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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
4A_577/2011 
 
Urteil vom 4. Oktober 2011 
I. zivilrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichterin Klett, Präsidentin, 
Bundesrichter Corboz, 
Bundesrichterin Rottenberg Liatowitsch, 
Bundesrichter Kolly, Bundesrichterin Kiss, 
Gerichtsschreiber Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________ AG, 
vertreten durch Rechtsanwalt Sinan C. Odok, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
Y.________ AG, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
superprovisorische Massnahmen; Vertragsverletzung, Kündigung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 19. September 2011. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die Parteien sind beide Anbieter von Mobiltelefondienstleistungen. Die Beschwerdeführerin schloss nach ihrer Darstellung am 18. Juli 2008 mit der Beschwerdegegnerin ein Roaming Agreement mit einer Laufzeit bis zum 3. März 2014 ab (Vertrag), das es der Beschwerdeführerin ermögliche, Mobiltelefonkunden zu bedienen, d.h. ihnen Mobilfunkverbindungen zur Verfügung zu stellen. Die Beschwerdegegnerin habe den Vertrag mit Schreiben vom 27. April 2011 vorzeitig auf den 30. August 2011 gekündigt. Das Kündigungsdatum sei einvernehmlich bis zum 30. September 2011 verlängert worden. Nach der Kündigung seien zwischen den Parteien Gespräche im Rahmen eines vertraglich vorgesehenen Streitbeilegungsverfahrens geführt worden. 
 
B. 
Die Beschwerdeführerin gelangte am 16. September 2011 an das Handelsgericht des Kantons Zürich und beantragte (zusammengefasst), dass der Beschwerdegegnerin vorsorglich verboten werde, die Folgen der Kündigung des Vertrags ab 1. Oktober 2011 eintreten zu lassen. Sie verlangte nicht ausdrücklich die Anordnung einer superprovisorischen Massnahme, stellte aber den Antrag, das Verbot sei bis spätestens am 30. September 2011 auszusprechen. 
 
Der Einzelrichter nahm das Begehren als Dringlichkeitsbegehren entgegen. Mit Entscheid vom 19. September 2011 verneinte er, dass die Voraussetzungen für den Erlass einer superprovisorischen Anordnung erfüllt seien, und wies das Dringlichkeitsbegehren ab (Dispositiv Ziffer 1). Weiter stellte er ein Doppel des Massnahmengesuchs der Beschwerdegegnerin zu (Ziffer 2), setzte Frist zur Leistung eines Kostenvorschusses an (Ziffer 3) und kündigte an, weitere Anordnungen erfolgten später (Ziffer 4). 
 
C. 
Die Beschwerdeführerin erhob gegen diesen Entscheid am 20./21. September 2011 Beschwerde in Zivilsachen. Sie beantragt, die Ziffer 1 der Verfügung vom 19. September 2011 aufzuheben und der Beschwerdegegnerin unter Strafandrohung im Widerhandlungsfall vorsorglich zu verbieten, ab dem 1. Oktober 2011 und bis zur Einreichung einer Klage durch die Beschwerdeführerin betreffend Vertragsverletzung und während des anschliessenden Verfahrens und bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Entscheids in der Hauptsache gemäss ihrem Kündigungsschreiben vom 27. April 2011 zu handeln und/oder dieses umzusetzen und insbesondere ihre sämtlichen Leistungen gemäss dem Vertrag gegenüber der Beschwerdeführerin einzustellen. Diese Massnahme sei superprovisorisch und ohne Anhörung der Beschwerdegegnerin vor dem 30. September 2011 anzuordnen. Eventuell sei die Vorinstanz anzuweisen, im beantragten Sinn zu verfügen. 
 
Mit Präsidialverfügung vom 23. September 2011 wurde das Gesuch um Erlass einer superprovisorischen Anordnung nach Art. 104 BGG abgewiesen. 
 
Auf die Einholung von Vernehmlassungen zur Beschwerde wurde verzichtet. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein Rechtsmittel zulässig ist (BGE 136 II 101 E. 1 S. 103, 470 E. 1 S. 472; 135 III 212 E. 1). 
 
1.1 Angefochten ist die Weigerung der Vorinstanz, eine vorsorgliche Massnahme (im Sinne von Art. 265 ZPO, d.h. ohne Anhörung der Gegenpartei) vor dem 30. September 2011 zu erlassen. Nach Ablauf dieses Datums kann diesem Antrag nicht mehr entsprochen werden, auch wenn die vorliegende Beschwerde gutgeheissen würde. Es fragt sich daher, ob im heutigen Zeitpunkt auf die Beschwerde schon deshalb nicht einzutreten ist, weil es an einem aktuellen Rechtsschutzinteresse fehlt. Die Frage kann allerdings offenbleiben, da die Zulässigkeit der Beschwerde schon aus anderen Gründen zu verneinen ist. 
 
1.2 Das Bundesgericht tritt auf Rechtsmittel gegen Entscheide über superprovisorische Massnahmen grundsätzlich nicht ein, weil es in solchen Fällen an der Beschwerdevoraussetzung der Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs mangelt (vgl. zu Art. 86 Abs. 1 und Art. 87 aOG: BGE 120 Ia 61 E. 1a S. 62; 87 I 100 E. 3, je mit Hinweisen; zu Art. 75 Abs. 1 BGG: Urteile 5A_473/2010 vom 23. Juli 2010 E. 1.1 und 4A_335/2007 vom 13. September 2007 E. 3, je mit Hinweisen; vgl. dazu FABIENNE HOHL, Procédure civile, Tome II, 2. Aufl. 2010, Rz. 3082; FRANÇOIS BOHNET, in: François Bohnet und andere [Hrsg.], Code de procédure civile commenté, 2011, N. 16 zu Art. 265). Kantonal letztinstanzlich ist ein Entscheid nämlich nur, wenn für die gegen diesen erhobenen Rügen kein kantonales Rechtsmittel mehr offen steht (Art. 75 Abs. 1 BGG; BGE 134 III 524 E. 1.3 S. 527). Der Begriff des Rechtsmittels in diesem Sinne ist nach langjähriger Praxis weit zu verstehen und umfasst jeden Rechtsbehelf, der dem Beschwerdeführer einen Anspruch auf einen Entscheid der angerufenen Behörde gibt und geeignet ist, den behaupteten rechtlichen Nachteil zu beseitigen (BGE 120 Ia 61 E. 1a S. 62; 110 Ia 136 E. 2a S. 137; 81 I 61 f.; 78 I 250 f., je mit Hinweisen). Deshalb wird vom Beschwerdeführer vor der Ergreifung eines Rechtsmittels an das Bundesgericht verlangt, dass er das kontradiktorische Verfahren vor dem Massnahmerichter (seit Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung gemäss Art. 261 ff. ZPO) durchläuft, in dem er den angestrebten vorläufigen Rechtsschutz erwirken kann. Diese Rechtsprechung wurde auch auf einen Fall angewendet, in dem die kantonale Behörde die Anordnung einer superprovisorischen Massnahme abgelehnt hatte bzw. auf das entsprechende Gesuch nicht eingetreten war (Urteil 5A_473/2010 vom 23. Juli 2010 E. 1.1). Zu beachten ist ferner, dass der Rechtsuchende bei Weiterverfolgung des Massnahmeverfahrens nach Art. 261 ff. ZPO in aller Regel rascher zum Ziel kommt als mit einem anderen Rechtsmittel, dessen Ergreifung zudem zu Doppelspurigkeiten führen würde. Es entspricht dem System des Massnahmeverfahrens, auf das die Vorschriften über das summarische Verfahren Anwendung finden (Art. 248 lit. d. ZPO), dass dieses rasch vorangetrieben und abgeschlossen wird. Die Regel des Art. 265 Abs. 2 ZPO, wonach das Gericht bei erfolgter superprovisorischer Anordnung einer Massnahme die Gegenpartei unverzüglich anzuhören und danach ebenso unverzüglich zu entscheiden hat, ist grundsätzlich auch zu berücksichtigen, wenn das beantragte Superprovisorium verweigert wird (Urteil 4A_242/2011 vom 13. Mai 2011 E. 1.4). 
 
1.3 Damit harmoniert, dass in der ZPO kein Rechtsmittel gegen kantonal erstinstanzliche Entscheide über superprovisorische Massnahmen vorgesehen ist, wobei auch für den Fall der Ablehnung einer superprovisorischen Anordnung keine Ausnahme gemacht wurde (vgl. Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, BBl 2006 7221 ff., S. 7356). Diese Lösung ist in der Lehre auf breite Zustimmung gestossen (DOMINIK GASSER/BRIGITTE RICKLI, Kurzkommentar zur ZPO, 2010, N. 3 zu Art. 265 ZPO sowie THOMAS SPRECHER, in: Basler Kommentar, Zivilprozessordnung, 2010, N. 32 zu Art. 265 ZPO [ausdrücklich auch für den Fall, dass die superprovisorische Verfügung abgelehnt wird]; ferner: MICHAEL TREIS, in: Baker & McKenzie [Hrsg.], Handkommentar zur ZPO, 2010, N. 8 f. zu Art. 265 ZPO; BEAT MATHYS, in: Baker & McKenzie [Hrsg.], Handkommentar zur ZPO, 2010, N. 19 zu Art. 308 ZPO; JOHANN ZÜRCHER, in: Alexander Brunner und andere [Hrsg.], Kommentar zur ZPO, N. 12 zu Art. 265 ZPO; KURT BLICKENSTORFER, in: Alexander Brunner und andere [Hrsg.], Kommentar zur ZPO, N. 20 zu Art. 308 ZPO; SABINE KOFMEL EHRENZELLER, in: Paul Oberhammer [Hrsg.], Kurzkommentar zur ZPO, 2010, N. 6 zu Art. 265 ZPO; LUCIUS HUBER, in: Thomas Sutter-Somm und andere [Hrsg.], Kommentar zur ZPO, 2010, N. 20 zu Art. 265 ZPO; HOHL, a.a.O., Rz. 2343; a.M. für den Fall der Verweigerung einer superprovisorischen Massnahme dagegen PETER REETZ/STEFANIE THEILER, in: Thomas Sutter-Somm und andere [Hrsg.], Kommentar zur ZPO, 2010, N. 34 zu Art. 308 ZPO, die namentlich fordern, dass der Gegenpartei bei Vereitelungsgefahr erst nach dem zweitinstanzlichen Massnahmenentscheid vom ablehnenden superprovisorischen Entscheid der Erstinstanz Kenntnis zu geben sei; ferner FRANÇOIS BOHNET, a.a.O., N. 16 zu Art. 265; BENEDIKT SEILER, Die Berufung nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2011, S. 144 Rz. 360 in fine, der sich zu Unrecht auf den Bericht der Expertenkommission vom Juni 2003 zum VE-ZPO, S. 133, beruft). 
 
1.4 Gegen die Ablehnung des Erlasses einer superprovisorischen Massnahme ist grundsätzlich auch deshalb keine Beschwerde an das Bundesgericht zulässig, weil es in aller Regel an einem Rechtsschutzinteresse fehlt (Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG). Ein solches besteht nur, wenn der behauptete Nachteil durch einen günstigen Beschwerdeentscheid vermieden werden könnte. Dies ist bei einer Anfechtung der Verweigerung eines Superprovisoriums nicht der Fall, weil ein Beschwerdeverfahren im Allgemeinen nicht rechtzeitig abgeschlossen werden kann, um der behaupteten Dringlichkeit Rechnung zu tragen. 
 
Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann auch nicht darin erblickt werden, dass der Beschwerdeführer beim Bundesgericht den Erlass einer superprovisorischen Anordnung (Art. 104 BGG) verlangen könnte, um zu erhalten, was er vor der Vorinstanz nicht erreicht hat. Denn eine solche Anordnung müsste regelmässig abgelehnt werden; einerseits würde damit der Entscheid über die Beschwerde selbst, die sich gerade gegen die Verweigerung einer solchen Anordnung richtet, vorweggenommen; andererseits ist es nicht Aufgabe des Bundesgerichts, von der Vorinstanz noch nicht geprüfte Voraussetzungen für eine (superprovisorische) Massnahme nach Art. 261 f. ZPO als erste Instanz anstelle des zuständigen Massnahmerichters zu prüfen. 
 
2. 
Nach dem Ausgeführten ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Da keine Beschwerdeantwort eingeholt wurde, ist keine Parteientschädigungen zu sprechen (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 8'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Handelsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 4. Oktober 2011 
 
Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Klett 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer