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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_389/2020  
 
 
Urteil vom 1. Oktober 2021  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch SWICA Versicherungen AG, Rechtsdienst, Römerstrasse 38, 8401 Winterthur, 
und diese substituiert durch Herr Daniel Staffelbach und/oder Frau Regula Fellner Rechtsanwälte, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Sozialversicherungsamt des Kantons Schaffhausen, Oberstadt 9, 8200 Schaffhausen, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Krankenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 5. Mai 2020 (62/2019/12). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1968 geborene, in Deutschland wohnhafte und im Kanton Schaffhausen erwerbstätige deutsche Staatsangehörige A.________ verfügte seit dem 4. November 2013 über eine Grenzgängerbewilligung G. Am 9. Dezember 2013 gelangte sie an das Sozialversicherungsamt des Kantons Schaffhausen (nachfolgend: SVA) und ersuchte um Befreiung von der obligatorischen Krankenversicherungspflicht in der Schweiz. Mit Verfügung vom 12. Dezember 2013 hiess die Verwaltung das Gesuch gut. 
In diesem Zeitpunkt war A.________ bei der Deutschen Krankenversicherung AG (DKV) für Zahnbehandlungen, stationäre Behandlungen und ambulante Pflege sowie bei der Sympany Versicherungen AG (nachfolgend: Sympany) krankenpflegeversichert. In der Folge wechselte sie zur SWICA Gesundheitsorganisation (nachfolgend: SWICA) und schloss das VVG-Versicherungsmodell Mondial ab. Am 30. April 2018 kam A.________ auf ihr Gesuch vom 9. Dezember 2013 zurück und verlangte, in die schweizerische Krankenpflegeversicherung aufgenommen zu werden, weil das von ihr gewählte Versicherungsprodukt gemäss Mitteilung der SWICA per Ende Dezember 2016 eingestellt worden sei. Das SVA wies diesen Antrag mit Verfügung vom 5. Juli 2018 ab, da das zwischen der Schweiz und Deutschland vereinbarte Wahlrecht grundsätzlich unwiderruflich sei. A.________ verbleibe aber die Möglichkeit, zu einer deutschen privaten Krankenpflegeversicherung zu wechseln. Daran hielt die Verwaltung mit Einspracheentscheid vom 1. Juli 2019 fest. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Entscheid vom 5. Mai 2020 ab. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sowie des Einspracheentscheides vom 1. Juli 2019 sei das SVA anzuweisen, das Gesuch um Beitritt zur schweizerischen obligatorischen Krankenpflegeversicherung gutzuheissen; eventualiter sei die Verfügung vom 12. Dezember 2013 in Wiedererwägung zu ziehen und die Versicherungspflicht festzustellen. 
Das SVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
Am 26. August 2021 lässt A.________ eine weitere Eingabe einreichen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Es steht fest, dass die Beschwerdeführerin grundsätzlich in der Schweiz versicherungspflichtig ist, jedoch bisher rechtskräftig vom schweizerischen Krankenpflegeversicherungsobligatorium befreit war (Verfügung vom 12. Dezember 2013). 
Streitig und zu prüfen ist, ob aufgrund der Einstellung des VVG-Versicherungsmodells Mondial durch die SWICA eine nochmalige Ausübung des Optionsrechts zulässig ist. 
 
2.1. Die Vorinstanz hat diesbezüglich im Wesentlichen erwogen, der Widerruf einer einmal erteilten Befreiung von der Versicherungspflicht in der Schweiz sei zwar nicht absolut ausgeschlossen. Indessen begründe allein der Umstand, dass das Versicherungsmodell Mondial von der Beschwerdegegnerin eingestellt worden sei, keinen Anspruch, auf die erteilte Versicherungsbefreiung zurückzukommen und den Anschluss an die schweizerische obligatorische Krankenpflegeversicherung zu ermöglichen. Der Widerruf der Befreiung dürfe denn auch nicht leichthin zugelassen werden, sondern sei nur bei schwerwiegenden, zu Lasten der versicherten Person gehenden und von dieser unverschuldeten Folgen möglich. Solche zeitige die Einstellung des SWICA-Versicherungsmodells Mondial jedoch nicht. Insbesondere könne nicht auf den Verlust des Versicherungsschutzes im Wohnstaat geschlossen werden, solange sich eine Grenzgängerin oder ein Grenzgänger dort einer (anderen) privaten Krankenpflegeversicherung anschliessen könne.  
 
2.2. Die Beschwerdeführerin vertritt demgegenüber in der Hauptsache die Auffassung, die Ausübung des Optionsrechts gemäss Art. 2 Abs. 6 KVV sei frei widerruflich. Sodann macht sie im Sinn einer Eventualbegründung geltend, das Optionsrecht sei relativ unwiderruflichen Charakters. Nachdem sie ihre Versicherungsdeckung unverschuldet verloren habe, liege ein besonderer Grund vor, weshalb die Novation des Optionsrechts ausnahmsweise zugelassen werden müsse. Subeventualiter wird in der Beschwerde schliesslich vorgebracht, das Gesuch um Beitritt zur obligatorischen schweizerischen Krankenpflegeversicherung sei aufgrund des Vertrauensschutzes zu bewilligen, weil von behördlicher Seite her kein Hinweis erfolgt sei, dass das einmal ausgeübte Optionsrecht als absolut unwiderruflich gelte. Abgesehen davon erweise sich die Verfügung vom 12. Dezember 2013 als zweifellos unrichtig, da das SVA dannzumal die Befreiung von der Versicherungspflicht gewährt habe, obschon mit der Sympany ein schweizerisches Versicherungsunternehmen und nicht ein Versicherer im ausländischen Wohnsitzstaat die Deckung gegeben habe. Somit lägen sämtliche Voraussetzung für eine Wiedererwägung vor.  
 
3.  
 
3.1. Im Urteil 9C_30/2020 vom 14. Juni 2021 (zur Publikation vorgesehen) hat das Bundesgericht ein Zurückkommen auf den getroffenen Optionsentscheid im vorliegend interessierenden Kontext umfassend geprüft. Gemäss dessen Erwägung 7 gilt das von deutschen Grenzgängern in der Schweiz ausgeübte Optionsrecht als relativ widerruflich, wenn die eingetretene Veränderung für das Versicherungsverhältnis erheblich ist. Es sind die jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse im konkreten Einzelfall massgeblich. Der betroffene deutsche Grenzgänger war im Zeitpunkt der Befreiung vom schweizerischen Krankenpflegeversicherungsobligatorium allein dem von der SWICA angebotenen VVG-Versicherungsprodukt Mondial unterstellt. Mit der Einstellung dieses Versicherungsmodells per 31. Dezember 2016 entfiel der Versicherungsschutz. Die betreffende Veränderung sah das Bundesgericht als erheblich an, weil damit insbesondere eine der Hauptvoraussetzungen für die ursprüngliche Ausübung der Option, nämlich der Nachweis einer hinreichenden alternativen Deckung für den Krankheitsfall, nicht mehr gegeben war (vgl. Anhang II Abschnitt A Ziff. 1/i/3/b des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen [FZA; SR 0.142.112.681]) sowie Art. 2 Abs. 6 KVV [SR 832.102]). Davon ausgehend ist eine erneute Optierung zulässig, sofern die versicherte Person auf den Wegfall ihrer (alternativen) Versicherung keinen Einfluss hatte. Würde ihr in dieser Situation - Wegfall der Versicherungsdeckung durch Aufhebung des VVG-Versicherungsmodells Mondial - die erneute Ausübung des Optionsrechts verwehrt, so bliebe offen, ob sie weiterhin Zugang zu einer alternativen (mutmasslich viel teureren) vergleichbaren Versicherungslösung in ihrem Heimatland hätte, wodurch sie für den Krankheitsfall in der Schweiz und in Deutschland gleichwertig versichert wäre. Damit bestünde ein erhöhtes Risiko der Unter- oder Nichtversicherung, welches durch die Regelungen von FZA Anhang II Abschnitt A Ziff. 1/i/3/b, bzw. der gleich lautenden Verordnung Nr. 883/2004 Anhang XI (Schweiz) Ziff. 3 lit. b, sowie von Art. 2 Abs. 6 KVV mit dem Nachweis der genügenden Deckung bei Ausübung der Option gerade vermieden werden soll. Vor diesem Hintergrund ist der unverschuldete Verlust der Krankenversicherungsdeckung durch Einstellung des VVG-Versicherungsprodukts Mondial als besonderer Grund zu berücksichtigen, welcher eine erneute Optierung bzw. das Zurückkommen auf den Optionsentscheid zulässt.  
 
3.2. Nachdem hier eine identische Sach- und Rechtslage besteht, sind dieselben Überlegungen relevant. Demnach ist auch im Fall der Beschwerdeführerin, welche als deutsche Grenzgängerin im Kanton Schaffhausen arbeitet, davon auszugehen, dass der Verlust der Krankenversicherungsdeckung durch Einstellung des VVG-Versicherungspodukts Mondial per Ende 2016 einen besonderen Grund darstellt, welcher ein erneutes Wahlrecht ermöglicht. Nachdem ein Verschulden am Verlust der Versicherungsdeckung nicht zur Diskussion steht, hat dies in Anbetracht des soeben erwähnten Urteils zur Folge, dass der Beschwerdeführerin der Beitritt zum schweizerischen Krankenversicherungsobligatorium ohne Weiteres zu gewähren ist. Fragen zum Vertrauensschutz stellen sich bei diesem Resultat keine. Ebenso erübrigen sich Weiterungen betreffend eine allfällige Wiedererwägung (vgl. Art. 53 Abs. 2 ATSG) der Verfügung vom 12. Dezember 2013. Die Beschwerde ist begründet.  
 
 
4.  
Der unterliegende Beschwerdegegner hat in diesem Verfahren nicht im eigenen Vermögensinteresse gehandelt; er trägt daher keine Kosten (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Beschwerdegegner hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 5. Mai 2020 und der Einspracheentscheid des Sozialversicherungsamtes des Kantons Schaffhausen vom 1. Juli 2019 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin Anspruch hat, in die schweizerische obligatorische Krankenpflegeversicherung aufgenommen zu werden. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Beschwerdegegner hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Obergericht des Kantons Schaffhausen zurückgewiesen. 
 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 1. Oktober 2021 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder