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Urteilskopf

115 Ia 325


50. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 14. Dezember 1989 i.S. P. gegen Appellationshof des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 4 BV; unentgeltliche Rechtspflege, Bedürftigkeit des obhutsberechtigten Elternteils.
Stellt ein obhutsberechtigter Elternteil, dessen Beitrag an den Unterhalt der Kinder nur in der Pflege und Erziehung besteht, ein Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege, so ist bei der Abklärung seiner Bedürftigkeit nur sein eigenes Einkommen zu berücksichtigen. In seiner Notbedarfsrechnung sind demzufolge die Kinderzuschläge ausser acht zu lassen.

Erwägungen ab Seite 326

BGE 115 Ia 325 S. 326
Aus den Erwägungen:

3. Die Beschwerdeführerin bringt nur vor, es sei nicht zulässig, die vom Unterhaltspflichtigen bezahlten Unterhaltsbeiträge für die Kinder zum Einkommen der Obhutsinhaberin hinzuzuzählen, wenn es darum gehe, ihre eigene Bedürftigkeit im Armenrechtsverfahren abzuklären, da der Unterhaltsbeitrag gemäss Art. 289 Abs. 1 ZGB dem Kind zustehe. Logischerweise wären dann die Kinderzuschläge bei den Auslagen auch nicht zu berücksichtigen, sofern die obhutsberechtigte Mutter ihren Beitrag an den Unterhalt der Kinder durch deren Pflege und Erziehung erbringe, was hier zutreffe. Zudem müsste sie sich einen Abzug am Mietzins gefallen lassen, wenn - anders als im vorliegenden Fall - die Wohnung für eine Einzelperson zu gross und zu teuer wäre.
a) Wäre das Begehren der Beschwerdeführerin nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür zu prüfen, könnte ihrer Auffassung nicht gefolgt werden, obwohl vieles dafür spräche. Indessen steht dem Bundesgericht in dieser Frage die freie Prüfung zu. Das Bundesgericht hat bereits festgehalten, dass bei der Beurteilung der Bedürftigkeit einer Partei, die um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege nachsucht, grundsätzlich nur deren eigene Mittel sowie allenfalls die Beiträge der ihr gegenüber unterstützungspflichtigen Personen massgeblich sein können (BGE 108 Ia 9 ff.). Diesem Entscheid lag allerdings ein völlig anderer Sachverhalt zugrunde. Dennoch kann nicht übersehen werden, dass es sich beim darin ausgesprochenen Gedanken um einen Grundsatz von allgemeiner Tragweite handelt.
Ausgehend von diesem Grundsatz ist sodann hervorzuheben, dass die Kinderalimente, die der nicht obhutsberechtigte Elternteil an den Unterhalt der Kinder beisteuert, für deren Bedarf verwendet werden sollen (vgl. Art. 276 ff., insbesondere Art. 276 Abs. 2 und 285 ZGB). Bei diesen Beiträgen handelt es sich von Gesetzes wegen um gebundene Mittel, die dem obhutsberechtigten Elternteil nicht etwa dazu dienen dürfen, eigene Schulden zu decken oder den
BGE 115 Ia 325 S. 327
eigenen Lebensstandard zu verbessern. Dementsprechend sieht das Gesetz in Art. 289 ZGB denn auch vor, dass der Anspruch auf den Unterhaltsbeitrag dem Kinde selber zusteht. Dieser Beitrag beruht auf besonderen rechtlichen Grundlagen und folgt mit Bezug auf seine Abänderbarkeit eigenen Grundsätzen (Art. 153 und 286 ZGB). Es darf deshalb in der Frage der Unterhaltsdeckung nicht ohne weiteres eine generelle wirtschaftliche Schicksalsgemeinschaft zwischen den Kindern und dem obhutsberechtigten Elternteil angenommen werden. Angesichts der Selbständigkeit und der besonderen Ausgestaltung dieser Unterhaltsleistungen ist es vielmehr gerechtfertigt, sie auch bei Erstellung der Bedarfsrechnung im Sinne von Art. 152 OG getrennt zu betrachten.
Dieses Vorgehen deckt sich im Ergebnis mit dem Grundsatz, wie er durch die erwähnte bundesgerichtliche Rechtsprechung umschrieben worden ist (BGE 108 Ia 9 ff.). Es liegen indessen auch kantonale Urteile vor, in denen ausgehend von Art. 289 ZGB erkannt worden ist, dass die Unterhaltsbeiträge der Kinder nicht zum Einkommen des obhutsberechtigten Elternteils gerechnet werden dürften, wenn dessen Bedürftigkeit als eine der Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege abgeklärt werden muss (so etwa das Kassationsgericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 24. August 1988). Dabei ist freilich auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich im Haushalt des obhutsberechtigten Ehegatten mit den Kindern weitere Familienmitglieder befinden, die aus ihrem Einkommen, nämlich den Alimenten, an die Auslagen des gemeinsamen Haushalts beitragen. Tatsächlich ist darin unter anderem auch ein Beitrag an die gemeinsamen Wohnkosten, die Versicherungen usw. enthalten, wodurch sich die Kosten, die der obhutsberechtigte Elternteil letztlich selbst zu tragen hat, entsprechend ermässigen. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hat daher angeregt, bei der Bemessung des Notbedarfs des Gesuchstellers als Ausgleich die Kinderzuschläge wegzulassen, wenn er seinen Beitrag an den Unterhalt der Kinder ausschliesslich durch Pflege und Erziehung erbringt, und eine angemessene Kürzung des Mietzinses und der Krankenkassenbeiträge vorzunehmen. Wie sich eine solche Ermässigung im Einzelfall auswirkt, kann naturgemäss immer nur annähernd bestimmt werden, weshalb ihre Festsetzung dem richterlichen Ermessen anheimgestellt bleiben muss (Art. 4 ZGB). Demgegenüber weist diese Betrachtungsweise den beachtlichen Vorteil auf, dass nur der erweiterte Notbedarf des gesuchstellenden Ehegatten mit dessen eigenem
BGE 115 Ia 325 S. 328
Einkommen und allfälligem Vermögen zu vergleichen ist, während die meist schematisch festgesetzten Kinderunterhaltsbeiträge, aber auch der verhältnismässig niedrige Notbedarf für Kinder ausser Betracht bleiben können. Auf diese Weise wird in vielen Fällen - wie mit Recht vorgebracht wird - kein Überschuss mehr zu ermitteln sein, der rein theoretisch zur Bezahlung von Gerichts- und Anwaltskosten verwendbar sein soll.
b) Im vorliegenden Fall erhält die Beschwerdeführerin für jedes Kind einen Unterhaltsbeitrag von Fr. 562.-- (Fr. 444.-- zuzüglich Fr. 118.-- Kinderzulage) pro Monat. Nachdem sie selber nur ein Einkommen von Fr. 2'000.-- brutto bzw. Fr. 1'800.-- netto erzielt, ist davon auszugehen, dass ihr Beitrag an den Unterhalt der Kinder ausschliesslich in Pflege und Erziehung besteht, während der Beitrag des Vaters den finanziellen Bedarf der Kinder zu decken vermag. Ein monatlicher Unterhaltsbeitrag von Fr. 562.-- pro Kind wird nun aber kaum je einen Überschuss ergeben, der von der Beschwerdeführerin für eigene Bedürfnisse verwendet werden könnte. Auch wenn in den Kinderalimenten ein gewisser Beitrag an die allgemeinen Familienkosten, insbesondere für die Wohnung und die Sozialversicherungen, enthalten sein mag, so heisst das nicht, dass die Kinder darüber hinaus verpflichtet wären, ihren Unterhaltsbeitrag mit der Mutter zu teilen. Falls der obhutsberechtigte Ehegatte selbst überhaupt keinen - wie im vorliegenden Fall - oder nur einen ungenügenden Beitrag erhält, so dass er seinen gebührenden Unterhalt nicht mehr wie bisher bestreiten kann, dürfen die Mittel, die von Gesetzes wegen den Kindern vorbehalten bleiben, nicht für die Bedürfnisse dieses Elternteils verwendet werden. Damit wird zugleich der Gefahr entgegengewirkt - die vom Appellationshof im angefochtenen Entscheid angedeutet worden ist -, dass die Parteien im Scheidungsprozess relativ hohe Kinderalimente vereinbaren, der obhutsberechtigte Elternteil hingegen auf Unterhaltsleistungen verzichtet, um in den Genuss der unentgeltlichen Rechtspflege zu gelangen. Werden für die Kinder schliesslich infolge der guten wirtschaftlichen Verhältnisse des Unterhaltspflichtigen höhere als die üblichen Beiträge geleistet, welche über die erweiterten Bedürfnisse hinausgehen, so müssen die Überschüsse grundsätzlich für den allfälligen Eintritt ausserordentlicher Umstände zugunsten der Kinder zurückgelegt werden (BÜHLER/SPÜHLER, N 289 zu Art. 156 ZGB). Immerhin lassen sich ausnahmsweise auch Fälle denken, in denen die Kinderalimente das übliche Mass bei weitem übersteigen, so dass neben
BGE 115 Ia 325 S. 329
dem gebührenden Unterhalt, dem Beitrag an die Haushaltskosten und einer Rücklage für ausserordentliche Bedürfnisse ein Überschuss verbleibt. Dieser könnte dann dem obhutsberechtigten Elternteil allenfalls in Analogie zu Art. 319 Abs. 1 ZGB zugute kommen. Aber auch derartige Ausnahmefälle - über die hier nicht zu befinden ist - könnten nichts daran ändern, dass die sich in einem vernünftigen Rahmen bewegenden Kinderalimente grundsätzlich nur den Kindern zukommen sollen.
c) Aus dem Dargelegten folgt, dass die vom Appellationshof angewendete Berechnungsmethode bei freier Prüfung nicht aufrechterhalten werden kann. Bei Abklärung der Bedürftigkeit eines obhutsberechtigten Elternteils im Zusammenhang mit der Behandlung seines Gesuchs um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege darf demnach - ausser in wenigen Ausnahmefällen - nur sein eigenes Einkommen berücksichtigt werden. Das hat zur Folge, dass die Kinderunterhaltsbeiträge, abgesehen von einem angemessenen Beitrag an die Familienunterhaltskosten, ausser acht zu bleiben haben, dass aber in der Notbedarfsrechnung auch die Kinderzuschläge wegzulassen sind.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 3

Referenzen

BGE: 108 IA 9

Artikel: Art. 289 ZGB, Art. 4 BV, Art. 289 Abs. 1 ZGB, Art. 276 Abs. 2 und 285 ZGB mehr...