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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.357/2003 /bie 
 
Urteil vom 9. Juli 2003 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident. 
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, 
Bundesrichter Aeschlimann, 
Gerichtsschreiber Störi. 
Parteien 
 
X.________, Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Harry Nötzli, 
c/o Schütz Rechtsanwälte, Bleicherweg 45, 
8002 Zürich, 
 
gegen 
 
Bezirksamt Kulm, Bezirksgebäude, 
Zentrumplatz 1, 5726 Unterkulm, 
Obergericht des Kantons Aargau, 
Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium, 
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau. 
 
Gegenstand 
Art. 9 und 29 BV (Entsiegelung), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium, vom 1. Mai 2003. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Das Bezirksamt Kulm führt gegen X.________ eine Strafuntersuchung wegen Urkundenfälschung und Erschleichens einer falschen Beurkundung. Es verdächtigt ihn, mit zehn gefälschten Aktienzertifikaten eine Generalversammlung der Firma Y.________ AG einberufen und sich dabei widerrechtlich in deren Besitz gebracht zu haben. 
 
Mit Verfügung vom 11. April 2003 beschlagnahmte das Bezirksamt Kulm den Ordner von X.________ mit den Unterlagen zur Y.________ AG gemäss § 85 der Strafprozessordnung vom 11. November 1958 (StPO). Sie verpflichtete X.________ sowie dessen damaligen Rechtsanwalt Galligani, ihm die Unterlagen der Y.________ AG bis zum 14. April 2003 vorzulegen und beauftragte die Kantonspolizei, nach unbenütztem Ablauf der Frist die Unterlagen sicherzustellen. 
 
Mit Verfügung vom 15. April 2003 hielt das Bezirksamt Kulm fest, der Ordner mit den Unterlagen zur Y.________ AG habe sich bei Rechtsanwalt Galligani befunden, welcher indessen sein Amt niedergelegt und ihn am 14. April 2003 seinem Mandanten ins Bezirksgefängnis Zofingen geschickt habe, obwohl der Ordner bereits mit Beschlag belegt gewesen sei. Es wies die Kantonspolizei an, den Ordner unverzüglich sicherzustellen; diese führte den Auftrag am 15. April 2003 im Bezirksgefängnis Zofingen aus. Nachdem X.________ gegen die Durchsuchung der im Ordner aufbewahrten Papiere Einsprache erhoben und deren Versiegelung verlangt hatte, beantragte das Bezirksamt Kulm am 22. April 2003 beim Präsidenten der Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Aarau, die sichergestellten Papiere zu entsiegeln. 
 
Der Präsident der Beschwerdekammer hiess das Entsiegelungsbegehren am 1. Mai 2003 gut und bewilligte die Durchsuchung der beschlagnahmten Akten. 
B. 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 11. Juni 2003 wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs, Rechtsverweigerung und Willkür beantragt X.________, diesen Präsidialentscheid aufzuheben. Ausserdem beantragt er, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und ihm unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren. 
C. 
Das Bezirksamt Kulm verzichtet auf Vernehmlassung. Der Präsident der Beschwerdekammer des Obergerichts beantragt, das Gesuch um aufschiebende Wirkung abzuweisen. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Der angefochtene, kantonal letztinstanzliche Entscheid schliesst das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht ab. Es handelt sich um einen Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG, gegen den die staatsrechtliche Beschwerde zulässig ist, wenn er einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil nach sich ziehen kann. Nach der Rechtsprechung ist dies bei Verfügungen, mit denen bestimmte Gegenstände beschlagnahmt werden, durchwegs der Fall (BGE 126 I 97 E. 1b mit Hinweisen). Ob dies auch für Verfügungen über die Entsiegelung beschlagnahmter Gegenstände generell zutrifft, erscheint fraglich, kann doch der Strafrichter die durch eine unzulässige Entsiegelung gewonnenen Beweismittel aus dem Verfahren weisen und so den dem Angeschuldigten dadurch drohenden prozessualen Nachteil abwenden. Es sind allerdings Fälle denkbar, in denen eine Entsiegelung irreparablen Schaden anrichten kann, etwa wenn die Privatsphäre oder ein Berufsgeheimnis verletzt würde, was nicht rückgängig zu machen wäre. Solches macht der Beschwerdeführer indessen nicht geltend und legt damit nicht in einer den gesetzlichen Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Weise (BGE 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c; 121 I 334 E. 1c) dar, dass ihm durch die umstrittene Entsiegelung ein nicht wiedergutzumachender Nachteil droht, und das ist auch nicht ersichtlich. Auf die Beschwerde ist daher nicht einzutreten. 
1.2 Dies gilt allerdings nicht, soweit der Beschwerdeführer dem Präsidenten der Beschwerdekammer vorwirft, seine Beschwerde ohne inhaltliche Prüfung als hinfällig abgeschrieben zu haben. Eine solche Rechtsverweigerungsrüge unterliegt nach der Rechtsprechung den einschränkenden Voraussetzungen von Art. 87 OG nicht (BGE 117 Ia 336 E. 1a zur alten Fassung von Art. 87 OG). 
2. 
Der Beschwerdeführer wirft dem Präsidenten der Beschwerdekammer vor, das Entsiegelungsbegehren des Bezirksamtes am 1. Mai 2003 und damit vor dem Ablauf der Beschwerdefrist gegen die Beschlagnahmverfügung gutgeheissen und deswegen, wie er ihm mit Schreiben vom 19. Mai 2003 mitgeteilt habe, seine fristgerechte Beschwerde vom 3. Mai 2003 gegen die Beschlagnahmeverfügung vom 11. April 2003 ohne inhaltliche Prüfung als hinfällig betrachtet zu haben. 
2.1 Soweit die wenig präzise Beschwerde verständlich ist, rügt der Beschwerdeführer damit eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs - weil er sich zur Beschlagnahme auch nachträglich im Rechtsmittelverfahren nicht habe äussern können -, eine Rechtsverweigerung - weil seine Beschwerde vom 3. Mai 2003 gegen die Beschlagnahmeverfügung nicht behandelt, sondern als hinfällig abgetan worden sei - sowie Willkür, da die Entsiegelung bewilligt worden sei, bevor (bzw. ohne dass) über die Beschwerde gegen die Beschlagnahme entschieden wurde, obwohl die (rechtskräftige) Beschlagnahme Voraussetzung für eine Entsiegelung sei. Zulässig ist einzig die Rechtsverweigerungsrüge (oben E. 1.1). 
2.2 Der Beschwerdeführer geht davon aus, dass seine Beschwerde vom 3. Mai 2003 gegen die Beschlagnahme des fraglichen Ordners nicht behandelt werden soll, weil sie nach dem Schreiben des Präsidenten der Beschwerdekammer vom 19. Mai 2003 mit der Verfügung vom 1. Mai 2003 über die Entsiegelung "hinfällig" geworden sei. 
 
Dieses Schreiben ist insofern missverständlich, als es tatsächlich so verstanden werden kann, wie es der Beschwerdeführer tat, nämlich dass seine Beschwerde gegen die Beschlagnahmeverfügung nach der Auffassung des Beschwerdekammer-Präsidenten mit der Bewilligung der Entsiegelung gegenstandslos geworden sei. Wie dieser in der Vernehmlassung darlegt, hat er dies allerdings nicht so gemeint, sondern er wird entweder die Eingabe des Beschwerdeführers vom 3. Mai 2003 oder eine neue Beschwerde, die dieser allenfalls nach Erhalt der begründeten Beschlagnahmeverfügung einreichen könnte, der zuständigen Beschwerdekammer zur Beurteilung überweisen. 
 
Nach diesen Ausführungen des Beschwerdekammer-Präsidenten - worauf er zu behaften ist - steht dem Beschwerdeführer das gesetzliche Rechtsmittel gegen die Beschlagnahme offen, weshalb von einer Rechtsverweigerung keine Rede sein kann. Die Rüge ist damit unbegründet, wobei sie der Beschwerdeführer allerdings in Anbetracht der missverständlichen Formulierung des Schreibens vom 19. Mai 2003 in guten Treuen erheben durfte. 
3. 
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist, womit das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos wird. 
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 156 OG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da die Beschwerde (namentlich wegen der unglücklichen Formulierung im Schreiben des Beschwerdekammer-Präsidenten vom 19. Mai 2003) nicht von vornherein aussichtslos war. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen: 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
2.2 Rechtsanwalt Harry Nötzli, Zürich, wird als unentgeltlicher Verteidiger eingesetzt und mit Fr. 1'500.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksamt Kulm und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 9. Juli 2003 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: