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Urteilskopf

138 IV 29


3. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau und X. gegen Obergericht des Kantons Aargau (Beschwerde in Strafsachen)
1B_471/2011 / 1B_473/2011 vom 24. November 2011

Regeste

Art. 29 Abs. 1 lit. b, Art. 30 und 33 StPO; Verfahrenseinheit.
Der Grundsatz der Verfahrenseinheit bezweckt die Verhinderung sich widersprechender Urteile und dient der Prozessökonomie. Wird jemand, nachdem er Polizeibeamte angegriffen haben soll, durch diese verletzt, so sind die deswegen gegen das Opfer und die Polizeibeamten eröffneten Strafverfahren von einer einzigen (hier: ausserordentlichen) Staatsanwaltschaft zu führen (E. 3-5).

Sachverhalt ab Seite 30

BGE 138 IV 29 S. 30
Am Abend des 25. Mai 2009 kam es zwischen X. und seiner Ehefrau in ihrer gemeinsamen Wohnung zu einem Streit. Um 19.15 Uhr alarmierte die Ehefrau von einer Nachbarwohnung aus die Polizei. Der ausrückende Regionalpolizist konnte die Situation nicht bereinigen, weshalb er Verstärkung anforderte. Um ca. 21.00 Uhr wurde die Sondereinheit "Argus" der Kantonspolizei Aargau aufgeboten. Diese stürmte um 21.48 Uhr die eheliche Wohnung. Dabei setzte das Mitglied Nr. 1 der Sondereinheit eine Elektroschockpistole ("Taser") gegen X. ein. Das Mitglied Nr. 5 der Sondereinheit gab zwei Schüsse aus der Dienstwaffe auf X. ab und traf diesen im Bauch. X. musste in der Folge längere Zeit in Spitalpflege verbringen.
Aufgrund dieses Vorfalls eröffnete das damalige Bezirksamt Bremgarten einerseits ein Strafverfahren gegen die Mitglieder Nr. 1 und 5 der Sondereinheit wegen des Verdachts der einfachen bzw. schweren Körperverletzung und weiterer Straftaten (im Folgenden: Strafverfahren "Argus"); anderseits ein Strafverfahren gegen X. wegen des Verdachts der Gewalt und Drohung gegen Beamte und der versuchten schweren Körperverletzung, da er Polizisten bedroht habe und mit einem Messer auf sie losgegangen sei (im Folgenden: Strafverfahren X.).
Am 20. September 2010 beantragte X., das Strafverfahren "Argus" sei auf Oberstleutnant Urs Winzenried, Chef der kantonalen Kriminalpolizei, und Leutnant Urs Schilling, Chef der Fahndung Ost der Kantonspolizei, auszudehnen. X. stützte sich dabei auf ein Privatgutachten vom 24. August 2010 von Dr. Markus Mohler (Lehrbeauftragter für öffentliches Recht, besonders Sicherheits- und Polizeirecht, an der Universität St. Gallen und ehemaliger Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt).
Mit Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (StPO; SR 312.0) am 1. Januar 2011 wurden die Strafverfahren "Argus" und X. der neu geschaffenen Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten zugeteilt. Dort amtet Staatsanwältin Barbara Loppacher als leitende Staatsanwältin.
BGE 138 IV 29 S. 31
Am 28. Juli 2011 entschied die Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Aargau über Ausstandsbegehren.
Dagegen führen die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau und X. je Beschwerde in Strafsachen.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Die Oberstaatsanwaltschaft bringt vor, der angefochtene Entscheid führe im Ergebnis dazu, dass der Einsatz der Sondereinheit "Argus" durch drei verschiedene Staatsanwälte zu untersuchen sei. Gegen die Mitglieder Nr. 1 und 5 der Sondereinheit sei das Verfahren durch einen Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten zu führen; gegen Leutnant Schilling durch einen ordentlichen Staatsanwalt, der nicht der Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten angehöre; und gegen Oberstleutnant Winzenried durch einen ausserordentlichen Staatsanwalt. Dies verstosse gegen den Grundsatz der Verfahrenseinheit (Art. 29 und 33 StPO).

3.2 Art. 29 StPO regelt den Grundsatz der Verfahrenseinheit. Danach werden Straftaten unter anderem gemeinsam verfolgt und beurteilt, wenn Mittäterschaft oder Teilnahme vorliegt (Abs. 1 lit. b). Nebst der Mittäterschaft werden von dieser Bestimmung ebenso die mittelbare Täterschaft und die Nebentäterschaft erfasst. Unter den Begriff der Teilnahme fallen die Anstiftung gemäss Art. 24 StGB und die Gehilfenschaft gemäss Art. 25 StGB (NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2009, N. 4 zu Art. 29 StPO; URS BARTETZKO, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 6 zu Art. 29 StPO).
Der Grundsatz der Verfahrenseinheit bezweckt die Verhinderung sich widersprechender Urteile, sei dies bei der Sachverhaltsfeststellung, der rechtlichen Würdigung oder der Strafzumessung. Er gewährleistet somit das Gleichbehandlungsgebot (Art. 8 BV). Überdies dient er der Prozessökonomie (SAMUEL MOSER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 1 zu Art. 33 StPO). Gemäss Art. 33 StPO werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Straftat von den gleichen Behörden verfolgt und beurteilt wie die Täterin oder der Täter (Abs. 1). Ist eine Straftat von mehreren Mittäterinnen oder Mittätern verübt worden, so sind die Behörden des Ortes zuständig, an dem zuerst Verfolgungshandlungen vorgenommen worden sind (Abs. 2). Art. 33 StPO soll als
BGE 138 IV 29 S. 32
gerichtsstandmässige Entsprechung zu Art. 29 StPO sicherstellen, dass die an einer Straftat Beteiligten durch dieselbe Behörde in einem Verfahren verfolgt und beurteilt werden können (MOSER, a.a.O., N. 1 zu Art. 33 StPO). Erforderlich ist objektive Konnexität, die auch hinsichtlich Vorgesetzten gilt, die sich strafbar gemacht haben können, weil sie die Tat eines Untergebenen nicht verhindert oder gar veranlasst haben (vgl. MOSER, a.a.O., N. 6 zu Art. 33 StPO).

3.3 Wie die Oberstaatsanwaltschaft zutreffend vorbringt, führt der angefochtene Entscheid dazu, dass sich mit dem Verfahren "Argus" drei verschiedene Staatsanwälte befassen müssen. Dabei geht es um den gleichen Lebensvorgang, nämlich die Stürmung der ehelichen Wohnung mit dem anschliessenden Einsatz eines Tasers durch das Mitglied der Sondereinheit Nr. 1 und der Schussabgabe durch das Mitglied Nr. 5. X. macht unter Hinweis auf das Gutachten Mohler geltend, der Einsatz der Sondereinheit sei unverhältnismässig und damit rechtswidrig gewesen. Leutnant Schilling habe die Verantwortung für den Einsatz der Sondereinheit getragen und seine Befehle mit Oberstleutnant Winzenried abgesprochen. Zwischen den den Mitgliedern der Sondereinheit und Leutnant Schilling bzw. Oberstleutnant Winzenried vorgeworfenen strafbaren Handlungen besteht somit eine enge objektive Konnexität. Gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO sind sie daher gemeinsam zu verfolgen und zu beurteilen. Der angefochtene Entscheid widerspricht dem Grundsatz der Verfahrenseinheit.
Gemäss Art. 30 StPO können die Staatsanwaltschaft und die Gerichte aus sachlichen Gründen Strafverfahren trennen. Dass solche Gründe hier bestünden, legt die Vorinstanz nicht dar und ist nicht ersichtlich.

4. Die Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft ist demnach begründet.
Das Strafverfahren "Argus" wird durch einen einzigen Staatsanwalt zu führen sein. Da nach dem angefochtenen Entscheid der Regierungsrat gemäss § 7 Abs. 3 lit. b des Einführungsgesetzes des Kantons Aargau vom 16. März 2010 zur Schweizerischen Strafprozessordnung (SAR 251.200) in Bezug auf Oberstleutnant Winzenried einen ausserordentlichen Staatsanwalt einzusetzen haben wird, kommt als fallführender Staatsanwalt nur dieser in Betracht. Daran ändert nichts, dass eine Strafuntersuchung gegen Leutnant Schilling und Oberstleutnant Winzenried offenbar noch nicht eröffnet
BGE 138 IV 29 S. 33
worden ist. Der ausserordentliche Staatsanwalt wird gleichwohl einzusetzen sein, da dieser, sofern er die Eröffnung einer Strafuntersuchung ablehnen sollte, jedenfalls eine Nichtanhandnahmeverfügung zu treffen hätte (Art. 309 Abs. 4 und Art. 310 StPO).

5.

5.1 Soweit X. beantragt, das Verfahren "Argus" einem ausserordentlichen Staatsanwalt zuzuordnen, ist seine Beschwerde aufgrund der Gutheissung jener der Oberstaatsanwaltschaft gegenstandslos geworden. Insoweit kann die Frage seiner Beschwerdebefugnis offenbleiben.

5.2 X. verlangt, das Verfahren X. einem ausserordentlichen Staatsanwalt, eventualiter nicht Staatsanwältin Loppacher zuzuteilen. Er beruft sich auf den Befangenheitsgrund nach Art. 56 lit. f StPO. Insoweit ist er gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde befugt.

5.3 Gemäss Art. 56 lit. f StPO tritt eine in einer Strafbehörde tätige Person in den Ausstand, wenn sie aus anderen Gründen (gemeint: als den in Art. 56 lit. a-e StPO genannten), insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte.
X. bringt hinreichend substantiiert keine konkreten Gründe vor, weshalb Staatsanwältin Loppacher ihm gegenüber befangen sein soll. Die Beschwerde genügt insoweit den Begründungsanforderungen von Art. 42 Abs. 2 BGG nicht, weshalb darauf nicht eingetreten werden kann.

5.4 X. beruft sich ebenso auf Art. 29 StPO. Diese Bestimmung wie auch Art. 33 StPO erfassen, wie gesagt, alle Formen der Täterschaft und Teilnahme an einer Straftat. Zwar besteht zwischen den Straftaten, deren X. und die Polizisten verdächtigt werden, insoweit ein Zusammenhang, als sie auf demselben Lebensvorgang beruhen, indem einerseits X. verdächtigt wird, gegen Polizisten drohend und gewalttätig geworden zu sein, und anderseits die Polizisten verdächtigt werden, in Reaktion darauf X. verletzt zu haben. Doch wird diese Konstellation von Art. 29 und 33 StPO nicht erfasst. X. ist weder Täter noch Teilnehmer bei den den Polizisten vorgeworfenen Straftaten, sondern insoweit Opfer. Indem die Vorinstanz die Verfolgung von X. nicht der für die Verfolgung der anderen Personen - der Mitglieder Nr. 1 und 5 der Sondereinheit, Leutnant Schilling und Oberstleutnant Winzenried - zuständigen ausserordentlichen
BGE 138 IV 29 S. 34
Staatsanwaltschaft zugeordnet hat, hat sie diese Bestimmungen nicht verletzt.

5.5 Zu beachten ist aber Art. 30 StPO. Darauf beruft sich X. zwar nicht ausdrücklich. Die Bestimmung ist jedoch von Amtes wegen zu berücksichtigen (Art. 106 Abs. 1 BGG).
Gemäss Art. 30 StPO können die Staatsanwaltschaft und die Gerichte aus sachlichen Gründen Strafverfahren vereinen. Diese Möglichkeit bewirkt eine Ausdehnung der Verfahrenseinheit auf Konstellationen, welche von Art. 29 StPO nicht erfasst werden (BERNARD BERTOSSA, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 3 zu Art. 30 StPO). Für eine Vereinigung nach Art. 30 StPO spricht vor allem der enge Sachzusammenhang verschiedener Straftaten (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1142). Ein solcher besteht namentlich, wenn sich Beteiligte gegenseitig Straftaten beschuldigen, die sie im Rahmen der gleichen Auseinandersetzung begangen haben sollen (BERTOSSA, a.a.O.; FINGERHUTH/LIEBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch und andere [Hrsg.], 2010, N. 3 zu Art. 30 StPO).
Eine derartige Konstellation ist hier gegeben. Der enge Sachzusammenhang zwischen den den Polizisten und X. vorgeworfenen strafbaren Handlungen besteht offensichtlich. Die Vereinigung der Verfahren "Argus" und X. bei der ausserordentlichen Staatsanwaltschaft drängt sich damit auf. Dies liegt im Interesse der Prozessökonomie. Überdies werden damit sich widersprechende Entscheide verhindert, namentlich in Bezug auf die Frage, ob X. die Polizisten mit einem Messer angegriffen hat und diese in Notwehr (Art. 15 f. StGB) gehandelt haben.

5.6 Die Beschwerde von X. ist demnach, soweit sie nicht gegenstandslos geworden und darauf einzutreten ist, im Ergebnis ebenfalls gutzuheissen.

Inhalt

Ganzes Dokument:
Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 3 4 5

Referenzen

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