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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_219/2020  
 
 
Urteil vom 28. Januar 2021  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
handelnd durch B.________, und diese vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Hardy Landolt, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Glarus, Burgstrasse 6, 8750 Glarus, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom 20. Februar 2020 (VG.2019.00125/126/127). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der 2000 geborene A.________ leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung. Er bezieht resp. bezog verschiedene Leistungen der Invalidenversicherung, u.a. Hilflosenentschädigung für schwere Hilflosigkeit samt Intensivpflegezuschlag und Assistenzbeiträge. Mit zwei Verfügungen vom 21. November 2018 sprach die IV-Stelle Glarus dem Versicherten Assistenzbeiträge für den Monat Dezember 2017 von Fr. 3'880.75 und für die Monate Januar bis September 2018 von jeweils Fr. 3'614.90, maximal Fr. 39'763.90 im Jahr (11 x Fr. 3'614.90), zu. In teilweiser Gutheissung der von A.________ gegen beide Verfügungen erhobenen Beschwerden setzte das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus mit Entscheid vom 11. April 2019 den Assistenzbeitrag für den Monat Dezember 2017 auf Fr. 4'543.45 und für die Monate Januar bis September 2018 auf jeweils Fr. 4'277.60 (maximal Fr. 47'053.60 im Jahr [11 x Fr. 4'277.60]) fest. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesgericht mit Urteil 9C_354/2019 vom 1. Juli 2019 ab.  
 
A.b. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens setzte die IV-Stelle mit Verfügungen vom 15. Oktober 2019 den Assistenzbeitrag wie folgt fest: monatlich Fr. 6'533.15 und jährlich Fr. 78'397.80 für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember 2018, monatlich Fr. 6'829.40 und jährlich Fr. 81'952.80 für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Juli 2019 sowie monatlich Fr. 7'390.50 und jährlich Fr. 88'686.- für die Zeit ab dem 1. August 2019.  
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus mit Entscheid vom 20. Februar 2020 ab. 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegen heiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 20. Februar 2020 sei festzustellen, dass die IV-Stelle "weder berechtigt ist, die Hilflosenentschädigung und die Grundpflegestunden, welche vom Krankenversicherer vergütet werden, vom versicherten Assistenzbedarf in Abzug zu bringen"; eventuell sei die Angelegenheit im Sinne der Erwägungen an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Ferner lässt er um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen. Sein Rechtsvertreter reicht ein detailliertes Leistungsjournal ein. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Trotz der Formulierung eines Feststellungsbegehrens verlangt der Beschwerdeführer sinngemäss (vgl. zur Auslegung der Rechtsbegehren im Lichte der Beschwerdebegründung Urteil 8C_62/2018 vom 19. September 2018 E. 1.2.2, nicht publ. in: BGE 144 V 418) einen jeweils höheren Assistenzbeitrag. Im Rahmen des Leistungsstreits kommt dem Feststellungsantrag keine selbstständige Bedeutung zu.  
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.  
Anspruch auf einen Assistenzbeitrag haben Versicherte, denen eine Hilflosenentschädigung der IV nach Art. 42 Abs. 1-4 ausgerichtet wird, die zu Hause leben und volljährig sind (Art. 42quater Abs. 1 IVG). Ein Assistenzbeitrag wird gewährt für Hilfeleistungen, die von der versicherten Person benötigt und regelmässig von einer natürlichen Person (Assistenzperson) unter bestimmten Voraussetzungen erbracht werden (Art. 42quinquies IVG). Grundlage für die Berechnung des Assistenzbeitrags ist die für die Hilfeleistungen benötigte Zeit. Davon abgezogen wird die Zeit, die folgenden Leistungen entspricht: (a) der Hilflosenentschädigung nach den Art. 42-42 ter; (b) den Beiträgen für Dienstleistungen Dritter anstelle eines Hilfsmittels nach Art. 21ter Abs. 2; (c) dem für die Grundpflege ausgerichteten Beitrag der obligatorischen Krankenpflegeversicherung an Pflegeleistungen nach Art. 25a KVG (Art. 42sexies Abs. 1 IVG). Der Bundesrat legt u.a. die Bereiche und die minimale und maximale Anzahl Stunden, für die ein Assistenzbeitrag ausgerichtet wird, sowie die Pauschalen für Hilfeleistungen pro Zeiteinheit im Rahmen des Assistenzbeitrags fest (Art. 42sexies Abs. 4 lit. a und b IVG). 
Nach Art. 39c IVV (SR 831.201) kann u.a. in den folgenden Bereichen Hilfebedarf anerkannt werden: (a) alltägliche Lebensverrichtungen; (b) Haushaltsführung; (c) gesellschaftliche Teilhabe und Freizeitgestaltung; (d) Erziehung und Kinderbetreuung; (e) Ausübung einer gemeinnützigen oder ehrenamtlichen Tätigkeit; (f) berufliche Aus- und Weiterbildung; (g) Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt; (h) Überwachung während des Tages; (i) Nachtdienst. 
 
3.  
Die Verwaltung traf Abklärungen vor Ort und erstattete mit dem standardisierten Abklärungsinstrument "FAKT2" (nachfolgend: FAKT2) erstellte Abklärungsberichte, wobei sie auf den 1. Oktober 2018, 1. Januar und 1. August 2019 Änderungen hinsichtlich der Wohnsituation resp. des Schulbesuchs berücksichtigte. 
 
Die Vorinstanz hat den Abklärungsberichten Beweiskraft beigemessen und gestützt darauf einen Hilfebedarf von 219 Stunden pro Monat (ohne allfälligen Abzug für den Besuch der heilpädagogischen Schule) für die Bereiche alltägliche Lebensverrichtungen, Haushalt sowie gesellschaftliche Teilhabe und Freizeitgestaltung (vgl. Art. 39c lit. a-c IVV) und 60 Stunden pro Monat für die Überwachung während des Tages (vgl. Art. 39c lit. h IVV) festgestellt. Sodann hat sie es abgelehnt, für den assistenzbeitragsrechtlichen Hilfebedarf (zusätzlich) vom Beschwerdeführer geltend gemachte psychiatrische Grundpflege im Umfang von monatlich 289 Stunden anzurechnen. Schliesslich hat sie vom ermittelten monatlichen Hilfebedarf 50 Stunden, die auf Grundpflegeleistungen der obligatorischen Krankenversicherung entfallen, abgezogen. Folglich hat sie den Anspruch auf Assistenzbeitrag ab Oktober 2018 entsprechend den Verfügungen vom 15. Oktober 2019 bestätigt. 
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer verlangt die Anerkennung psychiatrischer Grundpflege als "versicherten Assistenzbedarf".  
 
Im ebenfalls den Beschwerdeführer betreffenden Urteil 9C_839/2018 vom 28. Juni 2019 (SVR 2019 KV Nr. 20 S. 115) entschied das Bundesgericht, dass die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für Massnahmen nach Art. 7 Abs. 2 lit. c Ziff. 2 der Verordnung des EDI vom 29. September 1995 über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung, KLV; SR 832.112.31) eine Zulassung für die Erbringung von psychiatrischen Leistungen voraussetzt (a.a.O., E. 6.2.2). Daraus hat die Vorinstanz geschlossen, dass es sich bei der psychiatrischen Grundpflege gemäss Art. 7 Abs. 2 lit. c Ziff. 2 KLV nicht um Hilfeleistungen im Sinne von Art. 42quinquies IVG handeln könne. Soweit der Versicherte psychiatrische Grundpflege benötige, habe er diese durch Fachpersonal ausüben zu lassen und dann gegenüber seinem Krankenversicherer geltend zu machen.  
 
Ob die vorinstanzliche Auffassung bundesrechtskonform ist, kann offenbleiben. Für welche Bereiche ein Hilfebedarf anerkannt werden kann, ist in Art. 39c IVV (vgl. obenstehende E. 2) geregelt. Anders als der Beschwerdeführer anzunehmen scheint, bleibt ausserhalb dieser Vorgaben kein Raum für die Berücksichtigung eines behaupteten (aber nicht näher substanziierten) Bedarfs an psychiatrischer Grundpflege bei der Berechnung des Assistenzbeitrags. Inwiefern ein entsprechender Hilfebedarf im Lichte von Art. 39c IVV zu Unrecht nicht oder nur ungenügend anerkannt worden sein soll, ist nicht ersichtlich (vgl. auch nachfolgende E. 4.2) und wird auch nicht dargelegt. 
 
4.2. Sodann macht der Beschwerdeführer unter Verweis auf Rz. 4014 des Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherungen über den Assistenzbeitrag (KSAB; abrufbar unter https://sozialversicherungen.admin.ch/de/d/6394) einen durchgehend maximalen Hilfebedarf - entsprechend der Stufe 4 gemäss FAKT2 - geltend. Für die Bereiche alltägliche Lebensverrichtungen, Haushalt sowie gesellschaftliche Teilhabe und Freizeitgestaltung müssten monatlich 240 (statt 219) Stunden und für die Überwachung während des Tages 120 (statt 60) anerkannt werden.  
 
Die Vorinstanz hat festgestellt, die IV-Stelle habe in den Abklärungsberichten (vgl. zur grundsätzlichen Eignung des FAKT2 zur Ermittlung des gesamten Hilfebedarfs einer versicherten Person BGE 140 V 543 E. 3.2.2 S. 547 ff.) für fast alle Bereiche einen Hilfebedarf der Stufe 4 anerkannt. Lediglich für die Teilbereiche Mobilität (FAKT2 Ziff. 1.2.2 und 1.4.2), Notdurft (FAKT2 Ziff. 1.5.1 bis 1.5.3) und Einkaufen, Einräumen, Versorgen (FAKT2 Ziff. 2.4.3), in denen der Beschwerdeführer teilweise Eigenleistungen erbringen könne, habe sie - nachvollziehbar - eine tiefere Stufe angewandt. Bei der persönlichen Überwachung entspreche Stufe 3 einer viertelstündlichen Überwachung und Stufe 4 einer permanenten 1:1 Überwachung. Letzterer bedürfe der Beschwerdeführer offensichtlich nicht, und die Wahl der Stufe 3 bei der Überwachung sei eher grosszügig. 
Dass diese Feststellungen offensichtlich unrichtig sein sollen, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht vorgebracht (vgl. obenstehende E. 1.2). Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers setzt ein Hilfebedarf der Stufe 4 voraus, dass die versicherte Person gar nichts selbstständig tun kann und bei allen Verrichtungen umfassende direkte Hilfe oder ständige Anleitung und Überwachung braucht. Stufe 3 trifft zu, wenn eine bescheidene Mithilfe resp. Eigenleistung der versicherten Person möglich ist (vgl. Rz. 4013 f. KSAB). Von einer "bundesrechtswidrigen Qualifikation" des Hilfebedarfs, soweit er nicht in der Stufe 4 anerkannt wurde, kann somit nicht gesprochen werden. 
 
4.3. Schliesslich wehrt sich der Beschwerdeführer dagegen, dass vom anerkannten Hilfebedarf die Stunden abgezogen werden, die der Hilflosenentschädigung und der von der obligatorischen Krankenversicherung übernommenen Grundpflege entsprechen.  
 
Nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut von Art. 42sexies Abs. 1 IVG (vgl. obenstehende E. 2) müssen die hier interessierenden Zeiten zwingend vom (anerkannten; vgl. dazu BGE 140 V 543 E. 3.6 S. 556 ff.) Hilfebedarf abgezogen werden. Es besteht kein Anlass davon abzuweichen, wie das Bundesgericht bereits im Urteil 8C_57/2020 vom 18. Juni 2020 E. 4.3.1 erkannte (vgl. zur Bedeutung des Wortlauts bei der Auslegung BGE 145 V 2 E. 4.1 S. 7; Urteil 9C_174/2020 vom 2. November 2020 E. 7.3.1, zur Publikation vorgesehen). Soweit der Beschwerdeführer unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit, das Recht auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung sowie das Diskriminierungsverbot eine "verfassungskonforme, teleologische und systematische sowie staatsvertragskonforme Auslegung" von Art. 42sexies Abs. 1 IVG verlangt, zielt er direkt darauf ab, der genannten und unmissverständlichen Gesetzesbestimmung die Anwendung zu versagen. Das geht indessen im Lichte des Anwendungsgebots von Art. 190 BV nicht an (vgl. BGE 146 V 129 E. 4.4 S. 133; 136 II 120 E. 3.5.1 S. 130). Die Beschwerde ist auch in diesem Punkt unbegründet. 
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie dazu später in der Lage ist.  
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Prof. Dr. Hardy Landolt wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.  
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1800.- ausgerichtet. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 28. Januar 2021 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann