. Eine Minderheit des Obergerichts hätte die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 ZGB unabhängig vom Verstreichen der Verwirkungsfrist von Art. 273 Abs. 1 OR geprüft und den offenbaren Missbrauch eines Rechts bejaht. 
 
D. 
Mit Berufung vom 17. Oktober 2006 beantragen die Beklagten dem Bundesgericht, das angefochtene Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 7. September 2006 sei aufzuheben (Ziff. 1) und das Begehren der Klägerin betreffend Mietausweisung sei abzuweisen (Ziff. 2). 
Die Klägerin beantragt, die Berufung sei abzuweisen. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG, SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006, 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach dem OG (Art. 132 Abs. 1 BGG). 
 
2. 
Die Berufung ist zulässig gegen Endentscheide der oberen kantonalen Gerichte (Art. 48 OG). Da der Entscheid des Ausweisungsrichters nach Art. 274g OR in einem vollständigen Erkenntnisverfahren ergehen muss und ihm von Bundesrechts wegen materielle Rechtskraft zukommt, ist die Berufung insofern zulässig (BGE 131 I 242 E. 3.1 S. 246 mit Verweisen). Die übrigen formellen Voraussetzungen liegen vor, weshalb auf das Rechtsmittel einzutreten ist. 
 
3. 
Die Beklagten werfen dem Obergericht vor, Bundesrecht verletzt zu haben, als es auch eine offensichtlich rechtsmissbräuchliche Kündigung für bloss anfechtbar hielt und deshalb auf die Prüfung der Frage verzichtete, ob die Voraussetzungen von Art. 2 Abs. 2 ZGB erfüllt seien. 
 
3.1 In der Lehre wird überwiegend die Meinung vertreten, Art. 271 OR schliesse die selbständige Anwendung von Art. 2 Abs. 2 ZGB aus (Peter Higi, Zürcher Kommentar, N. 162 f. der Vorbem. zu Art. 266-266o OR, N. 63 ff. der Vorbem. zu Art. 271-273c OR und N. 13 zu Art. 271 OR; derselbe, Mietvertragskündigung - nichtig, ungültig oder gültig und anfechtbar?, in: SJZ 1995 S. 225/231; Bernard Corboz, La nullité du congé dans le nouveau droit du bail, in: CdB 1994, S. 33/54 f.; derselbe, Les congés affectés d'un vice, in: 9e Séminaire sur le droit du bail 1996, S. 25; Pierre Tercier, Les contrats spéciaux, 3. Aufl. 2003, Nr. 2437; Richard Barbey, Commentaire du droit du bail, Protection contre les congés concernant les baux d'habitation et de locaux commerciaux, N. 30 zu Art. 271-271a OR; Giacomo Roncoroni, La protection contre les congés, in: 6e Séminaire sur le droit du bail 1990, S. 11 f.; Stefan Zwicker, Die Anfechtung der Kündigung nach dem neuen Schweizerischen Mietrecht, in: Der Schweizer Treuhänder 1990, S. 267/272; Arthur Trachsel, Leitfaden zum Mietrecht, S. 217; wohl auch Pierre Engel, Contrats de droit suisse, 2. Aufl. 2000, S. 202 und 204). Zur Begründung wird in erster Linie auf die Entstehungsgeschichte verwiesen. Das neue Recht habe den sachlichen Anwendungsbereich in Art. 271 OR im Vergleich zu Art. 2 Abs. 2 ZGB erheblich erweitert und gleichzeitig die Rechtsfolge abgeschwächt (Higi, a.a.O., N. 162 f. der Vorbem. zu Art. 266-266o OR, N. 63 und 66 der Vorbem. zu Art. 271-273c OR; Corboz, CdB, S. 54; derselbe, Séminaire, S. 25). Damit sei die bestehende Rechtslage nicht bloss ergänzt, sondern vielmehr durch eine neue Regelung ersetzt worden (Corboz, a.a.O.). Darüber hinaus wird angeführt, in Art. 266l OR sei die Formularpflicht eingeführt worden, so dass der Mieter auf die Möglichkeit der Anfechtbarkeit und die zur Entgegennahme der Anfechtung zuständige Behörde hingewiesen werde. Die Anfechtung einer offenbar rechtsmissbräuchlichen Kündigung, also einer Kündigung, deren Fehlerhaftigkeit gewissermassen jedem ins Auge springe, erscheine daher als zumutbar (Higi, a.a.O., N. 68 der Vorbem. zu Art. 271-273c OR). 
 
3.2 Andere Autoren sind der Auffassung, Art. 2 Abs. 2 ZGB müsse nach wie vor auf die Kündigung des Mietvertrags anwendbar sein, da der offensichtliche Rechtsmissbrauch keinen Schutz verdiene (David Lachat/Daniel Stoll/Andreas Brunner, Das Mietrecht für die Praxis, 6. Aufl. 2005, Kapitel 29, Nr. 2.6; Andreas Brunner, Die Anfechtbarkeit der Kündigung im Mietrecht, plädoyer 4/1990, S. 40/41; Roger Weber, Basler Kommentar, N. 29 zu Art. 271-271a OR; vgl. auch Christian Calamo, Die missbräuchliche Kündigung der Miete von Wohnräumen, Diss. St. Gallen 1993, S. 124; Peter Zihlmann, Das Mietrecht, 2. Aufl. 1995, S. 207; vgl. aus der Rechtsprechung ZMP 1993, Nr. 14). Wohl sei im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten zur Mietrechtsrevision erklärt worden, der Verzicht auf die Offensichtlichkeit des Rechtsmissbrauchs sei das Gegenstück dazu, dass vom Kündigungsempfänger eine Anfechtung verlangt werde. Daraus lasse sich aber nicht schliessen, dass das Anfechtungsprinzip auch dann gelte, wenn die Kündigung im konkreten Fall offensichtlich rechtsmissbräuchlich sei. Praktikabilitäts- und Rechtssicherheitsüberlegungen dürften bei dieser Frage keine Rolle spielen (Weber, a.a.O.). 
 
3.3 Nach Art. 271 Abs. 1 OR ist die Kündigung anfechtbar, wenn sie gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstösst. Ob die Bestimmung über ihren Wortlaut hinaus die Berufung auf das allgemeine Rechtsmissbrauchsverbot nach Art. 2 Abs. 2 ZGB ausschliesst, ist durch Auslegung zu ermitteln. 
3.3.1 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zu Grunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien können beigezogen werden, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort geben (BGE 132 III 707 E. 2 S. 710 f.; 131 III 33 E. 2 S. 35 mit Hinweisen). 
3.3.2 Der historische Wille des Gesetzgebers ergibt sich für die vorliegende Fragestellung klar aus den Gesetzesmaterialien: Der Vorschlag des Bundesrates sah in Art. 271 OR die Unwirksamkeit einer Kündigung vor, die gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstösst. Die Botschaft führt dazu aus, es rechtfertige sich, den Tatbestand des Verstosses gegen Treu und Glauben für die Kündigung der Miete von Wohn- und Geschäftsräumen eigens zu nennen. Das sei namentlich auch deshalb notwendig, weil Rechtsprechung und Lehre das allgemeine Verbot des Rechtsmissbrauchs bei der Kündigung des Mietverhältnisses bisher äusserst zurückhaltend ausgelegt hätten. Die Generalklausel von Art. 271 OR sei eine Sonderbestimmung zu Art. 2 ZGB, die nicht mehr "Offensichtlichkeit" als Voraussetzung für den Rechtsmissbrauch fordere. Dafür werde gegenüber dem allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbot die Rechtsfolge insofern abgeschwächt, als keine absolute Nichtigkeit der Kündigung, sondern deren Unwirksamkeit vorgesehen sei, die innerhalb der Verwirkungsfrist von 30 Tagen geltend gemacht werden müsse (BBl 1985 I 1458). In den parlamentarischen Beratungen wurde die vorgesehene Unwirksamkeit - entsprechend der damaligen verfassungsrechtlichen Grundlage von Art. 34septies aBV - durch die Anfechtbarkeit ersetzt (Amtl.Bull. StR 1988, S. 173 ff.). Die aus der Abschwächung der Rechtsfolge hinsichtlich der offensichtlich rechtsmissbräuchlichen Kündigungen resultierende Verschlechterung der Stellung des Mieters im Vergleich zum damals geltenden Recht wurde namentlich aus Gründen der Rechtssicherheit hingenommen (Amtl.Bull. NR 1989, S. 536, insbesondere Voten Jeanprêtre und Koller). Nach dem Willen des Gesetzgebers stellt Art. 271 OR also sowohl für den Tatbestand als auch für die Rechtsfolge eine lex specialis zu Art. 2 Abs. 2 ZGB dar. 
3.3.3 Auch die Berücksichtigung des Zwecks von Art. 271 OR, die Rechtsstellung des Mieters zu verbessern, führt zu keinem anderen Ergebnis. Einerseits waren die Voraussetzungen von Art. 2 Abs. 2 ZGB mit Bezug auf Kündigungen bereits vor der Revision praktisch nie erfüllt (BBl 1985 I 1458). Anderseits muss der Vermieter nach Art. 266l Abs. 2 OR mit einem Formular kündigen, das angibt, wie der Mieter vorzugehen hat, wenn er die Kündigung anfechten will; eine Verletzung dieser Pflicht hat nach Art. 266o OR die Nichtigkeit der Kündigung zur Folge. Es ist dem Mieter damit ohne weiteres möglich und zumutbar, sich innert Frist gegen die Kündigung zur Wehr zu setzen und damit zu verhindern, dass ein offensichtlicher Rechtsmissbrauch Schutz findet. Im Ausschluss der Rechtsfolge der Nichtigkeit auch für offensichtlich rechtsmissbräuchliche Kündigungen kann deshalb keine nennenswerte Verschlechterung der Position des Mieters gesehen werden. In diesem Zusammenhang sind ausserdem Rechtssicherheitsinteressen zu berücksichtigen. Anders als in den nach Art. 266l-n OR vorgesehenen Fällen der Nichtigkeit wegen eines Formfehlers lässt sich die Frage, ob ein offensichtlicher Rechtsmissbrauch vorliegt, nur auf Grund einer Wertung beantworten. Auch die ebenfalls schützenswerten Interessen eines allfälligen neuen Mieters sind in Betracht zu ziehen. 
3.3.4 Mit der herrschenden Lehre ist davon auszugehen, dass Art. 271 Abs. 1 OR die selbständige Anwendung von Art. 2 Abs. 2 ZGB ausschliesst (in diese Richtung bereits BGE 120 II 31 E. 4a S. 32; Urteil 4C.333/1995 vom 29. März 1996, E. 2a). Der Mieter muss damit auch eine offensichtlich rechtsmissbräuchliche Kündigung innerhalb der Verwirkungsfrist von 30 Tagen anfechten. Hat er darauf verzichtet, kann er die Rüge, die Kündigung sei offensichtlich rechtsmissbräuchlich, im Ausweisungsverfahren nicht mehr erheben. 
 
3.4 Die Vorinstanz hat nach dem Gesagten kein Bundesrecht verletzt, als sie im Rahmen des Mieterausweisungsverfahrens darauf verzichtete zu prüfen, ob die Kündigung offensichtlich rechtsmissbräuchlich im Sinn von Art. 2 Abs. 2 ZGB ist. 
 
4. 
Aus den genannten Gründen ist die Berufung abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden die Beklagten kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Berufung wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird den Beklagten unter solidarischer Haftbarkeit auferlegt. 
 
3. 
Die Beklagten haben die Klägerin für das bundesgerichtliche Verfahren unter solidarischer Haftbarkeit mit Fr. 2'500.-- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Zivilgericht, 4. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 27. Februar 2007 
Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: