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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
5A_549/2017  
   
   
 
 
 
Urteil vom 11. September 2017  
 
II. zivilrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter von Werdt, Präsident, 
Bundesrichter Herrmann, Schöbi, 
Gerichtsschreiber Möckli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Roger Groner, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
B.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Lippuner, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Vorsorgliche Massnahme (Ehescheidung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Einzelrichter im Familienrecht, 
vom 19. Juni 2017. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ und B.________ heirateten 2000. Sie haben den gemeinsamen Sohn C.________ (geb. 2000). Sodann adoptierte B.________ die voreheliche Tochter D.________ (geb. 1997) von A.________. Ferner hat er aus früherer Ehe die Kinder E.________ (geb. 1989), F.________ (geb. 1992) und G.________ (geb. 1994). Am 1. August 2013 trennten sich die Parteien. 
 
B.   
Mit Entscheid vom 5. Dezember 2013 regelte das Bezirksgericht Zürich das Getrenntleben und verpflichtete B.________ zu Unterhaltsbeiträgen von je Fr. 1'200.-- (zzgl. Kinderzulagen) für C.________ und D.________ sowie zu Ehegattenunterhalt an A.________ von Fr. 1'080.-- für August und September 2013, von Fr. 1'560.-- von Oktober 2013 bis Januar 2014, von Fr. 3'320.-- für Februar und März 2014 und von Fr. 2'860.-- ab April 2014. 
 
C.   
Am 2. August 2015 reichte B.________ beim Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland die Scheidungsklage ein. 
Am xx.xx.2015 wurde er Vater von H.________, welcher mit seiner Mutter in Deutschland lebt. 
Gestützt hierauf stellte B.________ am 26. November 2015 ein Gesuch um Abänderung der Eheschutzmassnahmen bzw. um Erlass von vorsorglichen Massnahmen mit den Begehren, er sei mit Wirkung ab xx.xx.2015 zu Unterhalt von Fr. 500.-- pro Kind zu verpflichten und der Ehegattenunterhalt sei aufzuheben. Am 3. März 2016 modifizierte er sein Begehren dahingehend, dass er zu Unterhalt von Fr. 785.-- an C.________ zu verpflichten und die Unterhaltsverpflichtungen gegenüber D.________ sowie A.________ aufzuheben seien. 
Mit Entscheid vom 18. April 2016 änderte das Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland den zürcherischen Eheschutzentscheid dahingehend, dass B.________ ab Dezember 2015 zu Unterhaltsbeiträgen an A.________ von Fr. 2'740.-- verpflichtet wurde; im Übrigen wies es das Gesuch ab. 
Gestützt auf dessen Berufung verpflichtete das Kantonsgericht St. Gallen mit Entscheid vom 19. Juni 2017 B.________ zu Unterhaltsbeiträgen an A.________ von Fr. 1'820.-- für Dezember 2015 bis Mai 2016, von Fr. 895.-- für Juni 2016 bis Februar 2017 und von Fr. 1'295.-- ab März 2017 sowie zu Unterhaltsbeiträgen für C.________ von Fr. 1'360.-- für Dezember 2015 bis Mai 2016, von Fr. 1'590.-- für Juni 2016 bis Februar 2017 und von Fr. 1'790.-- ab März 2017. 
 
D.   
Gegen diesen Entscheid hat A.________ am 19. Juli 2017 eine Beschwerde eingereicht mit den Begehren um Aufhebung der Unterhaltsziffern des angefochtenen Entscheides, eventualiter um diesbezügliche Rückweisung an das Kantonsgericht und subeventualiter um Verpflichtung von B.________ zu ehelichem Unterhalt von Fr. 1'595.-- während sechs Monaten ab dem bundesgerichtlichen Urteil. Ferner verlangt sie die aufschiebende Wirkung und einen Prozesskostenvorschuss durch B.________ von Fr. 3'000.--, eventualiter die unentgeltliche Rechtspflege. Mit Vernehmlassung vom 29. August 2017 verlangt B.________ die Abweisung der Beschwerde und des Gesuches um aufschiebende Wirkung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Eheschutzentscheid; dagegen steht die Beschwerde in Zivilsachen offen (Art. 72 Abs. 1, Art. 75 Abs. 2 und Art. 90 BGG). 
Bei Eheschutzentscheiden handelt es sich um vorsorgliche Massnahmen im Sinn von Art. 98 BGG (BGE 133 III 393 E. 5.1 S. 397; Urteile 5A_705/2013 vom 29. Juli 2014 E. 1.2; 5A_746/2014 vom 30. April 2015 E. 1.1), so dass nur die Rüge der Verletzung verfassungsmässiger Rechte möglich ist, wofür das strenge Rügeprinzip gemäss Art. 106Abs. 2 BGG gilt. 
 
2.   
Das Kreisgericht ging davon aus, mit Ausnahme der Tatsache, dass der Beschwerdeführer erneut Vater geworden sei, habe sich gegenüber dem Eheschutzentscheid nichts geändert; insbesondere sei der Beschwerdeführerin nicht vorsorglich eine Erhöhung des im Eheschutzentscheid hypothetisch festgesetzten Einkommens von Fr. 2'500.--, welches mit dem aktuellen Einkommen von Fr. 2'430.-- nur knapp erreicht sei, zuzumuten, sondern diese Frage sei vielmehr im hängigen Scheidungsverfahren zu prüfen. 
Das Kantonsgericht hat befunden, dass D.________ bei Klageeinleitung bereits volljährig gewesen sei, weshalb für die Prüfung ihres Unterhaltsanspruches die Prozessführung in eigenem Namen erforderlich sei. Bei deren Anhörung habe sich aber ergeben, dass sie bei der Mutter wohne und nicht in Ausbildung stehe. Sodann hat das Kantonsgericht befunden, dass die Beschwerdeführerin seit Juni 2016, als C.________ 16-jährig geworden sei, einem Vollzeiterwerb nachgehen könnte, zumal er als Gymnasiast tagsüber keiner Betreuung bedürfe. Sie habe an der Universität Peking Elektrotechnik studiert und einen Deutschkurs besucht. Aufgrund ihres Alters, ihrer guten Gesundheit und der bereits drei Jahre zurückliegenden Trennung sowie ihrer guten bis sehr guten Deutschkenntnisse sei eine Erwerbstätigkeit von 100 % zumutbar. Weil es allerdings einfacher sei, die jetzige Anstellung auszubauen oder mit einer weiteren zu ergänzen als eine völlig neue Stelle zu suchen, sei ihr ein Arbeitspensum von bloss 80 % anzurechnen. Im Eheschutzentscheid sei für 50 % ein Nettoeinkommen von Fr. 2'500.-- angenommen worden und der aktuelle Verdienst (bei einem betreffenden Pensum) betrage Fr. 2'430.90; sodann habe ihr Einkommen bei der I.________ AG für eine Tätigkeit von 50 % im Durchschnitt Fr. 2'100.-- betragen. Insgesamt sei ihr deshalb ein hypothetisches Einkommen von Fr. 4'000.-- auf einer Basis von 80 % anzurechnen, und zwar rückwirkend ab Juni 2016. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hält die kantonsgerichtliche Betrachtungsweise - die Erhöhung ihres hypothetischen Einkommens, insbesondere die rückwirkende Erhöhung - für willkürlich. Sie macht geltend, dass sich seit dem Eheschutzentscheid nichts Relevantes verändert habe und der blosse Zeitablauf keine Erhöhung ihres Arbeitspensums zumutbar mache, denn das Abänderungs- bzw. Massnahmeverfahren diene nicht zur Neubeurteilung der Trennung. Im Übrigen sei die Erhöhung des Arbeitspensums während der Trennung auch angesichts der langjährigen Ehe mit zwei Kindern, ihrer langen Berufspause von 15 Jahren sowie ihres fortgeschrittenen Alters von 47 Jahren nicht zumutbar. Zudem sei es ihr objektiv gar nicht möglich, Fr. 4'000.-- zu verdienen; sie spreche nur gebrochen Deutsch und könne ihr heutiges Pensum als Verkäuferin nicht aufstocken. Schliesslich müsste ihr fairerweise eine angemessene Übergangszeit zur Aufstockung des Erwerbspensums gegeben werden; die rückwirkende Anrechnung eines hypothetischen Einkommens sei nicht statthaft. 
Der Beschwerdegegner ist der Ansicht, dass die Beschwerdeführerin seit dem Zeitpunkt, in welchem C.________ 16-jährig geworden sei, grundsätzlich einem Vollzeiterwerb nachgehen müsse. Diesbezüglich lägen veränderte Verhältnisse vor und die Beschwerdeführerin wisse dies seit langem, weshalb auch keine Übergangsfrist nötig sei. Der angefochtene Entscheid sei keinesfalls willkürlich. 
 
4.   
Vorliegend geht es nicht um die erstmalige Festsetzung von Unterhalt, sondern um die Frage, ob und inwieweit die im Eheschutzentscheid vom 5. Dezember 2013 getroffene Unterhaltsregelung abzuändern ist. Eheschutzentscheide wirken grundsätzlich auch in den Zeitraum des hängigen Scheidungsverfahrens hinein, soweit sie nicht durch vorsorgliche Massnahmen im Rahmen des Scheidungsverfahrens ersetzt werden. Für die Abänderung von Eheschutzmassnahmen durch vorsorgliche Massnahmen gelten die gleichen Voraussetzungen wie für die Abänderung von Eheschutzmassnahmen durch einen neuen Eheschutzentscheid (vgl. Verweis auf Art. 179 ZGB in Art. 276 Abs. 1 ZPO; BGE 141 III 376 E. 3.3.1 S. 378). Vorausgesetzt ist mithin, dass eine wesentliche und dauernde Änderung eingetreten ist, denn der neue Entscheid dient nicht dazu, das frühere Urteil zu korrigieren, sondern dieses den neu eingetretenen Umständen anzupassen (BGE 137 III 604 E. 4.1.1 S. 606). Eine Abänderung ist ferner möglich, wenn die tatsächlichen Umstände, die dem Massnahmeentscheid zu Grunde lagen, sich nachträglich als unrichtig erwiesen haben, oder wenn sich der Entscheid nachträglich im Ergebnis als nicht gerechtfertigt herausstellt, weil dem Gericht die Tatsachen nicht zuverlässig bekannt waren; in allen anderen Fällen aber steht die formelle Rechtskraft des Eheschutzentscheides einer Abänderung entgegen (BGE 141 III 376 E. 3.3.1 S. 378; Analoges gilt übrigens für den nachehelichen Unterhalt: BGE 131 III 189 E. 2.7.4 S. 199; 138 III 289 E. 11.1.1 S. 292). 
Spezifisch für die Ausweitung einer bestehenden Erwerbstätigkeit ist ferner zu beachten, dass dies grundsätzlich nur für die Zukunft - d.h. ab Eintritt der formellen Rechtskraft des Abänderungsentscheides - möglich (Urteile 5A_274/2015 vom 25. August 2015 E. 3.5; 5A_501/2015 vom 12. Januar 2016 E. 4.1) und im Übrigen auch eine angemessene Übergangsfrist einzuräumen ist, die sich nach den Umständen des Einzelfalles richtet (dazu BGE 114 II 13 E. 5 S. 17; 129 III 417 E. 2.2 S. 421). Allerdings muss ein von diesen Grundsätzen abweichender Entscheid nicht zwangsläufig bundesrechtswidrig sein; je nach den konkreten Gegebenheiten ist etwa von Bedeutung, ob die geforderte Umstellung für die betroffene Person voraussehbar war (Urteile 5A_636/2013 vom 21. Februar 2014 E. 5.1; 5A_184/2015 vom 22. Januar 2016 E. 3.2). Die Abweichung vom Grundsatz erfordert allerdings spezielle Gründe, welche im Entscheid näher auszuführen sind (BGE 111 II 103 E. 4 S. 107 f; Urteile 5A_274/2015 vom 25. August 2015 E. 3.5; 5A_501/2015 vom 12. Januar 2016 E. 4.1). 
 
5.   
Für den vorliegenden Fall ergibt sich, dass der zürcherische Eheschutzentscheid rund 2½ Jahre, bevor C.________ 16-jährig wurde, erging. Der Eintritt dieses Ereignisses war auf den Tag genau voraussehbar. Dennoch wurde der Beschwerdeführerin auch für die Zeit danach kein höheres Erwerbspensum als 50 % zugemutet und der Beschwerdegegner hat gegen den Eheschutzentscheid kein Rechtsmittel ergriffen. Vor diesem Hintergrund erweist es sich angesichts des in E. 4 Gesagten als willkürlich, wenn das Kantonsgericht davon ausgeht, die Beschwerdeführerin wäre verpflichtet gewesen, ab dem Zeitpunkt, als C.________ 16-jährig wurde, von sich aus einem Vollzeiterwerb nachzugehen, und es ihr rückwirkend auf diesen Zeitpunkt den Unterhaltsbeitrag kürzt. Die Beschwerdeführerin hatte mit dem relativ kurz vorher ergangenen Eheschutzentscheid eine Vertrauensbasis und im Übrigen (entgegen dem Vorbringen des Beschwerdegegners) auch aufgrund des hängigen Gesuches um vorsorgliche Massnahmen keine Veranlassung, einseitig und vorauseilend die Erwerbstätigkeit auszuweiten, um ein mögliches Resultat in Bezug auf die im Streit liegende Frage vorwegzunehmen. 
 
6.   
Der angefochtene Entscheid erweist sich als willkürlich und die Sache ist zu einer neuen Entscheidung an das Kantonsgericht zurückzuweisen, welche vor dem Willkürverbot standhält. Je nach Ausgang der neuen Entscheidung werden die weiteren Willkürrügen, welche sich auf die Bemessung des Existenzminimums der Beschwerdeführerin beziehen, gegenstandslos. Soweit dies nicht der Fall sein sollte, könnten sie ohne Schaden in einer erneuten Beschwerde erhoben werden. 
 
7.   
Angesichts des Verfahrensausgangs ist der Beschwerdegegner kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG). Damit wird das Gesuch um Prozesskostenvorschuss ebenso gegenstandslos wie das subsidiäre Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Mit dem Entscheid in der Sache wird ferner auch das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird dahingehend gutgeheissen, dass der Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen vom 19. Juni 2017 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung im Sinn der Erwägungen an das Kantonsgericht zurückgewiesen wird. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.   
Der Beschwerdegegner hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen, Einzelrichter im Familienrecht, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 11. September 2017 
 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: von Werdt 
 
Der Gerichtsschreiber: Möckli