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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
4A_395/2021  
 
 
Urteil vom 7. Oktober 2021  
 
I. zivilrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Kiss, Niquille, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichterin May Canellas, 
Gerichtsschreiber Stähle. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Astrid Meienberg, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
B.________ AG, 
vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Klett, Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Haftpflichtrecht; Teilklage; negative Feststellungswiderklage, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom 7. Juni 2021 (NP200042-O/U). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 6. März 2005 wurde A.________ (Beschwerdeführerin) auf einem Fussgängerstreifen von einem Auto angefahren. Der Unfallverursacher war bei der B.________ AG (Beschwerdegegnerin) haftpflichtversichert. 
Am 15. November 2019 erhob A.________ Teilklage beim Bezirksgericht Zürich. Sie verlangte, die B.________ AG sei zu verurteilen, ihr für den Erwerbsschaden, der ihr durch das Unfallereignis "ab Unfalldatum bis Ende 2018" zugefügt worden sei, Fr. 30'000.-- zu bezahlen, dies "zusätzlich" zu den von der B.________ AG bereits früher bezahlten Fr. 40'000.--. 
Mit Klageantwort begehrte die B.________ AG, es sei "widerklageweise festzustellen", dass A.________ aus dem Unfallereignis vom 6. März 2005 "keine Forderungen" zustünden. 
Mit Verfügung vom 2. November 2020 liess der Einzelrichter am Bezirksgericht die Feststellungswiderklage zu und überwies das Verfahren zuständigkeitshalber an das Kollegialgericht. 
A.________ focht diese Verfügung mit Berufung beim Obergericht des Kantons Zürich an. Dieses wies die Berufung mit Urteil vom 7. Juni 2021 ab. 
 
B.  
A.________ verlangt mit Beschwerde in Zivilsachen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben. Auf die Widerklage "sei nicht einzutreten und die Sache sei zur Fortsetzung im vereinfachten Verfahren an den Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich zurückzuweisen". Eventualiter sei die Sache "zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen". 
Mit Präsidialverfügung vom 26. August 2021 wurde der Beschwerde - wie von der Beschwerdeführerin beantragt und mangels Opposition - die aufschiebende Wirkung erteilt. 
In der Sache wurden keine Vernehmlassungen eingeholt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das Obergericht hat als letzte kantonale Instanz im Sinne von Art. 75 BGG eine auf Art. 224 Abs. 2 ZPO gestützte Verfügung des Einzelrichters am Bezirksgericht bestätigt. Ob es sich dabei um einen Endentscheid (Art. 90 BGG) oder einen selbständig eröffneten Vor- und Zwischenentscheid über die Zuständigkeit (Art. 92 BGG) handelt, kann offenbleiben. Weiter übersteigt der Streitwert den nach Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG geltenden Mindestbetrag von Fr. 30'000.-- (vgl. Art. 53 BGG). Damit steht die Beschwerde in Zivilsachen grundsätzlich offen. 
 
2.  
Ist ein Anspruch teilbar, so kann auch nur ein Teil eingeklagt werden (Art. 86 ZPO). Lehre und Rechtsprechung unterscheiden zwischen echter und unechter Teilklage. Mit der "echten Teilklage" wird ein quantitativer Teilbetrag aus dem gesamten Anspruch eingeklagt, bei der "unechten Teilklage" verlangt die klagende Partei einen individualisierbaren Anspruch des Gesamtbetrags (vgl. BGE 145 III 299 E. 2.3 S. 301; 143 III 254 E. 3.4 S. 258). Insbesondere mit Blick auf die Rechtskraft von Urteilen, in welchen eine Teilklage abgewiesen wird, ist sodann gegebenenfalls zwischen der Teilklage über einen einzig betragsmässig beschränkten Teil einer Forderung und der Teilklage über einen oder mehrere Schadensposten zu differenzieren (siehe Urteil 4A_449/2020 vom 23. März 2021 E. 6.4.3, zur Publikation vorgesehen). 
Die Beschwerdeführerin machte in der Klagebegründung geltend, sie habe durch den Unfall "unter dem Titel Erwerbsschaden, Haushaltschaden, weitere Kosten, Genugtuung, Anwaltskosten etc." einen grossen Schaden erlitten. Allein für die Jahre 2009 bis 2019 ergebe sich ein Erwerbsschaden von Fr. 207'462.--. Sie klage nun im vereinfachten Verfahren einen "Teil des aufgelaufenen Erwerbsschadens" ein, wobei sich die Teilklage - so präzisierte sie in einer späteren Stellungnahme - auf den Erwerbsschaden der Jahre 2009 und 2010 beziehe. Umstritten ist, ob die in Reaktion darauf erhobene Widerklage der Beschwerdegegnerin auf Feststellung, dass der Beschwerdeführerin aus dem betreffenden Unfallereignis "keine Forderungen" zustehen, zulässig ist. Diese Widerklage ist aufgrund ihres Streitwerts von über Fr. 30'000.-- grundsätzlich im ordentlichen Verfahren zu behandeln (siehe Art. 243 Abs. 1 ZPO e contrario). 
 
3.  
 
3.1. Gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO kann die beklagte Partei in der Klageantwort Widerklage erheben, wenn der geltend gemachte Anspruch nach der gleichen Verfahrensart wie die Hauptklage zu beurteilen ist. Es ist daher grundsätzlich nicht zulässig, im vereinfachten Verfahren eine Widerklage zu erheben, die wegen ihres Streitwerts in den Geltungsbereich des ordentlichen Verfahrens fällt.  
Abweichendes gilt jedoch für sogenannte negative Feststellungswiderklagen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung steht Art. 224 Abs. 1 ZPO der in Reaktion auf eine Teilklage erhobenen negativen Feststellungswiderklage nicht entgegen, auch wenn deren Streitwert die Anwendbarkeit des ordentlichen Verfahrens zur Folge hat. Haupt- und Widerklage sind diesfalls zusammen im ordentlichen Verfahren zu beurteilen (BGE 143 III 506 E. 3 und 4). Diese Ausnahme vom Erfordernis der gleichen Verfahrensart ist dabei nicht auf den Fall einer sogenannten echten Teilklage beschränkt, sondern gilt allgemein dann, wenn die Teilklage eine Ungewissheit zur Folge hat, die es rechtfertigt, die Feststellung des Nichtbestands einer Forderung oder eines Rechtsverhältnisses zu verlangen; die Unterscheidung zwischen echter und unechter Teilklage entfällt in diesem Zusammenhang (BGE 147 III 172 E. 2.3; 145 III 299 E. 2.3). Dies hat das Bundesgericht ausdrücklich auch mit Blick auf die bundesrätlichen Anpassungsvorschläge im Rahmen der aktuellen Revision der Zivilprozessordnung festgehalten (BGE 147 III 172 E. 2.3). 
 
3.2. Erhebt die beklagte Partei eine negative Feststellungswiderklage in Reaktion auf eine echte Teilklage, liegt ihr Interesse nach der Rechtsprechung regelmässig auf der Hand (vgl. BGE 145 III 299 E. 2.3 S. 302). Vorliegend hat die Beschwerdeführerin einen einzelnen Schadensposten (beziehungsweise einen Teil davon) eingeklagt, nämlich Fr. 30'000.-- für den Erwerbsschaden. Die Beschwerdegegnerin verlangt ihrerseits die Feststellung des Nichtbestands der gesamten Schadenersatzpflicht (das heisst auch der anderen Schadenspositionen). Das Bundesgericht hat in BGE 147 III 172 E. 2.2 S. 175 offengelassen, wie weit das Feststellungsinteresse der beklagten Partei in derartigen Fällen auf einzelne Schadensposten beschränkter Teilklagen allgemein reicht.  
Dies braucht auch hier nicht generell entschieden zu werden. Die Vorinstanz hat eine durch die Teilklage hervorgerufene Ungewissheit im Sinne der dargestellten Rechtsprechung und damit die Zulässigkeit der widerklageweise erhobenen negativen Feststellungsklage im konkreten Fall jedenfalls zu Recht bejaht: Die Beschwerdeführerin klagt einen Teil ihres sich aus dem Unfall vom 6. März 2005 und der dadurch verursachten Körperverletzung ergebenden Schadens ein. Die weiteren Ansprüche, welche die Beschwerdeführerin nicht zum Gegenstand ihrer Teilklage gemacht hat und deren Nichtbestand die Beschwerdegegnerin nun mit Widerklage festgestellt haben möchte, sollen ebenfalls (angebliche) Folge dieses Unfalls respektive der daraus resultierenden Körperverletzung sein. Es ist im Grundsatz der gleiche Lebenssachverhalt - nämlich der genannte Unfall mit Körperverletzung -, der nach Auffassung der Beschwerdeführerin die Haftung der Beschwerdegegnerin für sämtliche behaupteten und teilweise in sich zusammenhängenden Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche begründet. Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen des Obergerichts (Art. 105 BGG) hat die Beschwerdeführerin in der Klagebegründung überdies bemerkt, dass "die Angelegenheit schon lange abschlussreif" sei. Es könne daher - so führte die Vorinstanz willkürfrei aus - angenommen werden, dass (in medizinischer Hinsicht) der "Endzustand" als erreicht gelte. Ausserdem behaupte die Beschwerdeführerin nicht, dass ihre berufliche Situation unsicher sei. Das Obergericht schloss, es sei ihr möglich und zumutbar, sämtliche Schadensposten aus dem über fünfzehn Jahre zurückliegenden Unfall vom 6. März 2005 gegenüber der Beschwerdegegnerin geltend zu machen. In dieser Situation und mit Blick auf die sich gegenseitig tangierenden, aber nur teilweise eingeklagten Ansprüche muss es der Beschwerdegegnerin möglich sein, mittels negativer Feststellungswiderklage auch die anderen aus der gleichen Körperverletzung resultierenden Schadens- und Genugtuungsposten zur Beurteilung zu bringen, zumal fraglich ist, ob die Beschwerdegegnerin ihr Begehren auf negative Feststellung anderweitig rechtshängig machen könnte (Art. 64 Abs. 1 lit. a und Art. 59 Abs. 2 lit. d ZPO; dazu BGE 145 III 299 E. 2.3 und 2.4; vgl. zu dieser Problematik aus dem Schrifttum etwa: BASTONS BULLETTI/HEINZMANN, Teilklage: noch eine Teilantwort des BGer, Newsletter ZPO online, 22. August 2019, Rz. 6c, 7a, 7c und 9; RHINER/WOHLGEMUTH, Besprechung von BGer 4A_29/2019, AJP 2019, S. 1224). 
Dieses Ergebnis ist denn auch konform mit der konstanten bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach die mit einer Teilklage konfrontierte beklagte Partei ein rechtliches Interesse hat, durch Widerklage den Nichtbestand des (gesamten) behaupteten Anspruchs oder des Schuldverhältnisses samt anderer sich daraus ergebender Ansprüche feststellen zu lassen (vgl. BGE 143 III 506 E. 4.3.1 S. 516; Urteil 4A_299/2013 vom 6. November 2019 E. 7.2.2, nicht publ. in: BGE 146 III 14 und insbesondere Urteile 4A_111/2016 vom 24. Juni 2016 E. 4.6; 4A_414/2013 vom 28. Oktober 2013 E. 3.3). 
Dass die negative Feststellungswiderklage in einer solchen Konstellation nur zulässig wäre, wenn die beklagte Partei "in ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit beeinträchtigt" wäre, wie dies die Beschwerdeführerin geltend macht und auch im Schrifttum vertreten wird (HOLGER HÜGEL, Teilklage und negative Feststellungswiderklage, HAVE 2019, S. 416; MARKUS SCHMID, Hohe Hürden für die erfolgreiche Durchsetzung von Haftpflichtansprüchen, HAVE 2021, S. 206), trifft nicht zu. Diese Ansicht übergeht, dass die Erhebung einer (Teil-) Leistungsklage die Anmassung nicht nur des eingeklagten Teilanspruchs selbst, sondern zugleich des gesamten Forderungsrechts als deren notwendige Grundlage bedeutet und deshalb die beklagte Partei in diesem vollen Umfang durch die gegen sie erhobene Klage in ihrer Privatrechtssphäre beeinträchtigt wird. Aus diesem Grund wird ihr die Möglichkeit der Feststellungswiderklage gegeben. Für den Fall der negativen Feststellungswiderklage lässt sich aus der höchstrichterlichen Praxis kein Erfordernis einer "Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit" ableiten. Davon ist die Vorinstanz zu Recht ausgegangen. 
 
3.3. Auch die weitere in der Beschwerde erhobene Kritik stützt sich auf die Prämisse, das Obergericht habe verkannt, dass ein "besonderes Rechtsschutzinteresse" für die Zulässigkeit der negativen Feststellungswiderklage vorauszusetzen sei. Nachdem aber feststeht, dass die Vorinstanz ihren Überlegungen in dieser Hinsicht eine zutreffende Rechtsauffassung zugrunde gelegt hat, ist der Kritik der Boden entzogen. Dies gilt insbesondere für die Rügen, das Obergericht habe Regeln über den Beweis (wie Art. 8 ZGB, Art. 151 ZPO) sowie verschiedene Verfahrensgrundsätze (wie Art. 55 ZPO) und -garantien (wie Art. 29 BV, Art. 6 EMRK, "Waffengleichheit", "Fairness im Verfahren") verletzt und ferner den Sachverhalt unrichtig festgestellt. Auch kann dahingestellt bleiben, ob tatsächlich die Gefahr bestünde, dass die Beschwerdeführerin bei Nichtzulassung der Feststellungswiderklage im Sinne eines "scheibchenweisen" Vorgehens eine "Vielzahl" weiterer Teilklagen betreffend dasselbe Unfallereignis erheben würde, wie dies die Beschwerdegegnerin befürchtet, die Beschwerdeführerin aber in Abrede stellt.  
 
3.4. Zusammengefasst hat das Obergericht zutreffend erkannt, dass die Teilklage der Beschwerdeführerin eine Ungewissheit zur Folge hat, die es rechtfertigt, widerklageweise die Feststellung zu verlangen, dass ihr aus dem Unfallereignis vom 6. März 2005 keine Forderungen zustehen. Die Widerklage war zuzulassen.  
 
4.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten gemäss Art. 66 Abs. 1 BGG der Beschwerdeführerin aufzuerlegen. Der Beschwerdegegnerin, die sich nur zum Gesuch um aufschiebende Wirkung zu äussern hatte und dagegen keine Einwände erhob, ist kein zu entschädigender Aufwand entstanden. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 5'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 7. Oktober 2021 
 
Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Hohl 
 
Der Gerichtsschreiber: Stähle