Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
Urteilskopf

99 Ia 402


46. Auszug aus dem Urteil vom 10. Oktober 1973 i.S. Schiesser gegen Gemeinde Mollis und Regierungsrat des Kantons Glarus.

Regeste

Art. 85 lit. a OG; Kantonales Initiativrecht, Wiedererwägungsantrag.
1. Das glarnerische Gesetz über das Gemeindewesen lässt einen Wiedererwägungsantrag zu, ungeachtet ob damit die Aufhebung eines Verwaltungsaktes positiven oder negativen Inhaltes angestrebt wird (Erw. 4 a und b).
2. Ausnahmen im Falle, da der Antrag dem Recht des Bundes oder des Kantons zuwiderläuft oder rechtsmissbräuchlich ist, ferner wenn praktische Gründe die Rückgängigkeit ausschliessen (Erw. 4 b und c).

Sachverhalt ab Seite 403

BGE 99 Ia 402 S. 403

A.- Das glarnerische Gesetz über das Gemeindewesen vom 6. Mai 1956 (GG) bestimmt in § 2:
"Jeder stimmberechtigte Angehörige einer Wahlgemeinde, eines Tagwens, einer Orts-, Schul-, Fürsorge- oder Kirchgemeinde des Kantons Glarus hat das Recht, an deren Versammlungen Anträge zu stellen. Die am Versammlungstag selbst gestellten Anträge dürfen indes erst an der nächsten ordentlichen oder ausserordentlichen Versammlung behandelt werden.
Schriftliche Anträge, welche der betreffenden Vorsteherschaft mindestens 20 Tage vor Abhaltung einer ordentlichen Versammlung eingereicht werden, sind dieser zur Behandlung zu unterbreiten."
§ 6 Abs. 1 lautet:
"Gemeindegesetze und Beschlüsse werden an ordentlichen oder ausserordentlichen Versammlungen beraten und erlassen"
und § 6 Abs. 4:
"Einmal erlassene Gesetze dürfen binnen Jahresfrist nicht abgeändert werden, es sei denn, sie würden sich zum offensichtlichen Nachteil der betreffenden Gemeinde auswirken."
Falls an Tagwen- oder Gemeindeversammlungen Anträge gestellt oder Beschlüsse gefasst werden wollen, welche bestehenden Bundes- oder Landgesetzen zuwiderlaufen würden, hat der Vorsitzende die Pflicht, eine Abstimmung zu verweigern, unter Vorbehalt des auf 14 Tage beschränkten Beschwerderechtes an den Regierungsrat (§ 8). Im weitern besteht ein Beschwerderecht bei Regelwidrigkeiten, die an den Versammlungen vorkom men (§ 9).

B.- Die Ortsgemeindeversammlung Mollis beschloss am 20. September 1972 auf Antrag des Gemeinderates mit 69 gegen 61 Stimmen den Ausbau der Baumgartenstrasse in Mollis und weitere verkehrstechnische Sanierungen. An der Gemeindeversammlung hatte sich vor allem Heinrich Schiesser-Zweifel, der für den Ausbau dieser Strasse Land abtreten müsste, dem Antrag widersetzt. Auf den 19. Januar 1973 war eine weitere Gemeindeversammlung vorgesehen. Heinrich Schiesser stellte am 6. Dezember 1972 beim Gemeinderat zu Handen der Gemeindeversammlung
BGE 99 Ia 402 S. 404
einen Wiedererwägungsantrag; danach sei der Gemeindebeschluss vom 20. September 1972 bezüglich Erstellung einer Strasse Baumgarten-Jordan aufzuheben, da die Strasse weder einem Bedürfnis entspreche noch dringlich sei und die Baukosten viel zu hoch zu stehen kämen. Der Gemeinderat trat auf das Wiedererwägungsgesuch nicht ein und unterbreitete es der Gemeindeversammlung nicht mit der Begründung, der Antragsteller führe keine neuen Argumente an; mit den betroffenen Grundeigentümern seien schon Verhandlungen aufgenommen und über den Landerwerb Verträge abgeschlossen worden.
Eine Beschwerde Schiessers wies der Regierungsrat des Kantons Glarus am 19. Februar 1973 ab, im wesentlichen mit der Begründung, wenn einmal ein Gemeindebeschluss in Rechtskraft erwachsen sei, müsse er von den Behörden auch vollzogen werden; es würde zu unhaltbaren Zuständen führen, wenn derartige Entescheide immer wieder späteren Gemeindeversammlungen zum Beschluss vorgelegt werden müssten. Unter Anträgen im Sinne von § 2 GG, die jeder Bürger an die Versammlung stellen könne, seien deshalb nicht Anträge auf Wiedererwägung zu verstehen. Ein negativer Gemeindeversammlungsbeschluss, d.h. der Beschluss, es sei nichts zu unternehmen, könne zwar nicht unabänderlich sein. Dagegen treffe das auf einen positiven Beschluss nicht zu. Das GG weise hier eine Lücke auf. Hier habe das Antragsrecht dem demokratischen Grundsatz zu weichen, dass sich die Minderheit der Mehrheit fügen müsse, allerdings nur unter dem Vorbehalt, dass sich in der Zwischenzeit nicht wesentliche neue Elemente ergeben hätten, die im Zeitpunkt der Beschlussfassung der Behörde noch nicht bekannt gewesen seien. In diesem Falle müsse allerdings das Gebot der Rechtssicherheit demjenigen nach der sachlich richtigen Entscheidung weichen. Der Gemeindeversammlungsbeschluss vom 20. September 1972 sei ein solcher Beschluss gewesen. Der Beschwerdeführer könne zur Stützung seines Antrages keine neuen Momente vorbringen.

C.- Gegen den Beschwerdeentscheid des Regierungsrates führt Schiesser staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, die Beschlüsse des Gemeinderates Mollis und des Regierungsrates seien unter Kosten- und Entschädigungsfolge aufzuheben und der Gemeinderat Mollis anzuweisen, den Antrag des Beschwerdeführers unverzüglich der Gemeindeversammlung
BGE 99 Ia 402 S. 405
vorzulegen. Die Beschwerdebegründung ergibt sich, soweit wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.

D.- Der Regierungsrat des Kantons Glarus und die Gemeinde Mollis beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

4. a) § 2 GG räumt dem Stimmbürger das Recht ein, an der Gemeindeversammlung oder zu ihren Handen Anträge zu stellen. Über die Art der Anträge, die gestellt werden können, enthält das Gesetz keine Bestimmungen. Es ist deshalb anzunehmen, dass das Antragsrecht ein umfassendes ist, auf den Erlass, die Abänderung oder die Aufhebung eines Gemeindegesetzes sowie die Vornahme, die Abänderung oder die Aufhebung eines Verwaltungsaktes gehen kann, letzteres mindestens, soweit die Gemeindeversammlung zuständig ist, selber Verwaltungsakte zu setzen. Eine Einschränkung der Gestaltungsfreiheit der Gemeindeversammlung enthält § 6 GG insofern, als sie die Aufhebung eines beschlossenen Gemeindegesetzes innert Jahresfrist grundsätzlich untersagt. Es dürfte deshalb zulässig sein, einen Antrag, der auf Aufhebung eines solchen Gesetzes vor Ablauf der Jahresfrist geht, nicht in Behandlung zu ziehen, sofern nicht anzunehmen ist, das Gesetz wirke sich offensichtlich zum Nachteil der Gemeinde aus. Doch braucht diese Frage hier nicht entschieden zu werden. Es ist unbestritten, dass es sich bei dem Beschluss, den der Beschwerdeführer in Wiedererwägung gezogen sehen möchte, nicht um ein Gemeindegesetz, sondern um einen Verwaltungsakt, nämlich den Beschluss zur Erstellung einer Strasse, handelt.
Das weit gefasste Antragsrecht des GG schliesst auch das Stellen von Wiedererwägungsanträgen nicht aus. Die Möglichkeit, Wiedererwägungsanträge stellen zu können, ist im schweizerischen Staats- und Gemeinderecht weithin anerkannt, wenn auch gelegentlich von der Erfüllung besonderer Erfordernisse, wie z.B. der Erreichung eines qualifizierten Mehrs, abhängig gemacht. Das GG kennt solche Erfordernisse nicht. Insbesondere verlangt es nicht, ein Antragsteller müsse sich auf neue Tatsachen berufen können.
b) Das umfassende Recht in § 2 GG lässt eine Unterscheidung zwischen Anträgen, die auf Wiedererwägung eines positiven und solchen, die auf Wiedererwägung eines negativen Verwaltungsaktes gehen, nicht zu. Es mag freilich zutreffen, dass
BGE 99 Ia 402 S. 406
der Gesetzgeber bei der Einräumung des weitgefassten Antragsrechtes in erster Linie an neue Anträge materieller Art gedacht hat und nicht an Anträge auf Wiedererwägung von Verwaltungsakten. Dennoch geht es nicht an, eine Lücke im Gesetz anzunehmen. Das verbietet sich schon durch den Umstand, dass § 6 es ausdrücklich untersagt, Gesetze, abgesehen von dem in der Bestimmung genannten Sonderfall, innert Jahresfrist in Wiedererwägung zu ziehen, aber keine solche Einschränkung trifft bezüglich der andern Beschlüsse. Daraus ist zu folgern, dass alle Beschlüsse der Gemeindeversammlung in Wiedererwägung gezogen werden können und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie einen positiven oder negativen Inhalt im dargelegten Sinne haben. Freilich ist diese Folge unter Umständen der Rechtssicherheit und wirksamem Verwaltungshandeln abträglich. Jedoch ist nicht zu befürchten, dass die zweckmässige Tätigkeit der Verwaltung durch das immer erneute Stellen von Wiedererwägungsanträgen dauernd zum Stillstand gebracht wedern könnte. Damit eine Initiative als gültig behandelt werden kann, darfsie nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung einmal dem Recht des Bundes oder des Kantons nicht zuwiderlaufen, was § 8 GG noch ausdrücklich festhält und was hier nicht behauptet wird; sie darf ferner auch nicht rechtsmissbräuchlich sein (BGE 94 I 126 E. 3). Ein solcher Rechtsmissbrauch könnte allenfalls angenommen werden, wenn Wiedererwägungsanträge gestellt würden, obwohl die Gemeindeversammlung mehr als einmal ihren Willen klar kundgetan hat. Ein erstmaliger Wiedererwägungsantrag, besonders bei knappem Abstimmungsausgang, ist jedoch noch nicht rechtsmissbräuchlich. Mit der Einräumung eines umfassenden Antrags- bzw. Initiativrechtes hat der Gesetzgeber es in Kauf genommen, dass unter Umständen die Verwaltungstätigkeit durch Stimmbürger, die von diesem Recht einen ausgiebigen Gebrauch machen, erschwert wird. Es muss aber hier in erster Linie dem gesunden Bürgersinn anheimgegeben werden, Auswüchse der Versammlungsdemokratie zu verhindern.
c) Eine Ausnahme von der Möglichkeit, einen Wiedererwägungsantrag zu stellen, wäre sodann vorzusehen, wenn es praktisch undurchführbar wäre, einen getroffenen Beschluss wieder rückgängig zu machen, z.B. weil das beschlossene Werk schon ganz oder zum grossen Teil ausgeführt ist. Von einer solchen Undurchführbarkeit kann aber unter den gegebenen Umständen
BGE 99 Ia 402 S. 407
nicht die Rede sein. Es sind bisher einzig Verhandlungen über die Landabtretung geführt und eine gewisse Anzahl von Verträgen über den Landerwerb durch die Gemeinde geschlossen worden. Mit den Bauarbeiten ist hingegen noch nicht begonnen worden. Die Verträge lassen sich vermutlich wieder rückgängig machen. Selbst wenn das aber nicht der Fall wäre, würde der einzige Nachteil für die Gemeinde darin bestehen, dass sie Land erwerben müsste, das für sie vorderhand wertlos ist. Ob sie allenfalls nutzlose Aufwendungen im Interesse des Widerrufs des beschlossenen Strassenbaus auf sich nehmen will, hat nicht das Bundesgericht, sondern der Stimmbürger zu entscheiden (BGE 94 I 126 E. 4 b). Die Beschwerde ist deshalb gutzuheissen.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, der Beschluss des Regierungsrates des Kts. Glarus vom 19. Februar 1973 aufgehoben und der Gemeinderat Mollis angewiesen, den Wiedererwägungsantrag der Gemeindeversammlung zu unterbreiten.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 4

Dispositiv

Referenzen

BGE: 94 I 126

Artikel: Art. 85 lit. a OG