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Urteilskopf

114 V 109


22. Auszug aus dem Urteil vom 29. April 1988 i.S. B. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen

Regeste

Art. 9 Abs. 2 UVG: Zusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und Krankheit.
Die Voraussetzung des "ausschliesslichen oder stark überwiegenden" Zusammenhangs gemäss Art. 9 Abs. 2 UVG ist erfüllt, wenn die Berufskrankheit mindestens zu 75% durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden ist.

Erwägungen ab Seite 110

BGE 114 V 109 S. 110
Aus den Erwägungen:

2. a) Gemäss Art. 9 Abs. 1 UVG gelten Krankheiten, die bei der beruflichen Tätigkeit ausschliesslich oder vorwiegend durch schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten verursacht worden sind, als Berufskrankheiten. Der Bundesrat erstellt die Liste dieser Stoffe und Arbeiten sowie der arbeitsbedingten Erkrankungen. Gestützt auf diese Delegationsnorm und Art. 14 UVV hat er in Anhang I zur UVV eine Liste der schädigenden Stoffe und der arbeitsbedingten Erkrankungen erstellt.
b) Als Berufskrankheiten gelten auch andere Krankheiten, von denen nachgewiesen wird, dass sie ausschliesslich oder stark überwiegend durch berufliche Tätigkeit verursacht worden sind (Art. 9 Abs. 2 UVG). Diese Generalklausel (RKUV 1987 Nr. U 28 S. 399 Erw. 2 a.A.) bezweckt, allfällige Lücken zu schliessen, die dadurch entstehen könnten, dass die bundesrätliche Liste gemäss Anhang I zur UVV entweder einen schädigenden Stoff, der eine Krankheit verursachte, oder eine Krankheit nicht aufführt, die durch die Arbeit verursacht wurde (vgl. Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 18. August 1976, BBl 1976 III 166; SEILER, Der Entwurf zu einem neuen Unfallversicherungsgesetz, in SZS 1977, S. 12; MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 221).

3. Es ist unbestritten und geht aus den Akten hervor, dass der Beschwerdeführer keine Ansprüche aus Berufskrankheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 UVG ableiten kann, da weder schädigende Stoffe noch arbeitsbedingte Erkrankungen gemäss Anhang I zur UVV in Frage stehen. Streitig und zu prüfen ist hingegen, ob er an einer Berufskrankheit gemäss Art. 9 Abs. 2 UVG leidet.
a) Nach der Verwaltungspraxis der SUVA (vgl. Wegleitung durch die Unfallversicherung, 2. Aufl., 1987, S. 21 ff.) muss für die Anerkennung als Berufskrankheit nach Art. 9 Abs. 1 UVG der ursächliche Zusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und Krankheit mindestens "vorwiegend" sein, d.h. die Krankheit muss mehr als zur Hälfte durch die berufliche Tätigkeit verursacht sein. Die blosse Möglichkeit eines Zusammenhanges genügt nicht. Für die anderen beruflichen Krankheiten gemäss Art. 9 Abs. 2 UVG wird für den Nachweis des ursächlichen Zusammenhanges zwischen beruflicher Tätigkeit und Krankheit ein noch strengerer Massstab verlangt. Damit der Zusammenhang als "ausschliesslich oder stark überwiegend" gelten kann, muss der ursächliche Anteil
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der beruflichen Tätigkeit an der Krankheit drei Viertel betragen (Ziff. 2.4 und 2.5).
Gemäss MAURER (a.a.O., S. 221 f.) ist der qualifizierte Kausalzusammenhang erfüllt, wenn der schädigende Stoff oder die krankmachende Arbeit mindestens vorwiegende Ursache ist, d.h. eine Ursache, die im Ursachenspektrum 50% übersteigt. Für die Berufskrankheiten nach der Generalklausel müsse diese Ursache sogar stark überwiegen. Dies dürfte zutreffen, wenn sie im Ursachenspektrum mindestens 75% erreiche, so dass auf alle andern Ursachen zusammen höchstens ein Anteil von 25% entfalle (vgl. M. SCHAER, Zurechnungstheorien im Versicherungs- und Haftpflichtrecht, in Schweizerischer Versicherungskurier 1986, S. 157).
In RKUV 1987 Nr. U 28 S. 400 Erw. 2 in fine hat das Eidg. Versicherungsgericht die Frage offengelassen, ob und wie die von MAURER (a.a.O., S. 221 N 511) postulierte Quantifizierung des Anspruchs "stark überwiegend" vorzunehmen ist.
b) Nach Ansicht des kantonalen Gerichts ist es offensichtlich, dass der Gesetzgeber zwischen der Formulierung "vorwiegend" in Art. 9 Abs. 1 UVG und "stark überwiegend" in Abs. 2 qualitativ eine deutliche Unterscheidung habe treffen wollen. Die Verwaltungsweisung der SUVA, die mit Maurer für eine Berufskrankheit nach Art. 9 Abs. 2 UVG eine mindestens 75%ige Verursachung der Krankheit durch die berufliche Tätigkeit verlange, sei sowohl mit dem Wortlaut als auch mit Sinn und Zweck des Gesetzes vereinbar und daher vom Richter nicht zu beanstanden.
c) Diese Auffassung der Vorinstanz, die der Beschwerdeführer zu Recht nicht in Frage stellt, ist gesetzmässig. Das massgebende Kriterium "stark überwiegend" liegt zwischen "vorwiegend" und "ausschliesslich". Eine vorwiegende Verursachung durch schädigende Stoffe und Arbeiten kann aber nur gegeben sein, wenn diese mehr wiegen als alle andern mitbeteiligten Ursachen, mithin im gesamten Ursachenspektrum mehr als 50% ausmachen. Ausschliessliche Verursachung hingegen meint praktisch 100%. Es liegt daher nahe, die Grenze für "stark überwiegend" in der Mitte zwischen "vorwiegend" (mehr als 50%) und "ausschliesslich" (100%) anzusiedeln (vgl. SCHLEGEL/GILG, Kausalitätsfragen bei der Beurteilung von Unfällen und Berufskrankheiten, in Mitteilungen der Medizinischen Abteilung der SUVA, Nr. 57, S. 11 ff., insbesondere S. 16 oben). In der bundesrätlichen Botschaft zum UVG wurde zwar darauf hingewiesen, dass im Vernehmlassungsverfahren zur an sich begrüssten Regelung der Berufskrankheiten
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nach der Generalklausel verschiedentlich die Meinung geäussert worden sei, an den Versicherten nicht zu strenge Beweisanforderungen zu stellen; dies sei auch die Meinung des Bundesrates, wobei es immerhin dem Versicherten obliege, glaubhaft zu machen, dass seine Krankheit zur Hauptsache auf die Berufsarbeit zurückzuführen sei (a.a.O., S. 166). In der vorberatenden Kommission des Nationalrates wurde zuerst ein Antrag Wagner zu Art. 9 UVG, bei Berufskrankheiten nach der Generalklausel die Wendung "stark überwiegend" durch "vorwiegend" zu ersetzen und so die gleichen Erfordernisse wie für die enumerierten Listen-Berufskrankheiten in Art. 9 Abs. 1 UVG einzuführen, dem Gesetzesentwurf des Bundesrates vorgezogen (Kommission des Nationalrats, Sitzung vom 25./26. August 1977, Protokoll S. 57 ff.). Aus der Befürchtung heraus, bei Streichung des Zusatzes "stark" überwiegend aus dem Gesetzestext könnten die rechtsanwendenden Behörden zu einer milderen Praxis übergehen, womit eine Verwässerung der klaren Abgrenzung zwischen Krankheit und Berufskrankheit Platz greifen würde, kam jedoch die Kommission dem Rückkommensantrag Generalis entsprechend auf ihren Beschluss zurück und stimmte der Fassung des bundesrätlichen Entwurfes von Art. 9 Abs. 1b, der im wesentlichen dem heutigen Art. 9 Abs. 2 UVG entspricht, zu (Kommission des Nationalrats, Sitzung vom 16./17. Oktober 1978, Protokoll S. 60 f.). Daraus wird der Wille des Gesetzgebers deutlich, beim Nachweis einer Berufskrankheit nach der Generalklausel relativ strenge Anforderungen zu stellen. Dieser Vorstellung dürfte die Drei-Viertel-Lösung sehr gut entsprechen. Abgesehen davon vermag sie auch Praktikabilitätsüberlegungen zu genügen. Denn es ist aus objektiven Gründen zuweilen recht schwierig und heikel, bei Haftungsfragen die Kausalanteile festzustellen, so dass auch der medizinische Fachmann unter Umständen zu Schätzungen greifen muss, bei denen das Ermessen eine Rolle mitspielt (vgl. BGE 111 V 196 Erw. 5b).

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 2 3

Referenzen

BGE: 111 V 196

Artikel: Art. 9 Abs. 2 UVG, Art. 9 Abs. 1 UVG, Art. 14 UVV, Art. 9 UVG