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Urteilskopf

122 IV 322


50. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. November 1996 i.S. M. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

Art. 181 StGB; Art. 895 f. ZGB; Art. 82 und 400 Abs. 1 OR: Nötigung, Androhung ernstlicher Nachteile; Retentionsrecht.
Wer die sofortige Herausgabe von Akten an den Auftraggeber von einer Akontozahlung für offene Honorarforderungen abhängig macht, obwohl Prozessfristen laufen und die Akten zur Weiterführung hängiger Gerichtsverfahren dringend benötigt werden, droht einen ernstlichen Nachteil an (E. 1).
Die Möglichkeit, dem angedrohten Nachteil auf dem Rechtsweg zu begegnen, lässt dessen Ernsthaftigkeit nicht ohne weiteres entfallen (E. 1a; Bestätigung der Rechtsprechung).
An nicht verwertbaren Akten kann kein dingliches Retentionsrecht ausgeübt werden (E. 3a).
Ist die Pflicht zur Herausgabe der Akten nicht auf die Hauptpflichten der Parteien ausgerichtet, kann sich der Beauftragte bei der Aktenherausgabe nicht auf das Leistungsverweigerungsrecht im Sinne von Art. 82 OR berufen (E. 3b).
Umfang der auftragsrechtlichen Aktenherausgabepflicht. Ein obligatorisches Retentionsrecht an nicht verwertbaren Akten ist, vorbehältlich anderslautender vertraglicher Vereinbarungen, grundsätzlich ausgeschlossen (E. 3c).
Aus den Standesregeln für Anwälte kann kein Retentionsrecht an nicht verwertbaren Akten abgeleitet werden (E. 3d).

Sachverhalt ab Seite 323

BGE 122 IV 322 S. 323

A.- M., der über kein Anwaltspatent verfügte, beriet N. in drei Zivilverfahren. N. entzog ihm das Mandat am 25. April 1994 und verlangte die sofortige Rückgabe der Akten sowie Auskunft über den Stand der Verfahren. Dazu war M. nur gegen Leistung einer Akontozahlung von Fr. 3'000.-- für seine behauptete offene Honorarforderung von Fr. 4'500.-- bereit. Mit Brief vom 28. April 1994 erklärte sich N. unter dem Druck der laufenden Fristen mit diesem Vorgehen einverstanden. Nach dem Eingang der Zahlung kündigte M. die Zustellung der Akten an.
BGE 122 IV 322 S. 324

B.- Das Bezirksamt Lenzburg verurteilte M. mit Strafbefehl vom 12. Juli 1995 wegen Nötigung und mehrfacher Widerhandlung gegen das Anwaltsgesetz zu zehn Tagen Gefängnis bedingt und zu einer Busse von Fr. 6'000.--.
Die von M. dagegen erhobene Einsprache hiess das Bezirksgericht Lenzburg am 26. Oktober 1995 teilweise gut und verurteilte ihn wegen Nötigung zu einer Busse von Fr. 4'000.--; vom Vorwurf der mehrfachen Widerhandlung gegen das Anwaltsgesetz sprach es ihn frei.

C.- Das Obergericht des Kantons Aargau wies eine Berufung des Verurteilten am 21. Juni 1996 ab und bestätigte den erstinstanzlichen Entscheid.

D.- M. erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes aufzuheben.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Erwägungen

aus folgenden Erwägungen:

1. Der Beschwerdeführer bringt vor, er habe gestützt auf Art. 400 OR ein obligatorisches Zurückbehaltungsrecht an den Urkunden gehabt. Dieses Recht sei ein legales Mittel indirekten Zwanges und erstrecke sich auch auf Urkunden, die nicht verwertbar seien. Die Vorinstanz habe deshalb insoweit Bundesrecht verletzt, als sie die rechtswidrige Androhung eines ernstlichen Nachteils bejahte.
a) Gemäss Art. 181 StGB macht sich u.a. strafbar, wer einen anderen durch Androhung ernstlicher Nachteile nötigt, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden.
Bei der Androhung ernstlicher Nachteile stellt der Täter dem Opfer die Zufügung eines Übels in Aussicht, dessen Eintritt er als von seinem Willen abhängig erscheinen lässt (BGE 120 IV 17 E. 2a mit Hinweisen). Es kommt dabei nicht darauf an, ob der Täter die Drohung wirklich wahrmachen will, sofern sie nur als ernstgemeint erscheinen soll (BGE 105 IV 120 E. 2a). Nach der Rechtsprechung ist auch unerheblich, ob eine Handlung oder eine Unterlassung angedroht wird (BGE 115 IV 207 E. 2a mit Hinweisen, vgl. auch BGE 107 IV 35 E. 3a). Demgegenüber nimmt die Literatur zu dieser Frage teilweise eine differenziertere Haltung ein (vgl. MARTINO IMPERATORI, Das Unrecht der Nötigung, Diss. Zürich 1987, S. 81 ff.; PETER NOLL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Besonderer Teil I, 1983, S. 71; JÖRG REHBERG, Strafrecht III, 6. Aufl. 1994, S. 329 f.; MARTIN SCHUBARTH, Kommentar zum Schweizerischen Strafrecht, Besonderer
BGE 122 IV 322 S. 325
Teil, Bern 1984, N. 23 ff. zu Art. 181 StGB; GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, BT I, 5. Aufl., Bern 1995, § 5 N. 8; STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, N. 6 zu Art. 181). Diese Frage braucht hier nicht näher erörtert zu werden, weil der Beschwerdeführer, sofern man ihm kein Retentionsrecht zubilligt, zur Aktenrückgabe und damit zu einem Handeln verpflichtet war. Beruft er sich jedoch zu Recht auf ein Retentionsrecht, entfiele jedenfalls die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens (BGE 115 IV 207 E. 2a).
Ernstlich sind die Nachteile, wenn ihre Androhung nach einem objektiven Massstab geeignet ist, auch eine besonnene Person in der Lage des Betroffenen gefügig zu machen und so seine freie Willensbildung und -betätigung zu beschränken (BGE 120 IV 17 E. 2a/aa mit Hinweisen). Die Möglichkeit, dem angedrohten Nachteil auf dem Rechtsweg zu begegnen, lässt dessen Ernstlichkeit nicht ohne weiteres entfallen (BGE 115 IV 207 E. 2a; einschränkender noch 107 IV E. 3a; vgl. dazu auch MARTIN SCHUBARTH, a.a.O., N. 33, 37 zu Art. 181 StGB; GÜNTER STRATENWERTH, a.a.O., § 5 N. 9, je mit weiteren Hinweisen).
b) Die Vorinstanz hielt verbindlich fest (Art. 277bis BStP), dass der Beschwerdeführer sich weigerte, die Akten herauszugeben und Auskunft über die getroffenen Vorkehren zu geben, um den Auftraggeber zur teilweisen Begleichung offener Honorarforderungen zu veranlassen. Damit drohte der Beschwerdeführer mit einer Unterlassung - der Nichtherausgabe von Akten - während laufender Prozessfristen und obwohl der Bedrohte die Unterlagen dringend benötigte, um die hängigen Gerichtsverfahren weiterzuführen. Dieser war somit vor die Wahl gestellt, entweder den geforderten Betrag umgehend zu bezahlen oder bis auf weiteres auf die Akten zu verzichten. Wohl stand ihm die Möglichkeit offen, die Akten gerichtlich herauszuverlangen, doch riskierte er dabei, mangels Kenntnis des genauen Standes der Verfahren Fristen zu versäumen. Im übrigen haben Gerichtsverfahren oft einen ungewissen Ausgang und sind für die beteiligten Parteien häufig mit einem erheblichen Aufwand verbunden. Aus diesen Gründen verletzte die Vorinstanz kein Bundesrecht, wenn sie hier das Tatbestandsmerkmal der Androhung eines erheblichen Nachteils gemäss Art. 181 StGB als erfüllt ansah. Die Handlungsalternative, vor die der Bedrohte durch den Beschwerdeführer gestellt wurde, war ohne weiteres geeignet, eine besonnene Person in seiner Lage unabhängig von seinen finanziellen Möglichkeiten gefügig zu machen. Deshalb kommt es hier auf
BGE 122 IV 322 S. 326
die konkreten Vermögensverhältnisse des Opfers für die Prüfung der Ernstlichkeit der Drohung nicht an.

2. Zu prüfen ist, ob das Verhalten des Beschwerdeführers rechtswidrig war.
a) Unrechtmässig ist eine Nötigung, wenn das Mittel oder der Zweck unerlaubt ist oder wenn das Mittel zum erstrebten Zweck nicht im richtigen Verhältnis steht oder wenn die Verknüpfung zwischen einem an sich zulässigen Mittel und einem erlaubten Zweck rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig ist (BGE 120 IV 17 E. 2a/bb mit Hinweisen). Der Täter bedient sich eines unzulässigen Mittels insbesondere bei der Nichterfüllung eines Anspruchs, einem Delikt, beim Boykott oder bei der Androhung einer völlig unbegründeten Strafanzeige (vgl. BGE 101 IV 298 E. 4; BGE 107 IV 35 E. 2; BGE 115 IV 207 E. 2b/cc; BGE 120 IV 17 E. 2b).
b) Die Vorinstanz erblickte die Rechtswidrigkeit der Nötigung im angewendeten Mittel. Sie verneinte ein obligatorisches Retentionsrecht des Beschwerdeführers mit der Begründung, der Beauftragte müsse dem Auftraggeber gemäss Art. 400 OR auf Verlangen alles herausgeben, was ihm aus dem Auftragsverhältnis zugekommen sei. Ein dingliches oder obligatorisches Retentionsrecht zur Sicherung der Honoraransprüche bestehe nur an vermögenswerten Gegenständen, nicht aber an Urkunden, insbesondere nicht an Akten.

3. Will der Beauftragte die Herausgabe des in Ausführung des Mandats Erlangten zurückbehalten, bis der Auftraggeber das geschuldete Honorar beglichen hat, stehen ihm hierzu grundsätzlich das dingliche Retentionsrecht (Art. 895 ZGB), das Leistungsverweigerungsrecht (Art. 82 OR) und das von der Rechtsprechung und Lehre herausgebildete obligatorische Retentionsrecht zur Verfügung. Nachfolgend ist zu prüfen, ob sich der Beschwerdeführer auf eines dieser Zurückbehaltungsrechte berufen konnte.
a) Die Art. 895 ff. ZGB umschreiben das sogenannt dingliche Retentionsrecht. Nach Art. 895 Abs. 1 ZGB kann der Gläubiger bewegliche Sachen und Wertpapiere, die sich mit Willen des Schuldners in seinem Besitze befinden, bis zur Befriedigung für seine Forderung zurückbehalten, wenn die Forderung fällig ist und ihrer Natur nach mit dem Gegenstande der Retention in Zusammenhang steht. An Sachen, deren Natur eine Verwertung nicht zulässt, kann das Retentionsrecht jedoch nicht ausgeübt werden (Art. 896 Abs. 1). Ebenso ist die Retention ausgeschlossen, wenn ihr eine vom Gläubiger übernommene Verpflichtung, oder eine vom Schuldner vor oder bei der Übergabe der Sache erteilte Vorschrift oder die
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öffentliche Ordnung entgegensteht (Art. 896 Abs. 2 ZGB). Voraussetzung ist überdies, dass der herauszugebende Gegenstand fremd ist (BGE 48 II 167 E. 2).
Es wird vorliegend nicht geltend gemacht, die zurückbehaltenen Akten seien verwertbar im Sinne der genannten Bestimmung gewesen. Irgendwelche Anhaltspunkte, welche für die Verwertbarkeit sprächen, sind auch keine ersichtlich. Deshalb konnte sich der Beschwerdeführer nicht auf ein dingliches Retentionsrecht an den Akten nach Art. 895 Abs. 1 ZGB berufen.
b) Das sogenannte Leistungsverweigerungsrecht bei zweiseitigen Verträgen ist in Art. 82 OR festgelegt. Diese Bestimmung lautet wie folgt:
"Wer bei einem zweiseitigen Vertrage den andern zur Erfüllung anhalten will, muss entweder bereits erfüllt haben oder die Erfüllung anbieten, es sei denn, dass er nach dem Inhalte oder der Natur des Vertrages erst später zu erfüllen hat."
Beim entgeltlichen Auftrag steht der Anspruch des Beauftragten auf Ersatz der Auslagen und Verwendungen und Befreiung von eingegangenen Verbindlichkeiten nicht ohne weiteres in einem Austauschverhältnis zu den Gegenständen, die er nach Art. 400 Abs. 1 dem Auftraggeber abzuliefern hat (vgl. BGE 94 II 267). Gleiches hat zu gelten für das Verhältnis zwischen dem geschuldeten Honorar und der auftragsrechtlichen Herausgabepflicht, sofern diese nur eine Nebenleistungspflicht ist. In solchen Fällen kann nicht von einem zweiseitigen Vertrag im Sinne von Art. 82 OR gesprochen werden. Da die Pflicht zur Herausgabe der Akten hier nicht auf die Hauptpflichten der Parteien ausgerichtet war, fällt die Bestimmung des Art. 82 OR ausser Betracht (BGE 107 II 413, vgl. sinngemäss bereits BGE 89 II 235).
c) Zu prüfen bleibt, ob sich der Beschwerdeführer zu Recht auf ein obligatorisches Retentionsrecht beruft.
aa) Art. 400 Abs. 1 OR verpflichtet den Beauftragten, auf Verlangen jederzeit über seine Geschäftsführung Rechenschaft abzulegen und alles, was ihm infolge derselben aus irgend einem Grunde zugekommen ist, zu erstatten. Art. 401 Abs. 3 OR verweist auf das Retentionsrecht des Beauftragten: Danach kann der Auftraggeber im Konkurse des Beauftragten, unter Vorbehalt der Retentionsrechte desselben, die beweglichen Sachen herausverlangen, die dieser in eigenem Namen, aber für Rechnung des Auftraggebers zu Eigentum erworben hat.
BGE 122 IV 322 S. 328
Die Herausgabepflicht des Beauftragten umfasst nach der Rechtsprechung alles, was ihm in Ausführung des Mandats vom Auftraggeber ausgehändigt worden oder von Dritten zugekommen ist (BGE 91 II 442, S. 451; BGE 78 II 376, S. 378). Wie weit sie reicht, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Die Rechtsprechung hat festgelegt, dass sie alle Dokumente umfasst, die sich auf die im Interesse des Auftraggebers besorgten Geschäfte beziehen, wobei rein interne Dokumente wie vorbereitende Studien, Notizen, Entwürfe, Materialsammlungen, eigene Buchhaltungen ausgenommen sind (Urteil des Bundesgerichts vom 17. Juni 1980, publiziert in ZR 80 Nr. 24 S. 73 ff.; ebenso WALTER FELLMANN, Berner Kommentar, 1992, N. 136 zu Art. 400 OR; JOSEF HOFSTETTER, Schweizerisches Privatrecht, S. 92 f.; JÖRG SCHMID, Die Geschäftsführung ohne Auftrag, Freiburg 1992, S. 147 ff.; PIERRE TERCIER, Les contrats spéciaux, Zürich 1995, N. 4056; ROLF H. WEBER, Basler Kommentar, N. 12 zu Art. 400 OR; ohne Einschränkung FRANZ WERRO, Le mandat et ses effets, Fribourg 1993, S. 178).
bb) Die Rechtsprechung hat im Anschluss an VON THUR ein obligatorisches Retentionsrecht dort anerkannt, wo weder das dingliche Retentionsrecht nach Art. 895 ZGB noch das Leistungsverweigerungsrecht gemäss Art. 82 OR greift. Sie begründete dies damit, dass es rechtsmissbräuchlich und unbillig wäre, wenn eine Partei vertragliche Ansprüche durchsetzen könnte, ohne ihre eigenen Pflichten zu erfüllen. Deshalb müsse dem Beauftragten in den genannten Fällen ein im Gesetz nicht geregeltes obligatorisches Retentionsrecht eingeräumt werden, das ihm erlaube, seine Leistung zu verweigern, bis die ihm aus dem gleichen Verhältnis geschuldete Leistung gewährt werde (BGE 78 II 376; 94 II 267, je mit Hinweisen; vgl. aber BGE 86 II 355 E. 4, wo das Retentionsrecht des Beauftragten nur unter dem Gesichtspunkt des dinglichen Retentionsrechts gemäss Art. 895 ZGB geprüft wurde; FELLMANN, a.a.O., N. 186 ff. zu Art. 400 OR mit Hinweisen; VON THUR/ESCHER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. II, Zürich 1974, § 64 VIII [S. 68]).
Fraglich ist, ob sich das obligatorische Retentionsrecht beim Auftrag auch auf Gegenstände erstreckt, deren Natur mangels Vermögenswert eine Verwertung nicht zulässt. Das Bundesgericht hat in einem älteren Entscheid ein obligatorisches Retentionsrecht an Urkunden, die keine Wertpapiere sind, verneint (BGE 78 II 376, S. 378 f.). Bei diesem Entscheid ging es darum, dass ein Buchhalter von einer Aktiengesellschaft mit der Besorgung ihrer Buchhaltung beauftragt worden war. Nach Beendigung des Auftragsverhältnisses
BGE 122 IV 322 S. 329
weigerte er sich, die ihm überlassenen Unterlagen ohne vorherige Prüfung der Buchführung und Décharge-Erteilung zu erstatten. Das Bundesgericht verneinte hier ein Retentionsrecht an den nicht verwertbaren Urkunden, weil der gesetzlich begründete Anspruch auf Décharge-Erteilung nicht Vertragsinhalt war. Angesichts des auf diesen besonderen Fall zugeschnittenen Urteils erscheint ungewiss, ob die Verneinung eines obligatorischen Retentionsrechts an nicht verwertbaren Urkunden im Rahmen eines Auftrags verallgemeinerbar ist.
Die überwiegende Lehre geht gestützt auf Art. 896 Abs. 1 ZGB generell davon aus, ein obligatorisches Zurückbehaltungsrecht an nicht verwertbaren Urkunden sei nicht zulässig (vgl. EUGEN BUCHER, Obligationenrecht Besonderer Teil, 3. Aufl., Zürich 1988, S. 231; GEORG GAUTSCHI, Berner Kommentar, N. 18 a und b zu Art. 400 OR; HEINRICH HONSELL, Schweizerisches Obligationenrecht, Besonderer Teil, 3. Aufl., Bern 1995, S. 278; OSER/SCHÖNENBERGER, Zürcher Kommentar, 2. Aufl. 1936, N. 16 zu Art. 401 OR; TERCIER, a.a.O., N. 4128; ROLF H. WEBER, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Basel 1991, N. 19 zu Art. 400 OR; anders FELLMANN, a.a.O., N 188 f. zu Art. 400 OR; OFTINGER/BÄR, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1981, N. 7 zu Art. 896, N. 202 zu Art. 895 ZGB). FELLMANN kritisiert diese Auffassung und spricht sich dagegen aus, Art. 896 Abs. 1 ZGB auf das obligatorische Retentionsrecht anzuwenden. Während das dingliche Retentionsrecht auf die Möglichkeit und das Recht der Verwertung des retinierten Gegenstandes hinziele, verschaffe das obligatorische Zurückbehaltungsrecht dem Schuldner lediglich ein Druckmittel, um den Gläubiger seinerseits zur Erbringung der versprochenen Leistung zu zwingen. Als Mittel indirekten Zwangs setze es keine Verwertbarkeit des Zurückbehaltenen voraus (FELLMANN, a.a.O., ebd.).
cc) Im hier zu beurteilenden Fall macht der Beschwerdeführer nicht geltend und es ist im übrigen auch nicht ersichtlich, dass die zurückbehaltenen Akten rein interner Natur gewesen seien, was - wie aufgezeigt - von der Herausgabepflicht nicht erfasst würde (vorne E. c/aa am Ende). Die Frage, ob dem Beschwerdeführer ein obligatorisches Retentionsrecht an den ihm überlassenen und von ihm geschaffenen Prozessakten zustand oder nicht, ist in Bestätigung der Rechtsprechung von BGE 78 II 376 und der insoweit übereinstimmenden Lehrmeinungen zu verneinen. Das obligatorische Retentionsrecht dient gleichermassen wie das dingliche Retentionsrecht als Druck- und Sicherungsmittel, um den Schuldner zur
BGE 122 IV 322 S. 330
Leistungserbringung zu zwingen (BGE 78 II 376, S. 378; FELLMANN, a.a.O., N. 194 zu Art. 400 OR; SCHRANER, Zürcher Kommentar, N. 8 zu Art. 82 OR; WEBER, a.a.O., N. 9 zu Art. 82 OR). Entgegen der Auffassung von FELLMANN gebietet die beim obligatorischen Retentionsrecht gegenüber dem dinglichen fehlende Möglichkeit der Verwertung des retinierten Gegenstandes wie ein Faustpfand (Art. 898 ZGB) nicht, das Retentionsrecht auch auf nicht verwertbare Gegenstände auszudehnen (FELLMANN, a.a.O., N. 188 f. zu Art. 400 OR). Eine solche Lösung würde der Interessenlage beim Auftrag nicht gerecht. Hat der Beauftragte seine Arbeit auf Kredit gewährt, soll er nur vermögenswerte Gegenstände retinieren dürfen. Dafür spricht unter anderem, dass der Beauftragte nur soviel zurückbehalten darf, als zur Deckung bzw. angemessenen Sicherung seiner Forderung gegenüber dem Auftraggeber erforderlich ist. Massstab bildet der mutmassliche Verwertungserlös. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass der Beauftragte das Retentionsrecht zu Unrecht oder unangemessen ausgeübt hat, weil die bestrittene Forderung nicht im behaupteten Umfang bestand und/oder das Retentionsrecht übermässig beansprucht wurde, so haftet er wegen nicht rechtzeitiger Erfüllung der Ablieferungsobligation für den Schaden gemäss Art. 97 OR (vgl. BGE 46 II 381 E. 3; BGE 78 II 140 E. 4; FELLMANN, a.a.O., N. 207 f. zu Art. 400 OR; GAUTSCHI, a.a.O., N. 18b zu Art. 400 OR; VON THUR/ESCHER, a.a.O., § 64 IV [S. 64]). Eine derartige quantitative Beschränkung des obligatorischen Retentionsrechts macht nur Sinn, wenn dieses sich lediglich auf vermögenswerte Sachen oder Wertpapiere erstreckt. Im übrigen räumt auch FELLMANN ein, dass es unter anderem dem Treuhänder nicht gestattet sei, dem Auftraggeber Akten und Beweismittel vorzuenthalten, wenn dieser dank ihnen seine Ansprüche gegen einen Dritten durchsetzen könnte und eine Situation zeitlicher Dringlichkeit vorliegt (FELLMANN, a.a.O., N. 202 zu Art. 400 OR; vgl. auch WEBER, a.a.O., N. 193 ff. zu Art. 82 OR). Endlich ist darauf hinzuweisen, dass der Beauftragte unter anderem die Möglichkeit hat, retinierte Vermögenswerte auf dem Betreibungsweg verwerten zu lassen. Auch wenn er den Erlös unter Umständen mit anderen Gläubigern teilen muss, rückt das obligatorische Retentionsrecht in solchen Fällen jedenfalls im Ergebnis in die Nähe des dinglichen Retentionsrechts.
Aus diesen Gründen wäre es nicht sachgerecht, im Rahmen eines Auftrags ein obligatorisches Retentionsrecht an nicht verwertbaren Gegenständen zuzulassen. Die Vorinstanz hat deshalb insoweit zu Recht ein Retentionsrecht des Beschwerdeführers an den fraglichen
BGE 122 IV 322 S. 331
Akten verneint und die Rechtswidrigkeit der Nötigung bejaht. Dass ein Retentionsrecht an Akten vereinbart gewesen sei, macht der Beschwerdeführer nicht geltend und ist im übrigen auch nicht ersichtlich.
d) Der Beschwerdeführer bringt (sinngemäss) vor, die Standesregel des aargauischen Anwaltsverbandes, wonach der Anwalt ohne Einverständnis seines Vorgängers kein Mandat übernehmen dürfe, wenn der früher beauftragte Anwalt nicht bezahlt sei, räume dem Anwalt ein Recht zur Ausübung indirekten Zwanges gegenüber seinem ehemaligen Klienten ein. Um auch dem Treuhänder ein Druckmittel zur Eintreibung offener Honorarforderungen nach Beendigung eines Mandats in die Hand zu geben, sei ihm in Analogie zur Standesregel ein Aktenretentionsrecht einzuräumen.
Der Einwand ist offensichtlich unbehelflich. Die Ausübung des Anwaltsberufes untersteht der staatlichen Bewilligung und Aufsicht (§ 2 des Aargauischen Anwaltsgesetzes, nachfolgend AnwG). Gemäss § 17 Abs. 3 AnwG gibt der Anwalt seinem Auftraggeber auf Verlangen die Akten heraus, ohne Rücksicht darauf, ob seine Honoraransprüche gedeckt sind oder nicht. § 20 der Standesregeln des Aargauischen Anwaltsverbandes bestimmt, dass der Anwalt ohne Einverständnis seines Vorgängers kein Mandat übernimmt, wenn der früher beauftragte Anwalt nicht bezahlt ist (Abs. 1). Ist die Honorarforderung des früher beauftragten Anwaltes streitig, darf der Anwalt das Mandat nur übernehmen, wenn der geforderte Betrag deponiert oder sichergestellt ist. In dringlichen Fällen, wie Wahrung laufender Fristen, darf von dieser Regel abgewichen werden, jedoch nur so lange, als die Dringlichkeit besteht (Abs. 2). Diese Standesregel richtet sich nur an Anwälte, die Mitglied des Aargauischen Anwaltsverbandes sind. Da der Beschwerdeführer als Nicht-Anwalt weder den Bestimmungen des AnwG noch den Standesregeln unterstand, vermag er aus letzteren kein den Anwälten verschlossenes Aktenretentionsrecht für sich abzuleiten. Überdies lag hier aufgrund laufender Fristen ein dringlicher Fall im Sinne von § 20 Abs. 2 der Standesregeln vor, weshalb selbst ein Anwalt die Mandatsübernahme durch einen neuen Anwalt zur Fristenwahrung nicht hätte verhindern können.

4. (Kostenfolgen)

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