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Urteilskopf

140 III 550


80. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Handelsgericht des Kantons Zürich (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_396/2014 vom 20. November 2014

Regeste

Sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts (Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO; Art. 164 HRegV).
Gerichtliche Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit fallen nicht unter den bundesrechtlichen Begriff der Streitigkeiten aus dem Recht der Handelsgesellschaften und Genossenschaften; das Handelsgericht ist für ein Wiedereintragungsverfahren nach Art. 164 HRegV sachlich nicht zuständig (E. 2).

Erwägungen ab Seite 550

BGE 140 III 550 S. 550
Aus den Erwägungen:

2. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe sich zu Unrecht für sachlich unzuständig erklärt. Im Kanton Zürich sei das Handelsgericht für die Behandlung eines Gesuchs um Wiedereintragung nach Art. 164 der Handelsregisterverordnung vom 17. Oktober 2007 (HRegV; SR 221.441) sachlich zuständig.
BGE 140 III 550 S. 551

2.1 Gemäss Art. 164 HRegV kann das Gericht auf Antrag die Wiedereintragung einer gelöschten Rechtseinheit anordnen, sofern u.a. glaubhaft gemacht wird, dass nach Abschluss der Liquidation der gelöschten Rechtseinheit Aktiven vorliegen, die noch nicht verwertet oder verteilt worden sind (lit. a). Zum Antrag ist berechtigt, wer ein schutzwürdiges Interesse an der Wiedereintragung der gelöschten Rechtseinheit hat (Abs. 2); hierzu gehören nach der Rechtsprechung namentlich die Verwaltungsräte, Liquidatoren, Aktionäre und Gläubiger (Urteil 4A_16/2010 vom 6. April 2010 E. 2.1).
Bei der Wiedereintragung nach Art. 164 HRegV handelt es sich um eine gerichtliche Anordnung der freiwilligen Gerichtsbarkeit i.S. von Art. 1 lit. b ZPO. Nur der Gesuchsteller ist am Wiedereintragungsverfahren als Partei beteiligt; eine Gegenpartei gibt es nicht, auch das Handelsregisteramt stellt keine solche dar (Urteil 4A_412/2013 vom 19. Dezember 2013 E. 1 unter Hinweis auf DAVID RÜETSCHI, in: Handelsregisterverordnung [HRegV], Siffert/Turin [Hrsg.], 2013, N. 3 und 32 zu Art. 164 HRegV).

2.2 Die Vorinstanz führt im angefochtenen Entscheid aus, dass das Handelsgericht gemäss § 45 lit. c des zürcherischen Gesetzes über die Gerichts- und Behördenorganisation im Zivil- und Strafprozess (GOG/ZH; LS 211.1) nur für "Streitigkeiten" zuständig sei. Anordnungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit seien keine kontradiktorischen Verfahren und somit vom Verweis nach § 45 lit. c GOG/ZH ausgeschlossen. Das Handelsgericht sei daher für ein Wiedereintragungsverfahren nach Art. 164 HRegV sachlich nicht zuständig. In ihrer Vernehmlassung an das Bundesgericht schiebt die Vorinstanz nach, dass die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts auch gemäss dem Wortlaut von Art. 6 ZPO auf "Streitigkeiten" beschränkt sei.

2.3 Gemäss Art. 6 Abs. 1 ZPO können die Kantone ein Fachgericht bezeichnen, das als einzige kantonale Instanz für handelsrechtliche Streitigkeiten zuständig ist (Handelsgericht). Der Begriff der handelsrechtlichen Streitigkeiten wird in Art. 6 Abs. 2 ZPO definiert. Nach Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO können die Kantone das Handelsgericht ausserdem für Streitigkeiten aus dem Recht der Handelsgesellschaften und Genossenschaften zuständig erklären. Der Kanton Zürich hat von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht und sowohl für Streitigkeiten gemäss Art. 6 Abs. 2 ZPO als auch für Streitigkeiten gemäss Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO ein Handelsgericht eingesetzt (§ 44 lit. b GOG/ZH; BGE 138 III 471 E. 1.1 S. 476).
BGE 140 III 550 S. 552
Mit Art. 6 ZPO hat der Bundesgesetzgeber für den Fall, dass ein Kanton ein Handelsgericht schafft, die sachliche Zuständigkeit für jene Streitigkeiten, welche die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 4 ZPO erfüllen, geregelt (BGE 140 III 155 E. 4.3). Bei den Begriffen der handelsrechtlichen Streitigkeiten bzw. der Streitigkeiten aus dem Recht der Handelsgesellschaften und Genossenschaften handelt es sich um bundesrechtliche Begriffe: Richten die Kantone ein Handelsgericht ein, sind die Fälle gemäss Art. 6 Abs. 2 ZPO zwingend dem Handelsgericht zugewiesen, soweit dem nicht andere bundesrechtliche Vorschriften entgegenstehen (BGE 140 III 155 E. 4 S. 156 ff.). Dies gilt auch für die Fälle gemäss Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO, sofern der Kanton - wie hier Zürich - diese Streitigkeiten dem Handelsgericht zuweist. Das kantonale Recht kann die handelsgerichtliche Zuständigkeit für die bundesrechtlich definierten Streitigkeiten aus dem Recht der Handelsgesellschaften und Genossenschaften in sachlicher Hinsicht nicht einschränken, wenn es von der Möglichkeit gemäss Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO Gebrauch gemacht hat. Einzig die Einführung von Streitwertgrenzen ist zulässig (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7261 unten).
Daraus folgt, dass sich das Zürcher Handelsgericht nur dann für sachlich unzuständig erklären darf, wenn das Wiedereintragungsverfahren als Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit i.S. von Art. 1 lit. b ZPO nicht unter den bundesrechtlichen Begriff der Streitigkeiten aus dem Recht der Handelsgesellschaften und Genossenschaften gemäss Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO fällt.

2.4 Die einschlägigen Kommentare zu Art. 6 ZPO schweigen sich zur Frage, ob Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit in die sachliche Zuständigkeit der Handelsgerichte fallen, aus. SENEL hält in seiner Dissertation zwar dafür, dass dem "Oberbegriff" der Streitigkeiten auch die nichtstreitige Gerichtsbarkeit zuzuordnen sei, will aber die Zuständigkeit der Handelsgerichte dennoch auf "streitige Zivilsachen" beschränken (TOYLAN SENEL, Das handelsgerichtliche Verfahren nach der neuen Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2011, S. 73). Zum Wiedereintragungsverfahren nach Art. 164 HRegV vertritt dahingegen RÜETSCHI (a.a.O., N. 35 zu Art. 164 HRegV) die Auffassung, dass dieses von Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO erfasst sei, wobei dieser Autor unter die Streitigkeiten aus dem Recht der Handelsgesellschaften und Genossenschaften ganz allgemein die "gesellschaftsrechtlichen Zivilsachen" zu subsumieren scheint.
BGE 140 III 550 S. 553

2.5 Der Wortlaut des Begriffs "Streitigkeiten" scheint demgegenüber freiwillige, also nichtstreitige Verfahren gerade auszuschliessen, setzt doch eine Streitigkeit grammatikalisch eine Meinungsverschiedenheit zwischen mindestens zwei Parteien voraus; eine solche fehlt aber bei einem Verfahren nach Art. 164 HRegV, welches keine Gegenpartei kennt (oben E. 2.1, m.H. auf das Urteil 4A_412/2013 vom 19. Dezember 2013 E. 1).
In systematischer Hinsicht nimmt der Begriff der Streitigkeit nach Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO sodann auf jenen der streitigen Zivilsache gemäss Art. 1 lit. a ZPO Bezug. Als solche gilt gemäss der Rechtsprechung ein kontradiktorisches Verfahren zwischen mindestens zwei Parteien, das auf die endgültige, dauernde Regelung zivilrechtlicher Verhältnisse im Sinne einer res iudicata abzielt (BGE 136 III 178 E. 5.2 S. 183; BGE 124 III 44 E. 1a S. 46; BGE 123 III 346 E. 1a S. 349). Um ein solches Verfahren handelt es sich beim Wiedereintragungsverfahren gemäss Art. 164 HRegV aber gerade nicht.
Der Wortlaut und der systematische Zusammenhang von Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO sprechen mithin dagegen, das Wiedereintragungsverfahren in die handelsgerichtliche Zuständigkeit zu verweisen.

2.6 Der Wortlaut ist Ausgangspunkt der Auslegung. Vom daraus abgeleiteten Sinn ist jedoch abzuweichen, wenn triftige Gründe bestehen, dass der Gesetzgeber diesen nicht gewollt haben kann. Solche Gründe können sich insbesondere aus der Entstehungsgeschichte der Norm oder aus ihrem Zweck ergeben. Neben dem Wortlaut und der Gesetzessystematik sind demnach bei der Auslegung auch das historische und das teleologische Element zu berücksichtigen (BGE 138 III 166 E. 3.2 S. 168; BGE 134 III 273 E. 4 S. 277).

2.7 In den Materialien findet sich keine ausdrückliche Aussage dazu, ob auch nichtstreitige Verfahren in die handelsgerichtliche Zuständigkeit fallen sollen. Laut der Botschaft des Bundesrats orientiert sich die sachliche Zuständigkeit der Handelsgerichte indessen an den damals geltenden kantonalen Regeln (Botschaft, a.a.O., 7261; BGE 140 III 355 E. 2.3.2). Es ist damit zu prüfen, ob das frühere Recht der vier Handelsgerichtskantone die freiwillige Gerichtsbarkeit in die Zuständigkeit der Handelsgerichte verwies.
Art. 14 und 15 aZPO/SG knüpften die Zuständigkeit des St. Galler Handelsgerichts ebenso wie Art. 6 ZPO an das Vorliegen einer "Streitigkeit". Die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit fielen nicht unter diesen Begriff (LEUENBERGER/UFFER-TOBLER, Kommentar
BGE 140 III 550 S. 554
zur Zivilprozessordnung des Kantons St. Gallen, 1999, N. 2 zu Art. 14 aZPO/SG).
§ 404 aZPO/AG setzte für die Zuständigkeit des Aargauer Handelsgerichts eine "Streitsache" voraus. Die freiwillige Gerichtsbarkeit, namentlich auch jene aus dem Bereich der Handelsgesellschaften und der Genossenschaft, fiel nicht in die Zuständigkeit des Handelsgerichts, sondern des ordentlichen erstinstanzlichen Gerichtspräsidenten (ALBERT KILLER, in: Kommentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, Bühler et al. [Hrsg.], 2. Aufl., 1998, N. 1e zu § 297 sowie N. 5 zu § 300 aZPO/AG).
Auch Art. 5 aZPO/BE verwies nur "Streitigkeiten" bzw. "Klagen" in die Kompetenz des Berner Handelsgerichts. Gemäss Art. 2 aEG ZGB/BE fielen die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet der Handelsgesellschaften und der Genossenschaft wie im Kanton Aargau in die Zuständigkeit des ordentlichen erstinstanzlichen Gerichtspräsidenten.
Schliesslich sahen auch die §§ 61 und 62 des aGVG/ZH die Zuständigkeit des Zürcher Handelsgerichts nur bei Vorliegen einer "Klage" oder eines "Streits" vor. Die freiwillige Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet der Handelsgesellschaften und der Genossenschaft fiel gemäss § 219 lit. c aZPO/ZH in die Kompetenz des Einzelrichters, jedoch nicht des Handelsgerichts, sondern des Bezirksgerichts (§ 61 Abs. 2 aGVG/ZH e contrario ; zur sachlichen Zuständigkeit des Einzelrichters am Handelsgericht ausführlich JOHANN JAKOB ZÜRCHER, Der Einzelrichter am Handelsgericht des Kantons Zürich, 1998, S. 3 ff.).
Das historische Auslegungselement spricht damit ebenso wie das grammatikalische und systematische gegen die Subsumtion des Wiedereintragungsverfahrens unter den Begriff der Streitigkeit nach Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO.

2.8 Die Handelsgerichtsbarkeit zeichnet sich durch das Zusammenwirken von höheren Berufsrichtern und fachkundigen Laienhandelsrichtern aus den jeweils vom Streit betroffenen Branchen aus (Botschaft, a.a.O., 7261). Handelsgerichte weisen als Fachgerichte mithin namentlich Fachwissen auf.
Ein solches ist freilich bei der Beurteilung, ob eine gelöschte Handelsgesellschaft oder eine Genossenschaft gestützt auf Art. 164 HRegV wieder in das Handelsregister eingetragen werden soll, gerade nicht erforderlich: Im Wiedereintragungsverfahren ist lediglich zu beurteilen, ob nach Abschluss der Liquidation der gelöschten
BGE 140 III 550 S. 555
Gesellschaft noch unverwertete bzw. unverteilte Aktiven vorliegen (lit. a), die gelöschte Gesellschaft in einem Gerichtsverfahren als Partei teilnimmt (lit. b), die Wiedereintragung für die Bereinigung eines öffentlichen Registers notwendig (lit. c) oder für die Beendigung des Konkursverfahrens der gelöschten Gesellschaft erforderlich ist (lit. d).
Zur Beurteilung dieser Fragen ist in aller Regel weder ein Branchenwissen noch ein spezifisch gesellschaftsrechtliches Wissen erforderlich, weshalb auch in teleologischer Hinsicht nicht angezeigt ist, vom Wortsinn des Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO abzuweichen und unter den Begriff der Streitigkeiten auch das Wiedereintragungsverfahren nach Art. 164 HRegV zu subsumieren.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 2

Referenzen

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