Urteilskopf
149 IV 369
37. Auszug aus dem Urteil der I. strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Beschwerde in Strafsachen)
6B_821/2021 vom 6. September 2023
Regeste
Art. 196, 197 und 244 StPO; Anforderungen an den Tatverdacht bei Hausdurchsuchungen; unzulässige Beweisausforschung.
Eine unzulässige Beweisausforschung (sog. "fishing expedition") besteht, wenn einer Zwangsmassnahme kein genügender Tatverdacht zugrunde liegt, sondern aufs Geratewohl bzw. planlos Beweisaufnahmen getätigt werden. Abgrenzung vom Zufallsfund im Sinne von Art. 243 StPO. Bejahung einer "fishing expedition" im vorliegenden Fall (E. 1.1-1.4).
A. Die Staatsanwaltschaft Abteilung 2 Emmen wirft A. vor, am 14. August 2014 in Rothenburg und Urswil, am 17. August 2014 in Malters, Schwarzenberg und Littau, am 10. April 2015 in Malters und Schwarzenberg und am 9. April 2017 in Emmen im Wesentlichen die Verkehrsregeln qualifiziert verletzt sowie am 15. August 2018 in Eigenthal diverse andere Delikte begangen zu haben.
B. Das Kriminalgericht des Kantons Luzern erkannte am 6. Februar 2020 A. für schuldig der mehrfachen qualifiziert groben Verletzung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 3 und Abs. 4 lit. b und c SVG, der mehrfachen groben Verletzung von Verkehrsregeln nach
Art. 90 Abs. 2 SVG, des mehrfachen Fahrens ohne Berechtigung nach
Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG sowie weiterer diverser Delikte des SVG, StGB und des kantonalen Übertretungsstrafrechts. Es verurteilte A. unter Berücksichtigung einer zu widerrufenden Vorstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und elf Monaten, einer Geldstrafe von zwanzig Tagessätzen zu je Fr. 130.- und zu einer Busse von Fr. 800.-.
C. Mit Urteil vom 5. März 2021 bestätigte das Kantonsgericht des Kantons Luzern den Schuldspruch der ersten Instanz im Umfang dessen Anfechtung. Die Freiheitsstrafe wurde auf vier Jahre und achteinhalb Monate, die Geldstrafe auf zwanzig Tagessätze zu je Fr. 70.- und die Busse auf Fr. 560.- reduziert.
D. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A., er sei vom Vorwurf der mehrfachen qualifizierten groben Verletzung der Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 3 und Abs. 4 lit. b und c SVG die Vorfälle vom 17. August 2014 und 10. April 2015 betreffend, der mehrfachen groben Verletzung der Verkehrsregeln nach
Art. 90 Abs. 2 SVG die Vorfälle vom 14. August 2014, 17. August 2014 und 10. April 2015 betreffend sowie des mehrfachen Fahrens ohne Berechtigung nach
Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG die Vorfälle vom 10. April 2015 betreffend freizusprechen. Die Sache sei zur erneuten Beurteilung des
BGE 149 IV 369 S. 371
Strafmasses sowie der Kosten- und Nebenfolgen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem ersucht A. mit Eingabe vom 24. August 2021 um die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Das Kantonsgericht verzichtete auf eine Stellungnahme. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern liess sich am 2. September 2022 vernehmen. A. verzichtete auf eine Replik.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
1.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, dass es sich bei der Hausdurchsuchung gegen seinen Vater, anlässlich der die ihn belastenden Videoaufnahmen gefunden worden seien, um eine unzulässige Beweisausforschung (sog. "fishing expedition") gehandelt habe. Es habe kein hinreichender Tatverdacht gegen seinen Vater auf weitere Delikte vorgelegen. Die auf der beschlagnahmten Speicherkarte (SD-Karte) zufällig gefundenen Videoaufnahmen seien deshalb nicht verwertbar. Er macht in diesem Zusammenhang sinngemäss auch eine willkürliche Tatsachenfeststellung der Vorinstanz geltend.
1.2 Die Vorinstanz stellt fest, dass B., der Vater des Beschwerdeführers, am 12. April 2015 ausserorts mit seinem Motorrad mit einer Geschwindigkeit von brutto 164 km/h (nach Sicherheitsabzug: 159 km/h) anstelle der erlaubten 80 km/h unterwegs war. Er wurde hierbei von einer Laserkontrolle erfasst und von der Polizei angehalten. Gleichentags wurde eine Hausdurchsuchung in der Wohnung von B. durchgeführt, bei der u.a. eine GoPro-Kamera inklusive SD-Karte beschlagnahmt wurden. Bei der darauffolgenden Auswertung der SD-Karte stiessen die Untersuchungsbehörden auf Videoaufnahmen, auf denen zu sehen sei, wie der Beschwerdeführer mit seinem Motorrad diverse Strassenverkehrsdelikte, namentlich Geschwindigkeitsübertretungen, begangen haben soll.
Die Vorinstanz erwägt in rechtlicher Hinsicht, aufgrund der Tatsache, dass der Vater ausserorts mit brutto 164 km/h anstelle der erlaubten 80 km/h gefahren sei und vor Ort keine Erklärung für seine massive Geschwindigkeitsübertretung habe abgeben können, sei der Verdacht aufgekommen, der Vater des Beschwerdeführers habe sich aus Reiz an der Geschwindigkeit möglicherweise weitere Strassenverkehrsdelikte zu Schulden kommen lassen. Deshalb sei ein
BGE 149 IV 369 S. 372
hinreichender Tatverdacht für weitere Strassenverkehrsdelikte, insbesondere weitere Raserfahrten, gegeben und eine Hausdurchsuchung zulässig gewesen. Es sei überdies notorisch, dass Personen, die aus Reiz an der Geschwindigkeit massive Geschwindigkeitsübertretungen begingen, ihre Fahrten oftmals dokumentierten, weshalb nach Speichermedien, Kameras und dergleichen zu suchen sei. Des Weiteren sei es auch angezeigt gewesen, nach weiteren Beweisen für die Fahrt vom 12. April 2015 zu suchen.
1.3.1 Verfahrenshandlungen der Strafbehörden, die dazu dienen, Beweise zu sichern, und mit denen in die Grundrechte der Betroffenen eingegriffen wird, sind als strafprozessuale Zwangsmassnahmen zu qualifizieren (
Art. 196 lit. a StPO). Gemäss
Art. 197 Abs. 1 StPO können Zwangsmassnahmen (
Art. 196-298 StPO) nur ergriffen werden, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können und die Bedeutung der Straftat die Zwangsmassnahme rechtfertigt. Hinweise auf eine strafbare Handlung müssen erheblich und konkreter Natur sein, um einen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können (
BGE 141 IV 87 E. 1.3.1;
BGE 137 IV 122 E. 3.2; je mit Hinweisen).
Nach
Art. 244 Abs. 2 lit. b StPO dürfen Häuser, Wohnungen und andere nicht allgemein zugängliche Räume ohne Einwilligung der berechtigten Person durchsucht werden, wenn zu vermuten ist, dass in diesen Räumen u.a. Tatspuren oder zu beschlagnahmende Gegenstände oder Vermögenswerte vorhanden sind. Schriftstücke, Ton-, Bild- und andere Aufzeichnungen, Datenträger sowie Anlagen zur Verarbeitung und Speicherung von Informationen dürfen durchsucht werden, wenn zu vermuten ist, dass sich darin Informationen befinden, die der Beschlagnahme unterliegen (
Art. 246 StPO). Der Beschlagnahme unterliegen namentlich Gegenstände einer beschuldigten Person oder einer Drittperson, die voraussichtlich als Beweismittel gebraucht werden (
Art. 263 Abs. 1 lit. a StPO). Diese Gegenstände müssen untersuchungsrelevant sein (
BGE 142 IV 207 E. 7.1;
BGE 141 IV 77 E. 4.3;
BGE 138 IV 225 E. 7.1 mit Hinweisen). Bei der Durchsuchung zufällig entdeckte Gegenstände, die mit der abzuklärenden Straftat nicht in Zusammenhang stehen, aber auf eine andere Straftat hinweisen, werden gemäss
Art. 243 Abs. 1 StPO sichergestellt.
Unter Zufallsfunden nach
Art. 243 StPO versteht man die bei der Durchführung von Zwangsmassnahmen allgemein und bei
BGE 149 IV 369 S. 373
Durchsuchungen und Untersuchungen im Besonderen zufällig entdeckten Beweismittel, Spuren, Gegenstände oder Vermögenswerte, die mit der abzuklärenden Straftat in keinem direkten Zusammenhang stehen und den ursprünglichen Verdacht weder erhärten noch widerlegen, aber auf eine weitere Straftat hinweisen (Urteil 6B_191/2016 vom 5. August 2016 E. 1.3). Zufallsfunde können ohne Einschränkungen Anlass zur Eröffnung eines neuen Strafverfahrens geben und in diesem als Beweismittel verwendet werden, soweit die ursprüngliche Massnahme rechtmässig war (Urteile 6B_1409/2019 vom 4. März 2021 E. 1.6.3; 6B_897/2019 vom 9. Januar 2020 E. 1.1.2; 6B_24/ 2019 und andere vom 3. Oktober 2019 E. 2.3; 6B_860/2018 vom 18. Dezember 2018 E. 2.3.2; je mit Hinweisen).
Abzugrenzen sind Zufallsfunde von unzulässigen Beweisausforschungen, sogenannten "fishing expeditions". Eine solche besteht, wenn einer Zwangsmassnahme kein genügender Tatverdacht zugrunde liegt, sondern aufs Geratewohl bzw. planlos Beweisaufnahmen getätigt werden. Aus Beweisausforschungen resultierende Ergebnisse sind grundsätzlich nicht verwertbar (
BGE 139 IV 128 E. 2.1;
BGE 137 I 218 E. 2.3.2; Urteile 6B_335/2020 vom 7. September 2020 E. 3.3.3; 6B_191/2016 vom 5. August 2016 E. 1.3).
1.3.2 Für die Vornahme von Durchsuchungen sind daher genügende tatsächliche Anhaltspunkte vorausgesetzt, die aufgrund besonderer Erkenntnisse und Erfahrungen den Wahrscheinlichkeitsschluss erlauben, dass ein Delikt verübt worden sein könnte (STEFAN HEIMGARTNER, Strafprozessuale Beschlagnahme, 2011, S. 121 f.; NICOLA INGLESE, Das Beweisausforschungsverbot, 2017, S. 63, je mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 1B_86/2021 vom 1. Oktober 2021 E. 3.1 mit Hinweisen). Die Indizien müssen aufgrund spezifischer Umstände oder Erkenntnisse objektivierbar sein. Eigentliche Fakten sind nicht erforderlich (HEIMGARTNER, a.a.O., S. 121 f.). Eine reine Vermutung, ein Generalverdacht oder eine Beweisaufnahme aufs Geratewohl genügen zur Begründung einer Hausdurchsuchung jedoch nicht (Urteil 6B_897/ 2019 vom 9. Januar 2020 E. 1.3.1; SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], Praxiskommentar, 4. Aufl. 2023, N. 8 zu
Art. 243 StPO).
1.4.1 Aus den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen ergibt sich, dass die Hausdurchsuchung weder geeignet noch erforderlich war, um weitere Beweise für die Fahrt vom 12. April 2015 zu sichern. Die Tat (d.h. die Geschwindigkeitsüberschreitung) und die
BGE 149 IV 369 S. 374
Täterschaft des Vaters des Beschwerdeführers lagen in jenem Zeitpunkt bereits auf der Hand. Gemäss Polizeirapport wurde der Vater unmittelbar nach der Lasermessung, d.h. "auf frischer Tat" von der Polizei angehalten und um 15.01 Uhr vorläufig festgenommen. Unter anderem wurde ihm noch vor Ort das Mobiltelefon abgenommen. Die Hausdurchsuchung erfolgte um 16.30 Uhr. Der Vater wurde schliesslich am Folgetag, dem 13. April 2015, um 12.10 Uhr aus der Haft entlassen. Wie die Untersuchungsbehörden in der Zeit, in der der Vater in Haft sass, noch am gleichen Tag in dessen Wohnung weitere Beweise für die bereits hinlänglich dokumentierte Raserfahrt hätten finden wollen, erschliesst sich aus den vorinstanzlichen Erwägungen nicht, zumal sich der Vater infolge seiner unmittelbarenVerhaftung nach dem erwähnten Delikt ("in flagranti") nicht mehr an sein Domizil begeben und allfällige Beweismittel deponieren konnte. Dasselbe gilt, soweit die Beschwerdegegnerin in der Vernehmlassung geltend macht, es habe "eine rechtsgenügliche Wahrscheinlichkeit bestanden, mit der Beschlagnahme der GoPro-Kamera die erstrebten weiteren Beweise in Bezug auf den Vorfall vom 12.04. 2015 zu finden", da (trotz Lasermessung oder Foto der Radarfalle) nicht immer von Anfang an feststehe, wer der Fahrer gewesen sei und solche Raserfahrten häufig mittels Kamera aufgezeichnet würden. Wie der Beschwerdeführer zu Recht geltend macht, geht aus den vorinstanzlichen Feststellungen namentlich nicht hervor, dass beim Vater unmittelbar nach der Tat irgendwelche Hinweise auf Kamerahalterungen etwa an dessen Lenker, Body oder Helm vorgelegen hätten, die den Verdacht auf eine "live"-Datenübertragung der Raserfahrt vom 12. April 2015 hätten wecken können. Inwieweit die Strafverfolgungsbehörden nicht über die wesentlichen und - zumindest zu diesem Zeitpunkt - für das Verfahren (gegen den Vater) notwendigen sachlichen Beweismittel verfügt haben sollen, erhellt nicht (vgl. dazu auch Urteil 1B_322/2021 vom 22. Dezember 2021 E. 2.4). Daran ändert auch nichts, dass zum Untersuchungszeitpunkt noch nicht sicher gewesen sei, ob der Vater die Geschwindigkeitsüberschreitung einräumen oder die Tempomessung anzweifeln würde. Stellt man im Übrigen auf den (nachträglich schriftlich bestätigten) Durchsuchungsbefehl der Staatsanwaltschaft ab, liess diese denn auch (einzig) nach "Beweismitteln für mutmasslich
weitere SVG-Widerhandlungen des Beschuldigten, namentlich Speichermedien, Kameras wie GoPro und dergleichen" suchen (Hervorhebung hinzugefügt), wiewohl die Beschwerdegegnerin in ihrer
BGE 149 IV 369 S. 375
Vernehmlassung darauf hinweist, die Formulierung sei unglücklich gewählt bzw. das Gegenteil sei der Fall gewesen.
Ebenso wenig ist der Vorinstanz zuzustimmen, wenn sie den hinreichenden Tatverdacht der Strafverfolgungsbehörden (nachträglich) damit begründen will, der Vater habe sich in der Vergangenheit möglicherweise weitere Strassenverkehrsdelikte zu Schulden kommen lassen. An den hinreichenden Tatverdacht zwecks Hausdurchsuchung sind zwar keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, zumal hierfür bereits Übertretungen genügen (Urteil 6B_860/2018 vom 18. Dezember 2018 E. 2.4). Vielmehr handelt es sich im konkreten Fall um eine blosse Vermutung und einen Generalverdacht seitens der Strafverfolgungsbehörden, die eine Hausdurchsuchung nicht legitimieren (vgl. auch Urteil 6B_897/2019 vom 9. Januar 2020 E. 1.3.1). Jedenfalls ist nicht erstellt und wird von der Beschwerdegegnerin in der Vernehmlassung auch nicht behauptet, dass die Strafverfolgungsbehörden zum Zeitpunkt der Durchsuchung (bzw. im Hinblick darauf) Kenntnis von allfälligen einschlägigen Vorstrafen des Vaters hatten. Einzig die unspezifische Vermutung (so die Beschwerdegegnerin wortwörtlich in ihrer Vernehmlassung), in der Wohnung könnten sich Hinweise auf allfällige weitere Verkehrsdelikte befinden, reicht nicht aus, um den Eingriff zu rechtfertigen und "auf gut Glück" nach weiteren Delikten zu forschen (vgl. auch Urteil 1B_322/2021 vom 22. Dezember 2021 E. 2.4).
1.4.2 Nach dem Gesagten waren die Hausdurchsuchung und die Beschlagnahme der GoPro-Kamera inklusive SD-Karte unzulässig. Auf das begangene Raserdelikt vom 12. April 2015 konnten sie nicht gerichtet sein. Konkrete und erhebliche Hinweise, die einen hinreichenden Tatverdacht auf weitere Strassenverkehrsdelikte begangen durch den Vater begründeten, lagen indessen nicht vor.