Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
Urteilskopf

120 Ia 31


4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 26. April 1994 i.S. M. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht (Strafabteilung) des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 6 Ziff. 2 EMRK und Art. 4 BV; Grundsatz "in dubio pro reo"; Bedeutung der Maxime bei der Feststellung der Täterschaft des Angeklagten (Präzisierung der Rechtsprechung).
Rechtsgrundlage der Maxime "in dubio pro reo" (E. 2b).
Inhalt und Tragweite des Grundsatzes (E. 2c).
Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts (E. 2d).

Sachverhalt ab Seite 31

BGE 120 Ia 31 S. 31
Der aus Jugoslawien stammende M. reiste am 8. November 1991 in die Schweiz ein und hielt sich während einiger Wochen bei Verwandten
BGE 120 Ia 31 S. 32
in Holziken und Olten auf. Am 4. Dezember 1991 wurde er bei seiner Ausreise aus der Schweiz auf dem Flughafen Zürich-Kloten wegen Verdachts der Hehlerei verhaftet. Im Bezirksgefängnis Zofingen, wo M. inhaftiert war, sah ihn Ende Dezember 1991 zufällig die Untersuchungsgefangene K., welche daraufhin gegenüber einem Gefängniswärter erklärte, sie erkenne M. als jenen Mann wieder, der auf dem Platzspitzareal in Zürich Heroin verkauft habe. Bei ihrer Befragung vom 30. Dezember 1991 durch die Kantonspolizei Aargau bestätigte sie ihre Angaben und räumte ein, selber von M. Heroin gekauft zu haben. Dieser bestritt die gegen ihn erhobenen Vorwürfe vollumfänglich. Das Bezirksgericht Bremgarten verurteilte M. am 16. März 1993 wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie wegen Hehlerei zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren und einer Busse von Fr. 1'000.--; ausserdem verwies es ihn für zehn Jahre des Landes. Gegen dieses Urteil legte M. beim Obergericht des Kantons Aargau Berufung ein. Nachdem M. und die Staatsanwaltschaft auf die Durchführung einer Berufungsverhandlung verzichtet hatten, entschied das Obergericht am 21. August 1993 aufgrund der Akten über die Berufung. Es fand M. der Hehlerei und der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig, doch sprach es ihn vom Vorwurf des banden- und gewerbsmässigen Handelns frei. Das Obergericht bestrafte M. mit zwei Jahren Zuchthaus und strich die vom Bezirksgericht ausgefällte Busse. In den übrigen Punkten bestätigte es den erstinstanzlichen Entscheid.
Gegen das Urteil des Aargauer Obergerichts erhob M. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Art. 4 BV und 6 Ziff. 2 EMRK. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Die Beschwerde richtet sich einzig dagegen, dass das Obergericht den Beschwerdeführer der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig gesprochen hat. Es stützte sich bei diesem Schuldspruch auf die Aussagen der Zeugen K. und W. Das Obergericht führte aus, die Aussagen der Zeugin K. seien zwar zum Teil widersprüchlich. Die Grundaussage, wonach sie den Beschwerdeführer mehrmals habe Drogen verkaufen sehen, erscheine indessen glaubhaft; daran vermöge auch die negative Äusserung der Zeugin über ausländische Drogenhändler nichts zu ändern. Dieser Befund werde durch die Aussagen des Zeugen W. gestützt. Dass dessen
BGE 120 Ia 31 S. 33
zeitliche Angaben unzuverlässig seien und dass sich Widersprüche zu den Aussagen der Zeugin K. ergäben, sei unerheblich. Diese Zeugen hätten vor Bezirksgericht beide einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Das treffe zwar auch für die Entlastungszeugin G. zu, doch schlössen deren Aussagen eine Drogenhändlertätigkeit des Beschwerdeführers nicht aus. Die Aussagen der Entlastungszeugin J. seien unglaubwürdig. Diese Zeugin sei mit der Familie des Beschwerdeführers eng verbunden, habe offenbar zu Unrecht vorgegeben, sie sei die leibliche Tochter des Beschwerdeführers, und habe ihre Eltern zu falschen Aussagen gegenüber der Polizei veranlasst. Nicht abgestellt werden könne schliesslich auf die Bestreitungen des Beschwerdeführers, der rundweg alle Vorwürfe in Abrede gestellt und im gesamten Verfahren ständig gelogen habe.
Der Beschwerdeführer macht unter Berufung auf die Art. 4 BV und 6 Ziff. 2 EMRK geltend, der Schuldspruch des Obergerichts beruhe auf einer willkürlichen Würdigung der Beweise und verstosse gegen den Grundsatz "im Zweifel zugunsten des Angeklagten" (in dubio pro reo).

2. Bevor auf die einzelnen Rügen des Beschwerdeführers einzugehen ist, sind einige allgemeine Erwägungen zur Maxime "in dubio pro reo" anzustellen.
a) Das Bundesgericht führte in einem unveröffentlichten Urteil vom 29. August 1967 aus, der Grundsatz "in dubio pro reo" betreffe sowohl die Verteilung der Beweislast als auch die Würdigung der Beweise. Als Beweislastregel bedeute er, dass der Richter den Angeklagten freisprechen müsse, wenn er nicht sämtliche schuld- und strafbegründenden Tatsachen für nachgewiesen erachte. Als Beweiswürdigungsregel besage die Maxime, dass sich der Richter nicht von einem Sachverhalt überzeugt erklären dürfe, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und unüberwindliche Zweifel bestehen blieben, ob sich der Sachverhalt verwirklicht habe. In den publizierten Entscheiden hat das Bundesgericht die Maxime hingegen bis ins Jahr 1980 stets nur als Beweiswürdigungsregel bezeichnet (BGE 69 IV 152 E. 1; BGE 78 IV 125f. E. 2; BGE 83 IV 205 E. 2; BGE 100 IV 269 E. 1; BGE 104 IV 279 f.; BGE 105 IV 325 E. 3; BGE 106 IV 21 E. 1a). Erst in einem Urteil vom 31. März 1980 (BGE 106 IV 85) wies es darauf hin, dass sie auch als Beweislastregel verstanden werden könnte. Zur Rechtsgrundlage und Tragweite der Maxime "in dubio pro reo" erklärte das Bundesgericht, sie sei kein Satz des Bundesrechts im Sinne von Art. 269 Abs. 1 BStP (SR 312.0), dessen
BGE 120 Ia 31 S. 34
Verletzung mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde gerügt werden könne. Die Maxime sei auch kein Grundsatz des Bundesverfassungsrechts, sondern gehöre dem kantonalen Prozessrecht an. Sie gehe nicht weiter als das aus Art. 4 BV abgeleitete Verbot willkürlicher Beweiswürdigung, dessen Missachtung mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend gemacht werden könne (BGE 69 IV 151f.; 74 IV 145; BGE 75 IV 6, 155; BGE 78 IV 125f.; BGE 96 I 444; BGE 100 IV 269 E. 1; BGE 105 IV 269 E. 5, 325 E. 3; BGE 106 IV 21 E. 1a, 86; BGE 107 IV 191 E. 3d). Im erwähnten Urteil aus dem Jahre 1980 (BGE 106 IV 88 f. E. 2b/bb) wurde erklärt, der Grundsatz folge aus der in Art. 6 Ziff. 2 EMRK gewährleisteten Unschuldsvermutung.
Der Kassationshof des Bundesgerichts nahm in seinem (ursprünglich zur Publikation bestimmten) Urteil vom 6. November 1991 i.S. A. (6S.279/1991) an, der Grundsatz "in dubio pro reo" betreffe nicht auch die Beweiswürdigung, sondern allein die Beweislast. Er sei eine Entscheidungsregel, ein Rechtssatz, der erst nach abgeschlossener Beweiswürdigung eingreife. Die Maxime sei nicht dann verletzt, wenn der Sachrichter nicht zweifle, obschon er nach den gesamten Umständen hätte zweifeln müssen, sondern dann, wenn er trotz tatsächlich vorhandener Zweifel den Angeschuldigten verurteile. Der Kassationshof hat im zitierten Entscheid die Maxime "in dubio pro reo", wonach der Sachrichter den Angeschuldigten freisprechen müsse, wenn er Zweifel an dessen Schuld nicht überwinden könne, von dessen Schuld also nicht überzeugt sei, als fundamentalen Rechtsgrundsatz bezeichnet. Die Maxime sei dem Verfassungsrecht zuzuordnen und ihre Verletzung daher mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügen. Dafür spreche, dass sich der Grundsatz "in dubio pro reo" auch aus Art. 6 Ziff. 2 EMRK ergebe. Bei der Entscheidung der Frage, ob der kantonale Richter Inhalt und Tragweite der Maxime richtig erkannt habe, komme dem Bundesgericht, anders als bei der Überprüfung der Beweiswürdigung, freie Kognition zu.
Mit diesem Urteil wich der Kassationshof von den Entscheiden der I. öffentlichrechtlichen Abteilung ab, welche bisher davon ausging, die Maxime "in dubio pro reo" sei nur eine Beweiswürdigungsregel (unveröffentlichte Urteile vom 19. Juli 1989 i.S. Z., vom 8. September 1988 i.S. M., vom 16. April 1986 i.S. J. und vom 9. Januar 1985 i.S. V.). Wegen dieser Divergenz wurde auf die Publikation des vom Kassationshof gefällten Entscheids verzichtet und in Anwendung von Art. 16 OG ein Meinungsaustausch zwischen den beiden Abteilungen durchgeführt.
BGE 120 Ia 31 S. 35
Der Meinungsaustausch beschränkte sich auf die Frage, welche Bedeutung dem Grundsatz "in dubio pro reo" in den Fällen zukommt, in denen es um die Feststellung des Sachverhalts im Strafverfahren geht, und zwar um die Feststellung der Täterschaft des Angeklagten. Er führte zu folgendem Ergebnis:
b) Zunächst ist abzuklären, welches die Rechtsgrundlage des Prinzips "im Zweifel zugunsten des Angeklagten" ist. Wenn in einer Strafsache der Ablauf des tatsächlichen Geschehens zweifelhaft ist, muss der Strafrichter seinem Urteil die Annahme zugrunde legen, die für den Angeklagten die günstigere ist. Wenn der Strafrichter dagegen zweifelt, wie eine Tat nach dem Strafgesetz rechtlich zu qualifizieren ist, hat er gestützt auf das materielle Strafrecht zu entscheiden und nicht aufgrund der genannten Maxime die für den Angeklagten günstigere Lösung zu wählen. Als für die Feststellung des Sachverhalts massgebliche Regel gehört der Grundsatz "im Zweifel zugunsten des Angeklagten" somit nicht dem materiellen Strafrecht an (anderer Ansicht: GUNTHER ARZT, In dubio pro reo vor Bundesgericht, ZBJV 129/1993, S. 8 ff.).
Der Grundsatz "in dubio pro reo" folgt aus Art. 6 Ziff. 2 EMRK. Nach dieser Regel wird bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld vermutet, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist. Das Prinzip "in dubio pro reo" ist ein Aspekt dieser in Art. 6 Ziff. 2 EMRK enthaltenen Garantie der Unschuldsvermutung (BGE 106 IV 88 f. E. 2b/bb; Urteil des Kassationshofs vom 6. November 1991 i.S. A.). Urteilt der Strafrichter im Zweifel zuungunsten des Angeklagten, verletzt er den Grundsatz, dass die Vermutung für die Unschuld des Angeklagten spricht.
Die Maxime "im Zweifel zugunsten des Angeklagten" findet ihre Grundlage auch in Art. 4 BV (in diesem Sinn: PETER NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, Zürich 1981, S. 41, und MARC FORSTER, Die Bundesgerichtspraxis zur strafrechtlichen Unschuldsvermutung - Marschhalt oder Ende einer Odyssee? ZBJV 129/1993, S. 430). Diese Verfassungsvorschrift gewährleistet grundlegende, für verschiedene Verfahrensarten geltende Garantien, und da es sich bei der Maxime "in dubio pro reo" um ein grundlegendes Prinzip des Strafprozessrechts handelt, drängt es sich auf, auch für diese Garantie die rechtliche Grundlage in Art. 4 BV zu erblicken. Es kann in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass das Bundesgericht für den Bereich des kantonalen Rechts sowohl den Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz", den der eidgenössische Gesetzgeber in Art. 1 StGB festgelegt hat, wie auch die ebenfalls im eidgenössischen
BGE 120 Ia 31 S. 36
Strafrecht enthaltene Regel, dass niemand wegen der gleichen Straftat zweimal verfolgt werden darf ("ne bis in idem"), aus Art. 4 BV hergeleitet hat (BGE 112 Ia 112 E. 3a; 116 IV 264 f., je mit Hinweisen).
Aus diesen Ausführungen ergibt sich, mit welchem Rechtsmittel eine Verletzung des Grundsatzes "im Zweifel zugunsten des Angeklagten" beim Bundesgericht geltend zu machen ist. Da er keine Regel des Bundesstrafrechts und damit keine solche des "eidgenössischen Rechts" im Sinne von Art. 269 Abs. 1 BStP darstellt, ist die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen ausgeschlossen. Wer sich beim Bundesgericht über eine Verletzung der Maxime beklagen will, muss staatsrechtliche Beschwerde einlegen, unbekümmert darum, ob er sich auf Art. 6 Ziff. 2 EMRK oder auf die Bundesverfassung stützt. Die in Art. 6 Ziff. 2 EMRK garantierten Rechte haben einen verfassungsrechtlichen Inhalt, was zur Folge hat, dass auch die unmittelbare Verletzung dieser Konventionsbestimmung mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügen ist (BGE 112 IV 138 f.; 106 IV 86 ff.; 101 Ia 69 E. 2c).
c) Es ist in Übereinstimmung mit der herrschenden schweizerischen Lehre davon auszugehen, dass der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" sowohl die Verteilung der Beweislast als auch die Würdigung der Beweise betrifft (STEFAN TRECHSEL, Struktur und Vermutung der Schuldlosigkeit, SJZ 77/1981, S. 320; CLAUDE ROUILLER, La protection de l'individu contre l'arbitraire de l'Etat, ZSR 106/1987 II, S. 312; NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 2.A., Zürich 1993, N. 295; ROBERT HAUSER, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2.A., Basel 1984, S. 148 f.; BERNARD CORBOZ, In dubio pro reo, ZBJV 129/1993, S. 415 ff.; FORSTER, a.a.O., S. 430 f.; GÉRARD PIQUEREZ, Précis de procédure pénale suisse, Lausanne 1987, N. 855; ROBERT ROTH, Variations sur le thème in dubio pro reo, SJ 115/1993, S. 519; anderer Auffassung WILLY HOCHULI, In dubio pro reo, SJZ 50/1954, S. 249 ff., und JÜRG MÜLLER, Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung im Strafprozess, Diss. Zürich 1992, S. 96 ff., die den Grundsatz "in dubio pro reo" als eine Entscheidungsregel verstehen, welche erst nach abgeschlossener Beweiswürdigung eingreift und diese nicht betrifft). Das entspricht auch der Praxis der Europäischen Menschenrechtskommission, die in Art. 6 Ziff. 2 EMRK eine für Beweislast und Beweiswürdigung massgebende Regel sieht (VOGLER, Internationaler Kommentar zur EMRK, Rz. 405 ff. und 414 ff. zu Art. 6). Wie mit Recht gesagt wird, würde Art. 6 Ziff. 2 EMRK in seinem Wesensgehalt in unzulässiger Art
BGE 120 Ia 31 S. 37
geschmälert, wenn man annähme, er beziehe sich nur auf die Beweislast (FORSTER, a.a.O., S. 433).
Als Beweiswürdigungsregel besagt "in dubio pro reo", dass sich der Strafrichter nicht von der Existenz eines für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Die Maxime ist verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des Angeklagten hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Es muss sich um erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln, d.h. um solche, die sich nach der objektiven Sachlage aufdrängen (HAUSER, a.a.O., S. 148). Wenn im folgenden von Zweifeln die Rede ist, sind immer solche erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel gemeint.
Als Beweislastregel bedeutet die Maxime, dass es Sache der Anklagebehörde ist, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, und nicht dieser seine Unschuld nachweisen muss. Die Maxime ist verletzt, wenn der Strafrichter einen Angeklagten mit der Begründung verurteilt, er habe seine Unschuld nicht nachgewiesen. Solche Fälle, in denen der Richter seinen Schuldspruch ausdrücklich auf die Erwägung stützt, der Angeklagte habe seine Schuldlosigkeit nicht bewiesen, kommen in der Praxis nur selten vor. Der Satz "in dubio pro reo" ist aber auch dann verletzt, wenn sich aus der Begründung des Urteils ergibt, dass der Strafrichter von der falschen Meinung ausging, der Angeklagte habe seine Unschuld zu beweisen, und dass er ihn verurteilte, weil ihm dieser Beweis misslang.
Im übrigen hat sich jedes Strafurteil an die Grundsätze zu halten, welche aus Art. 4 BV für die Begründung eines Urteils abgeleitet werden (BGE 117 Ia 3 f. E. 3a; BGE 112 Ia 109 f. E. 2b mit Hinweisen).
d) Es ist im weiteren zu klären, welche Prüfungsbefugnis dem Bundesgericht zusteht, wenn es auf staatsrechtliche Beschwerde hin entscheiden muss, ob die Maxime in einem konkreten Fall verletzt wurde.
Wird eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel gerügt, so ist zu beachten, dass dem Sachrichter bei der Würdigung der Beweise ein weiter Spielraum des Ermessens zusteht. Das Bundesgericht darf nicht an die Stelle des Ermessens des Sachrichters sein eigenes Ermessen setzen, und deshalb kann es nicht schon eingreifen, wenn es selber im Unterschied zum Sachrichter bei der Würdigung der Beweise gewisse
BGE 120 Ia 31 S. 38
Zweifel für möglich hält. Wäre es anders, so würde das Bundesgericht das Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung verletzen (Urteil des Bundesgerichts vom 8. September 1988, SJIR 1989, S. 312 f.). Es ist mithin auf eine Willkürprüfung beschränkt. Demzufolge kann es wegen Verletzung der Maxime als Beweiswürdigungsregel nur eingreifen, wenn der Sachrichter den Angeklagten verurteilte, obgleich bei objektiver Würdigung des ganzen Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche bzw. schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an der Schuld des Angeklagten fortbestanden. Das steht im Einklang mit der Praxis der Europäischen Menschenrechtskommission zu dem in Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten Prinzip der Unschuldsvermutung. Die Kommission prüft nur, ob der Richter grob unfaire oder willkürliche Schlussfolgerungen aus den ihm unterbreiteten Tatsachen gezogen hat (VOGLER, a.a.O., Rz. 412 mit Hinweisen).
Wird eine Verletzung der Maxime "in dubio pro reo" als Beweislastregel gerügt, so prüft das Bundesgericht frei, ob sich bei objektiver Betrachtungsweise aus dem Urteil des Sachrichters ergibt, dass dieser zu einem Schuldspruch gelangte, weil der Angeklagte seine Unschuld nicht nachwies. Bejaht es die Frage, so liegt eine mit Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK unvereinbare Feststellung der Täterschaft vor.
e) Zusammenfassend ergibt sich: Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist kein Satz des materiellen Bundesstrafrechts und damit kein Satz des "eidgenössischen Rechts" im Sinne von Art. 269 Abs. 1 BStP. Seine Verletzung kann demnach nicht mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen beanstandet werden. Der Grundsatz folgt aus Art. 6 Ziff. 2 EMRK und aus Art. 4 BV. Seine Verletzung ist daher mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend zu machen. Die Maxime bezieht sich sowohl auf die Beweiswürdigung wie auf die Beweislast. Ob sie durch den Sachrichter bei der Feststellung der Täterschaft im Rahmen der Beweiswürdigung verletzt wurde, prüft das Bundesgericht unter dem Gesichtswinkel der Willkür. Ferner prüft es frei, ob der Sachrichter die Maxime als Beweislastregel verletzt hat. In diesem Sinne ist die bisherige Rechtsprechung zu präzisieren.

3. Der Beschwerdeführer wirft der kantonalen Instanz vor, sie habe den Grundsatz "in dubio pro reo" als Beweislastregel verletzt, weil sich aus der Begründung des angefochtenen Entscheids herauslesen lasse, dass sie erhebliche Zweifel an seiner Schuld gehabt, ihn aber gleichwohl verurteilt habe.
BGE 120 Ia 31 S. 39
Wie dargelegt wurde, verletzt der Sachrichter die Maxime "in dubio pro reo" als Beweislastregel, wenn sich aus der Begründung seines Urteils ergibt, dass er zu einem Schuldspruch gelangte, weil der Angeklagte seine Unschuld nicht nachwies. Der Beschwerdeführer ist der Meinung, eine Verletzung dieser Regel sei hier deshalb gegeben, weil sich aus verschiedenen Passagen des angefochtenen Urteils ergebe, dass die kantonale Instanz erhebliche Zweifel an seiner Schuld gehabt habe. Bei objektiver Betrachtung kann aber aus der in Frage stehenden Urteilsbegründung keineswegs herausgelesen werden, dass das Obergericht derartige Zweifel gehabt hätte. Es hat in seinem Entscheid ausdrücklich erklärt, seiner Ansicht nach bestünden namentlich aufgrund der Angaben der Zeugin K. keine wesentlichen Zweifel an der Schuld des Beschwerdeführers. Aus der Formulierung, eine bestimmte Aussage dieser Zeugin könne "vermutlich nicht zutreffen", kann nichts anderes geschlossen werden. Diese und andere Äusserungen des Obergerichts beziehen sich immer auf einen einzelnen Aspekt der verschiedenen, gegen den Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe. Den betreffenden Erwägungen kann nicht entnommen werden, das Gericht erachte die Zeugin generell als unglaubwürdig. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung steht nichts entgegen, nur auf Teile einer Aussage abzustellen und gestützt darauf ernsthafte Zweifel an der Schuld eines Angeklagten auszuschliessen. Ob das Obergericht den Sachverhalt richtig festgestellt und daraus sachlich vertretbare Folgerungen gezogen hat, ist keine Frage der Verteilung der Beweislast, sondern der Würdigung der Beweise. Die Behauptungen des Beschwerdeführers, das Gericht habe "die unmöglichsten Aussagen" der Belastungszeugen beschönigend übergangen oder nur teilweise auf Drogensucht zurückgeführt und es habe die Aussagen einer Entlastungszeugin "mit vollkommen aus der Luft gegriffenen Vorbehalten" abgetan, betreffen die Beweiswürdigung und sind im Zusammenhang mit den vom Beschwerdeführer in dieser Hinsicht vorgebrachten Rügen zu prüfen (vgl. E. 4). Der Vorwurf des Beschwerdeführers, das Obergericht habe die Maxime "in dubio pro reo" als Beweislastregel verletzt, erweist sich nach dem Gesagten als unbegründet.

4. a) Der Beschwerdeführer vertritt die Ansicht, der Schuldspruch betreffend Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz beruhe auf einer willkürlichen Würdigung der Beweise. Er führt aus, das Obergericht habe einzelne Zeugenaussagen in unhaltbarer Weise als glaubwürdig oder unglaubwürdig bezeichnet und nach Belieben in
BGE 120 Ia 31 S. 40
seine Urteilsfindung miteinbezogen oder ausser acht gelassen. So habe sich die Zeugin K. in ihren Angaben, wann und wie oft sie ihn auf dem Platzspitzareal in Zürich gesehen habe, dauernd widersprochen, was das Gericht auf mangelndes Gedächtnis zurückgeführt habe. Trotzdem habe es aber den übrigen Behauptungen dieser Zeugin Glauben geschenkt und eine abweichende Aussage ihres Ehemannes nicht berücksichtigt. Zudem sei die Zeugin drogensüchtig gewesen und habe sich abfällig über Ausländer geäussert. Auch dem Zeugen W. habe das Obergericht Glauben geschenkt, obgleich es dessen zeitliche Angaben als völlig unzuverlässig bezeichnet habe. Demgegenüber habe es in willkürlicher Weise die Aussagen der Entlastungszeugin G. generell als unglaubwürdig abgetan. Diese sei vom Bezirksgericht ausdrücklich als glaubwürdig bezeichnet worden. Für die Annahme des Obergerichts, es sei nicht auszuschliessen, dass sie von der Familie des Beschwerdeführers, die vor nichts zurückschrecke, bedroht worden sei, gebe es keinen Anhaltspunkt.
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verfügt der Sachrichter im Bereich der Beweiswürdigung über einen weiten Ermessensspielraum. Das Bundesgericht greift auf staatsrechtliche Beschwerde wegen willkürlicher Beweiswürdigung hin nur ein, wenn die Beweiswürdigung offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, auf einem offenkundigen Versehen beruht oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 118 Ia 30 E. 1b; BGE 116 Ia 88 E. 2b; 112 Ia 371 E. 3, je mit Hinweisen). Wird mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel gerügt, so kann das Bundesgericht, wie dargelegt wurde, nur eingreifen, wenn der Sachrichter den Angeklagten verurteilte, obgleich bei objektiver Würdigung des ganzen Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche bzw. schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an der Schuld des Angeklagten fortbestanden. Im vorliegenden Fall kann davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer sinngemäss geltend macht, die Maxime sei auch als Beweiswürdigungsregel verletzt worden.
c) Es trifft zu, dass gewisse Aussagen der Zeugin K. teilweise erheblich voneinander abweichen. Insbesondere die Angaben darüber, wann sie den Beschwerdeführer beim Drogenverkauf gesehen haben will, klaffen zum Teil auseinander und können nicht alle zutreffen. Dasselbe gilt, noch ausgeprägter, für die Aussagen des
BGE 120 Ia 31 S. 41
Zeugen W. Die Aussagen dieser beiden Zeugen weisen zudem inhaltliche Widersprüche auf. So soll nach den Beobachtungen von W. der Beschwerdeführer alleine gehandelt haben, während Frau K. ihn jeweils in Begleitung mehrerer Personen gesehen haben will. Angesichts dieser Umstände ist es verständlich, dass der Beschwerdeführer die Schlussfolgerungen, die das Aargauer Obergericht aus dem Beweisergebnis gezogen hat, in Frage stellt, zumal dem Gericht auch Aussagen zugunsten des Beschwerdeführers vorlagen. Indessen wäre die vorliegende Beschwerde nach der dargelegten Bundesgerichtspraxis nur dann gutzuheissen, wenn die vom Obergericht vorgenommene Würdigung der Beweise geradezu unhaltbar wäre bzw. wenn es zu einem Schuldspruch gelangte, obgleich bei objektiver Würdigung des ganzen Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche bzw. schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an der Schuld des Beschwerdeführers fortbestanden. Dies trifft nicht zu. Das Bundesgericht räumt dem Sachrichter bei der Würdigung der Beweise nicht zuletzt darum einen weiten Ermessensspielraum ein, weil der persönliche Eindruck, den die verschiedenen Zeugen vor dem kantonalen Richter erwecken, bei der Gewichtung ihrer Aussagen eine wesentliche Rolle spielen kann. Im vorliegenden Fall konnte das Obergericht mit guten Gründen erwägen, die Zeugin K. habe dem erstinstanzlichen Gericht trotz gewisser Widersprüche einen glaubwürdigen Eindruck vermittelt. Frau K. sagte in erster Linie aus, sie erkenne den Beschwerdeführer vom Platzspitzareal her wieder; er sei dort als Drogenhändler in Erscheinung getreten und habe jeweils mehrere Gramm Heroin verkauft. Für die Glaubwürdigkeit dieser Aussage spricht, wie ohne Willkür angenommen werden kann, der Umstand, dass die Zeugin den Beschwerdeführer ohne besonderen Anlass (wie eine Gegenüberstellung oder ähnliches) als ihr bekannten Drogenhändler identifizierte, als sie ihn zufälligerweise im Bezirksgefängnis sah. An dieser Kernaussage hat die Zeugin während des ganzen Verfahrens immer wieder und unmissverständlich festgehalten. Sie war sicher, im Beschwerdeführer den betreffenden Drogenhändler wiederzuerkennen, da es sich bei diesem um eine Persönlichkeit mit auffälligem Äussern gehandelt habe; auch dieser Umstand stützt, wie sich in vertretbarer Weise annehmen lässt, die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen. Es trifft zwar zu, dass gegenüber Zeugenaussagen Rauschgiftsüchtiger, die an Entzugserscheinungen leiden, besondere Zurückhaltung angebracht ist (BGE 118 Ia 31 E. 1c). Im vorliegenden Fall ist indessen zu beachten, dass Frau K. den
BGE 120 Ia 31 S. 42
Beschwerdeführer bei allen Einvernahmen belastet hat und nicht nur kurz nach ihrer eigenen Festnahme, wie das offenbar in jenem Verfahren der Fall war, das dem in BGE 118 Ia 28 ff. publizierten Urteil zugrunde lag. Die erste (polizeiliche) Einvernahme der Zeugin erfolgte am 30. Dezember 1991, und ihre Aussage vor dem Bezirksgericht datiert vom 25. Februar 1993. Angesichts dieser Zeitspanne erscheint es unwahrscheinlich, dass sich allfällige Entzugserscheinungen entscheidend auf ihre Grundaussagen ausgewirkt haben könnten. Hinzu kommen die Beobachtungen des Zeugen W., der den Beschwerdeführer ebenfalls in den betreffenden Gegenden Zürichs gesehen hat. Dieser Aussage kommt zwar für sich genommen keine grosse Bedeutung zu. Es lässt sich jedoch ohne Willkür erwägen, sie sei geeignet, jene der Zeugin K. zu stützen und ihr insofern mehr Gewicht zu verschaffen.
d) Die Zeugin G. erklärte vor Gericht, in der Zeit zwischen 8. November und 4. Dezember 1991 habe sich der Beschwerdeführer einige Tage bei ihr aufgehalten. Vormittags sei er jeweils mit seinem Enkel spazieren gegangen, am Nachmittag sei er zum Arzt gegangen oder habe sonst etwas gemacht. Es sei ihrer Meinung nach unmöglich, dass der Beschwerdeführer in dieser Zeit einen Abstecher nach Zürich gemacht hätte, da er den Weg nicht gefunden hätte. Dieser Aussage hat das Obergericht nur untergeordnete Bedeutung beigemessen, obwohl sie dem Bezirksgericht glaubwürdig erschienen war. Das Obergericht begründete das damit, es sei nicht auszuschliessen, dass diese Zeugin von der Familie des Beschwerdeführers bedroht werde. Bei dieser Äusserung des Obergerichts scheint es sich wohl um eine Mutmassung zu handeln, liegen doch soweit ersichtlich keine Hinweise für einen solchen Beeinflussungsversuch vor. Indessen kann mit vertretbaren Gründen davon ausgegangen werden, die Aussagen der Zeugin G. widersprächen denjenigen der Zeugen K. und W. nicht grundsätzlich. Zunächst ist nach den oben dargestellten Erklärungen von Frau G. nicht auszuschliessen, dass sich der Beschwerdeführer jeweils nachmittags nach Zürich begab. Dass er sich womöglich nicht alleine zurechtgefunden hätte, steht dem nicht entgegen, soll er doch nach den Aussagen der Zeugin K. jeweils in Begleitung mehrerer Personen unterwegs gewesen sein. Zudem wohnte der Beschwerdeführer nur wenige Tage bei Frau G. Daher könnten die hier in Frage stehenden Verstösse gegen das BetmG durchaus auch nur in die Zeit fallen, in der er sich bei Frau J. in Olten aufhielt. Diese sagte zwar aus, der Beschwerdeführer habe sich die
BGE 120 Ia 31 S. 43
ganze Zeit bei ihr aufgehalten. Sie erklärte immerhin auch, sie sei einmal mit dem Beschwerdeführer in Zürich gewesen. Dass ein solcher Ausflug erfolgt ist, lässt sich auch den Protokollen der Telefonabhörung entnehmen. Zudem steht fest, dass Frau J. im Laufe des Ermittlungsverfahrens mehrfach nicht die Wahrheit gesagt hat. Es war daher nicht unhaltbar, wenn das Obergericht ihren Aussagen geringeres Gewicht beimass als denjenigen anderer Zeugen.
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass das Obergericht die Beweise nicht willkürlich gewürdigt hat. Bei objektiver Betrachtung des ganzen Beweisergebnisses blieben auch keine offensichtlich erheblichen bzw. schlechterdings nicht zu unterdrückenden Zweifel an der Schuld des Beschwerdeführers bestehen. Eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel liegt somit nicht vor. Der Schuldspruch betreffend Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz verstösst nach dem Gesagten nicht gegen die Art. 4 BV und 6 Ziff. 2 EMRK. Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher abzuweisen.