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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
H 232/03 
 
Urteil vom 25. November 2004 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin Berger Götz 
 
Parteien 
Ausgleichskasse des Kantons Bern, Abteilung Beiträge und Zulagen, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecherin Raymonde Zeller-Pauli, Marienstrasse 25, 3005 Bern, 
 
gegen 
 
1. B.________, 
2. L.________, 
 
Beschwerdegegner, beide vertreten durch Fürsprecher Franz Müller, Casinoplatz 8, 3011 Bern 
 
Vorinstanz 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern 
 
(Entscheid vom 17. Juni 2003) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der Fussballclub X.________ (nachfolgend: Verein) war als Arbeitgeber der Ausgleichskasse des Kantons Bern angeschlossen. Mit Schreiben vom 26. Oktober 1999 teilte die Ausgleichskasse dem Verein mit, auf Grund von Publikationen in der Tagespresse am ...... 1999 sei klar, dass der Verein überschuldet sei und die Forderung der Kasse nie voll bezahlt werden könne. Damit habe die einjährige Frist für die Geltendmachung von Schadenersatzforderungen nach Art. 52 AHVG begonnen. Am 23. Dezember 1999 wurde dem Verein für die Dauer von vier Monaten Nachlassstundung gewährt. Die gerichtlich bestellte Sachwalterin teilte dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern in einem Beitragsstreit am 17. Februar 2000 mit, dass sich die Forderung der Ausgleichskasse auf Fr. 129'365.65 belaufe und in dieser Höhe kolloziert werde. Am ...... 2000 fand eine Gläubigerversammlung statt. Nachdem die Vorstandsmitglieder des Vereins, B.________, L.________ und I.________, auf ihre Rechte gemäss Art. 303 Abs. 2 und 3 SchKG verzichtet hatten, stimmte die Kasse dem Nachlassvertrag, bei einer vorgesehenen Dividende von 10,5081 % für Forderungen der dritten Klasse, zu. Mit Verfügungen vom 11. Dezember 2000 verpflichtete sie B.________, L.________ und I.________ zur Bezahlung von Fr. 115'682.25 für entgangene Sozialversicherungsbeiträge. 
B. 
Die auf Einspruch hin von der Ausgleichskasse gegen B.________ und L.________ eingereichte Klage vom 13. Februar 2001 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab (Entscheid vom 17. Juni 2003). 
C. 
Die Ausgleichskasse lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, die Sache sei zur weiteren Behandlung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. 
 
B.________ und L.________ lassen die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen, währenddem das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten werden, als die Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts streitig ist. Im vorliegenden Verfahren ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Umfang nicht einzutreten, als sie sich gegen die Schadenersatzforderung für entgangene Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse richtet (vgl. BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweis). 
2. 
Da keine Versicherungsleistungen streitig sind, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
3. 
Im angefochtenen Entscheid werden die - vor In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 am 1. Januar 2003 gültig gewesenen und nach den Regeln des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts hier anwendbaren (BGE 130 V 1 mit Hinweisen) - Bestimmungen (Art. 52 AHVG, Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV [in der bis 31. Dezember 2000 in Kraft gestandenen Fassung; AS 2000 1441]) und Grundsätze (vgl. statt vieler BGE 123 V 15 Erw. 5b mit Hinweisen) über die Voraussetzungen der subsidiären Haftbarkeit der Organe juristischer Personen für den der Ausgleichskasse wegen schuldhafter Missachtung der Vorschriften über die Beitragsabrechnung und -zahlung entstandenen Schaden zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
4. 
4.1 Gemäss Art. 82 AHVV (hier anwendbar und in Kraft gestanden bis Ende 2002) "verjährt" die Schadenersatzforderung, wenn sie nicht innert Jahresfrist seit Kenntnis des Schadens durch Erlass einer Schadenersatzverfügung geltend gemacht wird, auf jeden Fall aber mit Ablauf von 5 Jahren seit Eintritt des Schadens (Abs. 1). Wird die Forderung aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für die das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist vorschreibt, so gilt diese Frist (Abs. 2). Entgegen dem Wortlaut von Art. 82 AHVV sind diese Fristen Verwirkungsfristen (BGE 128 V 12 Erw. 5a, 17 Erw. 2a, 126 V 451 Erw. 2a, 121 III 388 Erw. 3b, je mit Hinweisen). 
4.2 Kenntnis des Schadens im Sinne von Art. 82 Abs. 1 AHVV erhält die Ausgleichskasse in der Regel in dem Zeitpunkt, in welchem sie unter Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit erkennen muss, dass die tatsächlichen Gegebenheiten es nicht mehr erlauben, die Beiträge einzufordern, wohl aber eine Schadenersatzpflicht begründen können. In diesem Zeitpunkt beginnt die Jahresfrist zu laufen (BGE 129 V 195 Erw. 2.1). 
4.3 Entsteht der Schaden auf Grund eines Konkurses, so hat die Kasse nicht erst dann Kenntnis des Schadens, wenn die endgültige Verteilerliste vorliegt oder ein Verlustschein ausgestellt wird; vielmehr geht die Rechtsprechung davon aus, dass ein Gläubiger, der im Rahmen eines Konkursverfahrens einen Verlust erleidet und auf Ersatz klagen will, in der Regel bereits dann ausreichende Kenntnis des Schadens hat, wenn die Kollokation der Forderungen eröffnet wird. In diesem Zeitpunkt ist oder wäre der Gläubiger im Allgemeinen in der Lage, den Stand der Aktiven, die Kollokation seiner Forderung und die voraussichtliche Dividende zu kennen (BGE 119 V 92 Erw. 3). Die Konkurseröffnung als solche ist nach der Praxis kein Anknüpfungspunkt nach Art. 82 AHVV, obwohl im Falle der Aktiengesellschaft die Benachrichtigung des Richters gemäss Art. 725 Abs. 2 OR unter anderem eine Unterdeckung voraussetzt. Dies schliesst indessen nicht aus, dass die Frist unter Umständen schon vor der Konkurseröffnung laufen kann, nämlich dann, wenn die Ausgleichskasse bei Betreibung auf Pfändung zu einem definitiven Verlustschein gekommen ist (BGE 113 V 257 f.; ZAK 1991 S. 127 Erw. 2a). 
 
Die gleichen Grundsätze gelten bei einem Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung (BGE 128 V 17 Erw. 2a mit Hinweisen). Sowohl beim Widerruf der Nachlassstundung wie auch bei einer Verweigerung der Bestätigung des Nachlassvertrags ergeht ein Aufruf an die Gläubiger und die Entscheide werden öffentlich bekannt gemacht; dadurch wird auf die mögliche Zahlungsunfähigkeit und folglich auf das erhebliche Verlustrisiko für die Ausgleichskasse hingewiesen. Unter solchen Umständen darf von der Kasse erwartet werden, dass sie von sich aus tätig wird und entsprechende Informationen einholt, um ihr Verlustrisiko abschätzen zu können und um die Schritte zu unternehmen, die sich zur Wahrung ihrer Ansprüche anbieten (BGE 128 V 19 Erw. 3c). Wird der Nachlassvertrag vom Gericht genehmigt, beginnt die Jahresfrist mit dem Empfang der Einladung zur Gläubigerversammlung und des beigelegten Nachlassvertragsentwurfes zu laufen (Urteile O. vom 15. September 2004, H 34/04, und M. vom 2. Dezember 2003, H 295/02). Dabei hat das Eidgenössische Versicherungsgericht im Urteil M. vom 2. Dezember 2003, H 295/02, ausdrücklich offen gelassen, ob der Zeitpunkt der Kenntnis des Schadens nach Bewilligung der Nachlassstundung in Anlehnung an BGE 128 V 15 (zumutbare Kenntnis des Schadens nach Widerruf der Nachlassstundung oder nach Ablehnung des Nachlassvertrages [AHI 1995 S. 159]) nicht erst am Ende des Bestätigungsverfahrens (Genehmigungs- oder Verwerfungsentscheid des Nachlassgerichts) anzunehmen ist. 
5. 
Im vorliegenden Fall geht es um die Frage nach dem genauen Zeitpunkt der nach Art. 82 Abs. 1 AHVV fristauslösenden Schadenskenntnis, was entgegen der Ansicht der Beschwerdegegner eine Rechtsfrage ist (BGE 121 V 238 Erw. 5a) und daher vom Eidgenössischen Versicherungsgericht frei überprüft werden kann. 
5.1 Das kantonale Gericht ist zum Ergebnis gelangt, fristauslösend sei das Schreiben der Ausgleichskasse vom 26. Oktober 1999, in welchem sie angibt, sie habe aus der Presse entnommen, dass der Verein überschuldet sei. Der Zeitpunkt der Schadenskenntnis sei auf den 26. Oktober 1999 vorverlagert, weil die Kasse nach ihren eigenen Aussagen bereits damals tatsächliche Kenntnis des Schadens gehabt und ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass die zwölfmonatige Verwirkungsfrist begonnen habe. 
5.2 Nach Lage der Akten ist es vor dem Nachlassverfahren nicht zu definitiven Pfändungsverlustscheinen gekommen. Die Kenntnis des Schadens kann der Ausgleichskasse daher mit Blick auf die in Erw. 4.3 hiervor dargelegte Rechtsprechung erst im Zeitpunkt des Empfangs der Einladung zur Gläubigerversammlung vom ...... 2000 und des beigelegten Nachlassvertragsentwurfs, worin für Forderungen der dritten Klasse - Beitragsforderungen der Ausgleichskassen sind erst seit In-Kraft-Treten des Art. 219 Abs. 4 SchKG in der seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung wieder in der zweiten Klasse privilegiert - eine Dividende von lediglich 10,5081 % in Aussicht gestellt war, angerechnet werden. Den Akten lässt sich das Datum des Empfangs dieser Unterlagen durch die Kasse nicht entnehmen. Da die Nachlassstundung am 23. Dezember 1999 bewilligt wurde, steht allerdings fest, dass sowohl die Einladung zur Gläubigerversammlung als auch der Nachlassvertragsentwurf erst nach dem 23. Dezember 1999 versandt wurden. Unter diesen Umständen wurde die einjährige Frist mit Erlass der Schadenersatzverfügungen vom 11. Dezember 2000 auf jeden Fall gewahrt. Daran ändert nichts, dass die Ausgleichskasse im Schreiben vom 26. Oktober 1999 mit der persönlichen Haftung der Beschwerdegegner gedroht und dabei auf den Fristbeginn nach Art. 82 AHVV hingewiesen hat. Auch aus dem öffentlich-rechtlichen Vertrauensschutz, den die Vorinstanz beiläufig erwähnt, ohne anzugeben, inwiefern er die Massgeblichkeit des 26. Oktober 1999 als fristauslösendes Datum begründen könnte, ergibt sich nichts Abweichendes. 
5.3 Weil die am 11. Dezember 2000 erlassenen Verfügungen nach dem Gesagten innert der einjährigen Frist von Art. 82 Abs. 1 AHVV ergangen sind, ist die Schadenersatzforderung nicht verwirkt. Die Sache geht daher an das kantonale Gericht zurück, damit es - soweit die Schadenersatzforderung für entgangene bundesrechtliche Beiträge betroffen ist (Erw. 1 hiervor) - die übrigen Haftungsvoraussetzungen prüfe und hernach über die Klage erneut entscheide. 
6. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig, da nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen streitig ist (Art. 134 OG e contrario). Entsprechend dem Ausgang des Prozesses gehen die Kosten zu Lasten der Beschwerdegegner (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten ist, wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 17. Juni 2003 aufgehoben und es wird die Sache zur Neubeurteilung an das kantonale Gericht zurückgewiesen. 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 5000.- werden je zur Hälfte den Beschwerdegegnern auferlegt. 
3. 
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 5000.- wird der Ausgleichskasse des Kantons Bern zurückerstattet. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 25. November 2004 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: