Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
Urteilskopf

142 II 307


27. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen C. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_586/2015 vom 9. Mai 2016

Regeste

Entbindung vom Anwaltsgeheimnis.
Berufsrechtliche und strafrechtliche Sanktionierung des Anwaltsgeheimnisses, Rechtfertigungsgründe (E. 4.1). Weder Art. 321 Ziff. 2 StGB noch Art. 13 BGFA nennen die für die Entbindung massgeblichen Kriterien (E. 4.2). Seit der bundesrechtlichen Vereinheitlichung des anwaltlichen Berufsrechts sind die massgeblichen Kriterien ausschliesslich dem Bundesrecht zu entnehmen (E. 4.3.1), wobei für die Erteilung einer Entbindung mindestens die Voraussetzungen für einen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund vorliegen müssen (E. 4.3.2). Ein Anwalt hat regelmässig ein schutzwürdiges Interesse an der Entbindung zwecks Eintreibung offener Honorarforderungen; er muss aber darlegen, weshalb ihm eine Deckung mittels Kostenvorschuss nicht möglich war (E. 4.3.3).

Sachverhalt ab Seite 308

BGE 142 II 307 S. 308

A. Mit Eingabe von Anfang November 2014 reichte Dr. C., Rechtsanwalt, in seiner Eigenschaft als Willensvollstrecker im Nachlass von Dr. D. sel. (Erblasser), Rechtsanwalt, bei der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte des Kantons Zug ein Gesuch um Entbindung vom Anwaltsgeheimnis ein. Zur Begründung machte der Willensvollstrecker C. geltend, der Erblasser habe zu Lebzeiten für Dr. A. Beratungsdienstleistungen erbracht, deren Honorierung in der Höhe von Fr. 2'497.80 noch ausstehe. Zur Einforderung dieser ausstehenden Honorarforderungen in seiner Eigenschaft als Willensvollstrecker im Nachlass des Erblassers ersuche er um Entbindung vom Anwaltsgeheimnis.
Der Präsident der kantonalen Aufsichtskommission hiess das Gesuch des Willensvollstreckers um Entbindung vom Anwaltsgeheimnis mit Verfügung vom 12. März 2015 so weit gut, als dessen Offenbarung für die Durchsetzung dieser im Nachlass des Erblassers befindlichen Forderung im geltend gemachten Umfang nebst Zins und weiteren Kosten erforderlich sei.
BGE 142 II 307 S. 309

B. Mit Urteil vom 2. Juni 2015 wies das Obergericht des Kantons Zug eine von Dr. A. gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde ab.

C. Dr. A. gelangt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 8. Juli 2015 gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 2. Juni 2015 an das Bundesgericht und beantragt, das angefochtene Urteil sei kostenfällig aufzuheben und die Streitsache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen; eventualiter sei das Gesuch des Willensvollstreckers C. abzulehnen und dieser nicht vom Berufsgeheimnis zu entbinden.
Willensvollstrecker C., der Präsident der kantonalen Aufsichtskommission und die Vorinstanz schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Mit Verfügung vom 7. September 2015 hat der Präsident der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4. (...)

4.1 Die Verletzung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses ist sowohl strafrechtlich (Art. 321 Abs. 1 StGB) wie auch disziplinarrechtlich (Art. 17 des Anwaltsgesetzes vom 23. Juni 2000 [BGFA; SR 935.6]) sanktionsbewehrt. Als Rechtfertigungsgründe, welche in strafrechtlicher Hinsicht trotz erfülltem Straftatbestand zum Entfallen der Rechtswidrigkeit führen, nennt Art. 321 Ziff. 2 StGB die Einwilligung des am Geheimnis Berechtigten oder eine auf Gesuch des Täters erteilte schriftliche Bewilligung der vorgesetzten Behörde oder der Aufsichtsbehörde .

4.2 Weder Art. 321 Ziff. 2 StGB noch Art. 13 BGFA - welcher als bundesrechtliche Bestimmung in Abs. 1 Satz 2 die Entbindung voraussetzt - nennen hingegen die Kriterien, welche die Aufsichtsbehörde beim Entscheid über die Entbindung anzuwenden hat. Das Bundesgericht hat unter dem zeitlichen Geltungsbereich der altrechtlichen kantonalen Vorschriften über den Anwaltsberuf die Zulässigkeit einer kantonalen Rechtsetzung angesichts der bundesrechtlichen Regelung der Rechtfertigungsgründe in Art. 321 Ziff. 2 StGB unter dem Gesichtspunkt der derogatorischen Kraft des Bundesrechts in BGE 97 I 831 E. 2b S. 836 und im Urteil 2P.65/2003 vom 3. Oktober 2003 E. 2.1 noch offengelassen. Der vorliegende Entscheid bietet Anlass zu einer höchstrichterlichen Klärung dieser
BGE 142 II 307 S. 310
Rechtsfrage unter Anwendung der seither in Kraft getretenen bundesrechtlichen Vereinheitlichung der anwaltlichen Berufsregeln.

4.3 Die für den Entscheid über die Entbindung anzuwendenden Kriterien sind ausschliesslich dem Bundesrecht zu entnehmen.

4.3.1 Seit Inkrafttreten des BGFA sind die anwaltlichen Berufspflichten abschliessend bundesrechtlich geregelt ( BGE 136 III 296 E. 2.1, 2.2, 3.1 S. 300 ff.; BGE 130 II 270 E. 3.1.1 S. 275; Botschaft vom 28. April 1999 über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte, BBl 1999 6039 Ziff. 172.2; SPÜHLER, Bedeutung, Anwendbarkeit und Anwendungsprobleme des BGFA, in: Das Anwaltsrecht nach dem BGFA, 2003, S. 38). Der Umfang der aus Art. 13 BGFA fliessenden beruflichen anwaltlichen Geheimhaltungspflicht ergibt sich demnach ausschliesslich aus dem Bundesrecht und kann nicht von Kanton zu Kanton variieren. Die Entbindung - als ein Begriff des Bundesrechts, vgl. Art. 13 Satz 2 BGFA - ist demnach nach bundesrechtlichen Kriterien zu erteilen.

4.3.2 Gestützt auf welche Kriterien die kantonale Aufsichtskommission die Entbindung vom Anwaltsgeheimnis zu erteilen hat, wird nicht ausdrücklich in Art. 13 BGFA geregelt. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass berufsrechtlich nicht erlaubt sein kann, was strafrechtlich verboten ist (SCHILLER, Schweizerisches Anwaltsrecht, 2009, N. 547). Obwohl das Strafrecht und das anwaltliche Berufsrecht durchaus zwei voneinander unabhängige sachliche Anwendungsbereiche haben (zum Grundsatz der Normenkonkurrenz zwischen StGB und dem altrechtlichen kantonalen Berufsrecht BGE 97 I 831 E. 2b S. 836), kann eine im Sinne des Berufsrechts zulässige Weitergabe von vertraulichen Klienteninformationen an grundsätzlich unbefugte Dritte von vornherein nur vorliegen, wenn sie im Lichte des Strafrechts rechtmässig ist. Der strafrechtliche Rechtfertigungsgrund stellt damit eine Minimalvorgabe auch für das Berufsrecht dar; dies bedeutet jedoch nur, dass das Berufsrecht den Tatbestand der Berufsgeheimnisverletzung nicht enger fassen kann als das Strafrecht (anders FELLMANN, Anwaltsrecht, 2010, N. 547 ff.; vgl. weiterführend GIOVANNI ANDREA TESTA, Die zivil- und standesrechtlichen Pflichten des Rechtsanwaltes gegenüber dem Klienten, 2000, S. 140). Soll ein Entbindungsentscheid seinen Zweck - Ermöglichung der Preisgabe einer dem Berufsgeheimnis unterliegenden Information ohne disziplinar- oder strafrechtliche Sanktion (Urteil 2C_503/2011 vom 21. September 2011 E. 2.2) - erfüllen, müssen
BGE 142 II 307 S. 311
somit mindestens die Kriterien für das Vorliegen des strafrechtlichen Rechtfertigungsgrundes im Sinne von Art. 321 Ziff. 2 StGB gegeben sein.

4.3.3 Ob die Bewilligung der Aufsichtsbehörde (Art. 321 Ziff. 2 StGB) zu erteilen ist, beurteilt sich auf Grund einer Abwägung sämtlicher auf dem Spiel stehenden Interessen , wobei, angesichts der institutionellen (nicht publ. E. 2.1) und individualrechtlichen (nicht publ. E. 2.2) Bedeutung des anwaltlichen Berufsgeheimnis nur ein deutlich überwiegendes öffentliches oder privates Interesse eine Entbindung als angemessen erscheinen lassen kann (OBERHOLZER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 19 zu Art. 321 StGB; TRECHSEL/VEST, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 34 zu Art. 321 StGB; MICHEL DUPUIS UND ANDERE, CP Code pénal, 2012, N. 48 zu Art. 321 StGB). Diese Interessenabwägung entspricht auf Grund des Umstandes, dass sie auch regelmässig in den (unselbstständigen, oben E. 4.3.1) kantonalen Vorschriften über die Entbindung erwähnt wird, ständiger Praxis sowie herrschender Lehre (CORBOZ, Le secret professionnel de l'avocat selon l'art. 321 CP, SJ 1993 S. 95; NATER/ZINDEL, Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 153 zu Art. 13 BGFA; SCHILLER, a.a.O., S. 152; FELLMANN, a.a.O., S. 219; TESTA, a.a.O., S. 150 f.; CHRISTOF BERNHART, Die professionellen Standards des Rechtsanwaltes, 2. Aufl. 2011, S. 167; JÜRG BOLL, Die Entbindung vom Arzt- und Anwaltsgeheimnis, 1983, S. 57 f.) und hat entsprechend in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass geboten (ausdrücklich Urteil 2C_661/2011 vom 17. März 2012 E. 3.1 in fine; vgl. auch Urteile 2C_1127/2013 vom 7. April 2014 E. 3.1; 2C_42/2010 vom 28. April 2010 E. 3.1; 2P.313/1999 vom 8. März 2000 E. 2b). Für die Interessenabwägung ist zu beachten, dass eine Anwältin oder ein Anwalt zwar regelmässig über ein schutzwürdiges Interesse an der Entbindung zwecks Eintreibung offener Honorarforderungen verfügt (Urteile 2C_1127/2013 vom 7. April 2014 E. 3.1; 2C_661/2011 vom 17. März 2012 E. 3.1; 2C_508/2007 vom 27. Mai 2008 E. 2.1; 1S.5/2006 vom 5. Mai 2006 E. 5.3.1, in: SJ 2006 I S. 489; 2P.313/1999 vom 8. März 2000 E. 2). Diesem Interesse steht grundsätzlich das institutionell begründete Interesse an der Wahrung der Vertraulichkeit (nicht publ. E. 2.1) wie auch, je nach Konstellation, das individual-rechtliche Interesse (nicht publ. E. 2.2) des Klienten auf Geheimhaltung der Mandatsbeziehung sowie sämtlicher, damit in
BGE 142 II 307 S. 312
Zusammenhang stehender Informationen entgegen, zumal Behörden und Gerichten eine eigentliche Anzeigepflicht obliegen kann. An die Substantiierung des Interesses des Klienten an einer Geheimhaltung dürfen im Verfahren auf Entbindung keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden, würde doch der in Art. 321 Abs. 1 StGB verankerte Rechtsschutz durch eine eigentliche Substantiierungspflicht geradezu unterlaufen. Bei der Abwägung der sich entgegenstehenden Interessen im Zusammenhang mit einer offenen Honorarforderung ist auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass eine Anwältin oder ein Anwalt vom Klienten grundsätzlich einen Vorschuss verlangen kann, welcher die voraussichtlichen Kosten ihrer oder seiner Tätigkeit deckt, und, sofern das Mandat für sie oder ihn eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung hat (zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Anwältin oder des Anwalts vom Klienten Urteil 2A.293/2003 vom 9. März 2004 E. 4; VALTICOS, in: Commentaire romand, Loi sur les avocats, 2010, N. 110 zu Art. 12 BGFA; BERNHART, Die professionellen Standards des Rechtsanwaltes, 2. Aufl. 2011, S. 121 ff.), zur Erhebung eines solchen Vorschusses unter dem Gesichtspunkt des Unabhängigkeitserfordernisses von Art. 12 lit. b BGFA sogar gehalten sein kann (a.M. betreffend Art. 12 lit. i BGFA FELLMANN, a.a.O., S. 190). Abgesehen von Konstellationen, in welchen dem Anwalt die Erhebung eines Kostenvorschusses von vornherein verwehrt ist - wie etwa, wenn und soweit die Anwältin oder der Anwalt dem Klienten als unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben worden ist ( BGE 132 V 200 E. 5.1.4 S. 205 f.) - hat ein zwecks Eintreibung einer offenen Honorarforderung um Entbindung ersuchender Anwalt darzulegen, weshalb ihm eine Kostendeckung über die Erhebung eines Kostenvorschusses nicht möglich war. (...)

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 4

Referenzen

BGE: 97 I 831, 136 III 296, 130 II 270, 132 V 200

Artikel: Art. 321 Ziff. 2 StGB, Art. 13 BGFA, Art. 321 StGB, Art. 321 Abs. 1 StGB mehr...