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Urteilskopf

112 Ia 174


31. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 28. Mai 1986 i.S. X. und weitere Beteiligte gegen Kantonsrat Solothurn (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 4 BV, Art. 84 Abs. 1 lit. a, 85 lit. a und 88 OG. Wahlen in den Erziehungsrat; Minderheitenschutz.
1. Wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte bei indirekten Wahlen - hier der Wahl des Erziehungsrates des Kantons Solothurn durch den Kantonsrat - ist nicht die staatsrechtliche Beschwerde nach Art. 85 lit. a OG, sondern jene gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. a OG zu erheben. Die Legitimation richtet sich dementsprechend nach Art. 88 OG (E. 2).
2. Beschwerdelegitimation
- eines Kantonsrates in seiner Eigenschaft als Kantonsrat und als Bürger des Kantons (E. 3a),
- der Sozialdemokratischen Fraktion des Kantonsrates (E. 3b),
- der nichtgewählten Kandidatin (E. 3c),
- der Sozialdemokratischen Partei des Kantons Solothurn (E. 3d).

Sachverhalt ab Seite 175

BGE 112 Ia 174 S. 175
Das Geschäftsreglement des Kantonsrates von Solothurn vom 10. Dezember 1960 enthält für die Durchführung von Wahlen unter anderem folgende Bestimmung:
"5. Zweiter, dritter und vierter Wahlgang
§ 69. 1 Erreicht bei einer Wahl im ersten Wahlgang kein Kandidat die erforderliche Mehrheit, so fallen diejenigen, welche nur eine Stimme erhalten haben, aus der Wahl, und es wird über die Verbleibenden ein zweiter und nötigenfalls ein dritter Wahlgang vorgenommen, wobei jeweils derjenige wegfällt, der die wenigsten Stimmen erhalten hat.
2 Die Stimmen, welche die aus der Wahl Gefallenen in einem nachfolgenden Wahlgang erhalten, sind ungültig.
3 Im vierten Wahlgang entscheidet das relative Mehr."
Weiter sieht § 98 des Geschäftsreglementes vor:
"1. Änderungen
§ 98. Änderungen dieses Reglementes können nicht in der gleichen Sitzung, in welcher sie beantragt werden, beschlossen werden."
An seiner Sitzung vom 5. Juni 1985 nahm der Kantonsrat von Solothurn Wahlen vor, unter anderem auch jene der sechs Mitglieder des Erziehungsrates. Von den sechs Bewerbern für ein Amt im Erziehungsrat wurden mit einer Ausnahme sämtliche gewählt. Einzig die von der Sozialdemokratischen Fraktion nominierte Kandidatin, Dr. X., erhielt bei einem absoluten Mehr von 68 lediglich 53 Stimmen und war somit nach dem ersten Wahlgang nicht gewählt.
In der Sitzung vom 26. Juni 1985 kam das Wahlgeschäft erneut zur Sprache. Namens der Freisinnig-demokratischen Fraktion stellte Kantonsrat S. den Antrag, es seien im zweiten Wahlgang neue Nominationen zuzulassen. Er gab zu bedenken, von einer echten Wahl könne nur gesprochen werden, wenn mehrere Kandidaten zur Auswahl stünden, und er erwog, § 69 des Geschäftsreglementes (Grundsatz der Wahl nach dem absoluten Mehr in den ersten drei und nach dem relativen Mehr im vierten Wahlgang) könne nicht so ausgelegt werden, dass "Pseudowahlen" Vorschub geleistet werde. Er wies sodann auf Präzedenzfälle hin, bei denen der Kantonsrat neue Nominationen nach dem ersten Wahlgang ebenfalls zugelassen habe. Entgegen den Einwendungen der Sozialdemokratischen Fraktion entschied sich der Kantonsrat noch in der gleichen Sitzung mit 64 zu 34 Stimmen für den Antrag S. In der Folge gab Kantonsrat S. die Nomination der
BGE 112 Ia 174 S. 176
Freisinnig-demokratischen Fraktion für den Erziehungsrat, R.S., bekannt. Dr. X. erhielt bei einem absoluten Mehr von 68 Stimmen deren 35, der Kandidat der Freisinnig-demokratischen Partei dagegen 84 Stimmen, der damit gewählt war.
Gegen diese Wahl erheben die Sozialdemokratische Partei des Kantons Solothurn, vertreten durch ihren Präsidenten K., die Sozialdemokratische Fraktion des Kantonsrates Solothurn, vertreten durch R., sowie im eigenen Namen R. als Kantonsrat und die abgewiesene Kandidatin, Dr. X., in einer gemeinsamen Eingabe staatsrechtliche Beschwerde. Sie beschweren sich über Willkür und Rechtsungleichbehandlung. Sie weisen namentlich darauf hin, dass § 69 des Geschäftsreglementes keine Nachnominationen zulasse. Der Antrag von Kantonsrat S. komme einer Änderung von § 69 des Geschäftsreglementes gleich, über die nach § 98 des Geschäftsreglementes nicht in der gleichen Sitzung hätte abgestimmt werden dürfen. Verletzt sei schliesslich auch der in Art. 11 der Kantonsverfassung festgeschriebene Grundsatz, wonach bei Wahlen von staatlichen Behörden die verschiedenen Parteirichtungen möglichst berücksichtigt werden müssten.
Das Bundesgericht tritt auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht ein.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Die Legitimation zur Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde, d.h. die Berechtigung der Beschwerdeführer, die behauptete Rechtsverletzung im eigenen Namen geltend zu machen, prüft das Bundesgericht frei und von Amtes wegen (BGE 111 Ia 147).
Um eine Stimmrechtsbeschwerde nach Art. 85 lit. a OG handelt es sich nicht. Das wird von den Beschwerdeführern auch nicht behauptet. Eine Verletzung des Stimm- und Wahlrechts im Sinne dieser Bestimmung würde voraussetzen, dass dieses durch Volkswahlen, d.h. durch direkte Teilnahme der stimmberechtigten Bürger an einem Wahl- oder Abstimmungsverfahren hätte ausgeübt werden können. Bei der Bestellung einer Behörde durch sogenannte indirekte Wahl, also durch eine andere Behörde oder durch einen Wahlkörper, kann daher nicht das Stimmrecht des Bürgers, sondern allenfalls eine Vorschrift organisatorischer Natur verletzt werden. Wird eine solche Vorschrift, beispielsweise ein gesetzlich verankerter Anspruch einer Minderheit, in einer Behörde
BGE 112 Ia 174 S. 177
angemessen vertreten zu sein, bei einer indirekten Wahl missachtet, so kann dieses Vorgehen nicht mit einer Beschwerde nach Art. 85 lit. a OG, sondern gegebenenfalls mit einer solchen wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger im Sinne von Art. 84 lit. a OG gerügt werden (BGE 99 Ia 448; vgl. BGE 108 Ia 282 f. E. 1 und die dort zitierten weiteren Entscheide). Die Beschwerdelegitimation bestimmt sich in solchen Fällen ausschliesslich nach Art. 88 OG (BGE 108 Ia 283 E. 1).

3. Das Recht, staatsrechtliche Beschwerde zu führen, steht nach Art. 88 OG Bürgern (Privaten) und Korporationen bezüglich solcher Rechtsverletzungen zu, die sie durch allgemeinverbindliche oder sie persönlich treffende Erlasse oder Verfügungen erlitten haben. Nach ständiger Rechtsprechung ermöglicht die staatsrechtliche Beschwerde dem Beschwerdeführer somit lediglich die Geltendmachung seiner rechtlich geschützten Interessen. Zur Verfolgung rein tatsächlicher Interessen oder allgemeiner öffentlicher Interessen ist die staatsrechtliche Beschwerde nicht gegeben (BGE 110 Ia 74 E. 1 mit weiteren Hinweisen). Im Lichte dieser Grundsätze ist die Legitimation zur Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte für jeden Beschwerdeführer einzeln zu prüfen.
a) R. ist als Bürger des Kantons Solothurn und als Mitglied des Kantonsrates zur staatsrechtlichen Beschwerde nicht legitimiert. Er hat kein rechtlich geschütztes Interesse daran, dass die abgewiesene Kandidatin der Sozialdemokratischen Fraktion gewählt bzw. die Nachnominationen im zweiten Wahlgang ausgeschlossen werden. Seine Stellung als Abgeordneter im Kantonsparlament verleiht ihm keine besondere Eigenschaft, die abweicht von derjenigen, die er als Kantonsbürger besitzt, um staatsrechtliche Beschwerde führen zu können (vgl. BGE 108 Ia 284 E. 2c; BGE 104 Ia 353 mit Hinweisen). Das allfällige tatsächliche oder allgemeine öffentliche Interesse an ordnungsgemässen Wahlen, das er als Abgeordneter im Kantonsrat vertritt, kann er daher sowenig wie andere Kantonsräte oder Bürger des Kantons mit staatsrechtlicher Beschwerde wahren.
b) Die Sozialdemokratische Fraktion des Kantonsrates, deren Interessen R. als Fraktionspräsident vertritt, ist ebenfalls nicht legitimiert, staatsrechtliche Beschwerde zu führen. Sie hat keine eigene Rechtspersönlichkeit, die es ihr gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erlaubt, als politische Vereinigung oder Gruppierung im eigenen Namen Beschwerde führen zu können
BGE 112 Ia 174 S. 178
(vgl. BGE 100 Ia 394 E. 1a/aa). Auf die Beschwerde der Sozialdemokratischen Fraktion ist daher nicht einzutreten.
c) Fraglich ist, ob Dr. X., die erfolglose Kandidatin, zur Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV legitimiert ist. Nach ständiger Rechtsprechung verschafft das allgemeine Willkürverbot nach Art. 4 BV, das bei jeder staatlichen Tätigkeit zu beachten ist, für sich allein dem Betroffenen noch keine gesetzlich geschützte Rechtsstellung im Sinne von Art. 88 OG. Eine Legitimation zur Willkürbeschwerde besteht demnach erst dann, wenn der angefochtene Entscheid den Beschwerdeführer in seiner vorhandenen Rechtsstellung berührt und in seine rechtlich geschützten Interessen eingreift. Die Geltendmachung des Willkürverbots setzt eine Berechtigung in der Sache selbst voraus. Aus Art. 4 BV folgt kein selbständiger Anspruch auf willkürfreies staatliches Handeln (BGE 110 Ia 75 E. 2a mit Hinweisen). Was für das Willkürverbot gilt, muss auch massgebend sein für das Gebot der rechtsgleichen Behandlung (BGE 105 Ia 275).
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann der unberücksichtigte Bewerber für ein öffentliches Amt den Beschluss der Wahlbehörde, durch den das Amt an einen anderen Kandidaten vergeben wurde, nicht durch staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV anfechten, sofern ihm das kantonale Recht keinen Anspruch auf Wahl einräumt; der Entscheid greift nicht in seine Rechtsstellung ein, und Wahlvorschriften, deren Verletzung er den Wahlbehörden allenfalls vorwirft, dienen nicht dem Schutz der Bewerber, sondern allgemeinen öffentlichen Interessen. Eine Legitimation zur Erhebung der Willkürbeschwerde besteht erst dann, wenn das massgebliche kantonale Recht dem Kandidaten einen Anspruch darauf einräumt, gewählt zu werden (BGE 107 Ia 184 E. 2a; BGE 105 Ia 273, 275). Derartiges wird hier jedoch nicht geltend gemacht. Soweit aus BGE 108 Ia 284 E. 2c abgeleitet werden könnte, abgewiesene Kandidaten seien ohne weiteres zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert ("puisqu'ils n'ont pas brigué le poste litigieux"), kann daran nicht festgehalten werden. Es ist somit auf die staatsrechtliche Beschwerde von Dr. X. nicht einzutreten.
d) Die Sozialdemokratische Partei des Kantons Solothurn besitzt unbestrittenermassen als Verein im Sinne von Art. 60 ZGB Rechtspersönlichkeit. Sie ist daher zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert, wenn der angefochtene Wahlentscheid sie in ihrer Rechtsstellung berührt, sie beispielsweise an der Verfolgung ihrer
BGE 112 Ia 174 S. 179
satzungsmässigen Ziele hindert (vgl. Art. 56 BV), oder wenn das kantonale Recht bestimmte Garantien enthält, wie namentlich auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes bei der Bestellung von Behörden und Kommissionen (BGE 108 Ia 283 E. 2b und dortige Hinweise).
Die Beschwerdeführer berufen sich in diesem Zusammenhang auf die Wahlvorschriften des Geschäftsreglementes des Kantonsrates (insbesondere § 69), ferner auf Art. 11 der Kantonsverfassung. § 69 des Geschäftsreglementes, wonach in den drei ersten Wahlgängen das absolute Mehr und im vierten Wahlgang das relative Mehr entscheiden soll, ist als organisatorische Vorschrift vorab im allgemeinen öffentlichen Interesse an korrekten Wahlen aufgestellt und bezweckt nicht primär den Minderheitenschutz. Ein Rechtsanspruch der Sozialdemokratischen Partei, durch mehrere eigene Kandidaten im Erziehungsrat vertreten zu sein, ergibt sich daraus nicht. Fraglich ist, ob ein solcher Rechtsanspruch aus Art. 11 der Kantonsverfassung abgeleitet werden kann. Diese Bestimmung, wonach bei der Wahl der staatlichen Behörden "die verschiedenen Parteirichtungen möglichst berücksichtigt" werden sollen, könnte in der Tat unter Umständen einen gewissen Rechtsanspruch der politischen Parteien des Kantons Solothurn auf Vertretung im Erziehungsrat begründen, wobei immer noch offenbliebe, ob "möglichste Berücksichtigung" im Sinne von Art. 11 KV bei der Wahl eines Konsultativ- und Beratungsgremiums Fraktionsproporz bedeutet. Ebensogut könnte jedoch die Bestimmung lediglich als sogenannter Programmartikel, d.h. als Anweisung an den Gesetzgeber verstanden werden, bei der Ausgestaltung des Wahlverfahrens für entsprechende Garantien zugunsten zahlenmässiger Minderheiten zu sorgen. Einen unmittelbaren Rechtsanspruch der Sozialdemokratischen Partei auf angemessene Vertretung im Erziehungsrat würde sich in diesem Fall aus Art. 11 der Kantonsverfassung nicht ergeben. Die Frage, ob die Sozialdemokratische Partei in dieser Sicht zur Beschwerdeführung legitimiert sei, kann indessen offenbleiben, da bereits aus anderen Gründen auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden kann.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 2 3

Referenzen

BGE: 108 IA 283, 108 IA 284, 111 IA 147, 99 IA 448 mehr...

Artikel: Art. 4 BV, Art. 88 OG, Art. 85 lit. a OG, Art. 84 Abs. 1 lit. a OG mehr...