Urteilskopf
116 II 422
78. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. September 1990 i.S. M. gegen D. (Berufung)
Regeste
Art. 58 OR. Werkeigentümerhaftung.
Werkmangel bejaht bei einem sog. "Plauschbad", wo die bauliche Anlage und das Betriebskonzept jugendliche Badegäste dazu verleitet, an einer gefährlichen Stelle ins Wasser zu springen, und wo die Werkeigentümerin trotz erkannter Gefahr keine zumutbaren Schutzvorkehren trifft (E. 1 und 2). Bedeutung des Selbstverschuldens für den Kausalzusammenhang (E. 3) und die Bemessung des Schadenersatzes; Verschuldenskompensation (E. 4).
A.- Im Wellenbad S. in A., das der M. St. Gallen gehört, sprang der damals fünfzehnjährige D. am 5. Februar 1987 am südlichen Bassinrand aus 1,3 m Höhe kopfvoran in das 1,6 m tiefe Wasser. Er zog sich dabei eine Querschnittläsion zu und ist seither Tetraplegiker.
B.- Am 5. Juli 1988 erhob D. beim Bezirksgericht Gossau gegen die Werkeigentümerin Teilklage auf Zahlung von Fr. 35'786.90 Schadenersatz, entsprechend den wegen Selbstverschuldens um 25% reduzierten, durch die IV nicht gedeckten Kosten für ein Auto mit Rollstuhlausbau, für die invalidengerechte Ausgestaltung der elterlichen Liegenschaft und für einen Personalcomputer, zu dessen Bedienung die motorischen Funktionen des Klägers noch ausreichten. Das Bezirksgericht reduzierte die Ersatzforderung wegen Selbstverschuldens um einen Drittel und schützte die Klage für Fr. 31'810.55 nebst Zins. Auf Berufung der Beklagten hin bestätigte das Kantonsgericht St. Gallen am 10. Januar 1990 das erstinstanzliche Urteil. Die Beklagte führt gegen den Entscheid des Kantonsgerichts erfolglos Berufung beim Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
1. Gemäss
Art. 58 Abs. 1 OR haftet der Werkeigentümer für den Schaden, der durch fehlerhafte Anlage oder Herstellung oder durch mangelhaften Unterhalt des Werkes verursacht wird. Ob ein Werk fehlerhaft angelegt oder mangelhaft unterhalten ist, hängt vom Zweck ab, den es zu erfüllen hat, da es einem bestimmungswidrigen Gebrauch nicht gewachsen zu sein braucht. Ein Werkmangel liegt deshalb vor, wenn es beim bestimmungsgemässen Gebrauch keine genügende Sicherheit bietet (
BGE 106 II 210 E. 1a mit Hinweisen). Ein Werk gilt nur dann als mängelfrei, wenn es mit denjenigen baulichen und technischen Schutzvorrichtungen versehen ist, die notwendig sind, um eine sichere Benutzung zu gewährleisten (
BGE 106 II 210 E. 1a mit Hinweisen,
BGE 77 II 311 E. 2; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. II/1, S. 203 Rz. 69; zu Badeanlagen im besonderen DIETER WEBER, Zivilrechtliche Haftung öffentlicher und privater Badeanstalten, Diss. Bern 1977, S. 19).
BGE 116 II 422 S. 424
Wohl darf der Werkeigentümer mit einem vernünftigen und dem allgemeinen Durchschnitt entsprechenden vorsichtigen Verhalten der Benützer des Werkes rechnen und braucht geringfügige Mängel, die bei solchem Verhalten normalerweise nicht Anlass zu Schädigungen geben, nicht zu beseitigen (OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 209 f. Rz. 81 mit zahlreichen Hinweisen). Schaffen indessen wie im vorliegenden Fall die Konzeption und Zweckbestimmung der Anlage, der vom Werkeigentümer angesprochene Kreis der Benützer und das von einem Teil dieser Benützer zu erwartende unvernünftige Verhalten einen gefährlichen Zustand, kann sich der Werkeigentümer entgegen der Auffassung der Beklagten nicht darauf berufen, bei vernünftiger Benützung liege kein oder nur ein geringfügiger Mangel vor. Sind solche Umstände gegeben, ist vielmehr alles Zumutbare vorzukehren, damit sich die Gefahr nicht verwirklicht. Allein der Umstand, dass Badeunfälle einen grossen Teil aller Sportunfälle ausmachen, zeigt, dass gerade Badeanstalten nicht zu unterschätzende Gefahren bergen, denen es zum Schutz der Badegäste mit allen Mitteln zu begegnen gilt, sofern sich diese im Rahmen des wirtschaftlich und technisch Zumutbaren bewegen. Fehlt es an zumutbaren Schutzvorkehren, so liegt ein Werkmangel vor, für den der Werkeigentümer nach Art. 58 OR haftet.
Besonders strenge Sicherheitsanforderungen sind zu stellen, wenn die Gefährdung wie im vorliegenden Fall zutage tritt (OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 205 Rz. 72). Dabei kann diese Gefährdung auch auf ein Verhalten der Benützer zurückzuführen sein, das von der ursprünglichen Zweckbestimmung des Werkeigentümers abweicht. Trifft der Werkeigentümer trotz erkannter Gefahr keine Massnahmen, um die Benützer an einem solchen Verhalten zu hindern, kann er sich nicht auf den Zweck berufen, für den er die Anlage bestimmt hat, sondern muss sich die als gefährlich erkannte tatsächliche Benützung entgegenhalten lassen, wenn er nichts dagegen unternimmt (BGE 74 II 155 Nr. 26, vollständig publiziert in: SJ 1949 S. 181 ff., insbesondere S. 187 f. E. 1c). Die Duldung einer erkannten Gefahr begründet sodann regelmässig einen Schuldvorwurf mit der Folge, dass bei einem schädigenden Ereignis auch die Haftungsvoraussetzungen nach Art. 41 OR gegeben sind (WEBER, a.a.O., S. 69 f.).
2. In der Berufung gibt die Beklagte das angefochtene Urteil unvollständig wieder. Das Kantonsgericht begnügt sich keineswegs mit der Feststellung, der Mangel habe darin bestanden,
BGE 116 II 422 S. 425
dass an der Einsprungstelle keine Verbotstafel angebracht gewesen sei.
a) Aufgrund von Augenscheinen stellt die Vorinstanz, die für den Sachverhalt ergänzend auf den erstinstanzlichen Entscheid verweist, in tatsächlicher Hinsicht für das Bundesgericht vorbehältlich der Ausnahmen von Art. 63 Abs. 2 OG verbindlich fest, dass sich am südlichen Kopfende des Bassins, wo das Wasser mit 1,6 m am tiefsten und der Abstand zwischen Wasserspiegel und Bassinrand mit 1,3 m am grössten sei, ein aus ästhetischen Gründen angebrachtes, nischenartiges Plätzchen von gut 2 m Tiefe befinde, das von hinten über ein paar Treppenstufen bequem zugänglich sei und gegen das Bassin hin durch einen Pflanzentrog abgegrenzt werde. In Blickrichtung zum Bassin hin seien im linken Teil des Pflanzentrogs Steine, rechts vom Pflanzentrog Felsblöcke aufgeschichtet, die ein Weiterkommen unmöglich machten. Hingegen befinde sich zwischen den Steinen und den Felsblöcken ein 90 cm breiter "Durchgang" zum Wasser, durch den die über die Treppe kommenden Badegäste trotz "den paar im Pflanzentrog eingesteckten Blattwedeln" aus Plastik "geradewegs auf das Blau des Schwimmbads" blickten. Beschränkt gewesen sei der Zugang zum Wasser im Unfallszeitpunkt im Bereich dieser 90 cm abgesehen von der "Bepflanzung" lediglich durch den 28 cm hohen und einschliesslich Umfassungen knapp 1 m "breiten" Pflanzentrog; die auf der Bassinseite 31 cm und auf der anderen Seite 40 cm breite Umfassung sei mit griffigen, nicht unangenehm zu betretenden Keramikplatten bedeckt. Dieser "Durchgang", wo der Kläger ins Wasser gesprungen sei, habe als "eigentliche Einladung zum Hineinspringen empfunden" werden können, zumal das Wellenbad S. über keine Sprunganlage verfüge und diese praktisch die einzige Stelle sei, von der aus ein sportliches Eintauchen als möglich erscheine. Das Fehlen von zumutbaren Vorkehren wie Verbotstafeln und Abschrankungen in diesem kritischen Bereich stelle einen Werkmangel dar, der nicht bloss als geringfügig zu bezeichnen sei.
aa) Unbegründet ist die in der Berufung erhobene Rüge, die Vorinstanz nehme aus offensichtlichem Versehen im Sinne von
Art. 55 Abs. 1 lit. d OG an, die vom Kläger zu überwindende "Breite" des 28 cm hohen Pflanzentrogs habe knapp 1 m betragen, obwohl insgesamt 1 m "Tiefe" zu überwinden gewesen sei. Ob die Distanz von knapp einem Meter als Breite oder als Tiefe bezeichnet wird, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Von oben
BGE 116 II 422 S. 426
betrachtet ist das 28 cm hohe Hindernis knapp 1 m breit, von der Nische her betrachtet knapp 1 m tief.
bb) Den festgestellten Tatsachen widersprechend und damit unzulässig (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG) ist die Berufung insoweit, als die Beklagte den Werkmangel mit der Behauptung bestreitet, bei der "Bepflanzung" habe es sich um eine wirksame Schranke in Form eines "grünen Vorhangs" gehandelt. Dass die "Bepflanzung" keineswegs undurchdringlich, sondern mit Leichtigkeit zu überwinden war, wird ausserdem durch die vorinstanzliche Feststellung bestätigt, dass die Plastikpflanzen öfters durch ins Wasser springende Badegäste beiseite gedrückt worden seien, weshalb sie vom Bademeister wiederholt hätten gerichtet und ersetzt werden müssen.
b) Nachdem feststeht, dass die Beklagte mit der baulichen Gestaltung ihrer Anlage einen "ziemlich starken" Anreiz schuf, an der fraglichen Stelle, die angesichts der geringen Wassertiefe und der Einsprunghöhe von 1,3 m für Kopfsprünge unstreitig gefährlich ist, ins Wasser zu springen, sprechen die Berufungsvorbringen über den bestimmungsgemässen Gebrauch der Anlage nicht gegen, sondern für einen Werkmangel:
aa) Die Beklagte beruft sich wie bereits im kantonalen Verfahren auch noch in der Berufungsschrift und ihrem Parteivortrag vor Bundesgericht mit Nachdruck darauf, dass ihre Anlage ein "Plausch- und Vergnügungsbad" und nicht ein Sportbad sei. Nach den vorinstanzlichen Feststellungen liegt der Anlage die Philosophie zugrunde, dass das Freiheitsgefühl der Benutzer nicht eingeengt werden solle, wobei sich das Angebot des Wellenbades S. nicht nur an ein älteres Publikum, sondern auch an Kinder und Jugendliche richte. Nebst der entspannten Atmosphäre trügen die malerisch angeordneten Steinblöcke, die Felsen mit der tropischen Bepflanzung und das intensive Blau des Wassers das ihre dazu bei, Kinder und Jugendliche zu übermütigen Handlungen zu stimulieren.
bb) War die Anlage dazu bestimmt, die Besucher zu uneingeschränktem Badevergnügen, zu dem bei Kindern und Jugendlichen selbstredend auch das Hineinspringen gehört, zu stimulieren, hatte die Beklagte insbesondere nach erkannter Gefährdung alles vorzukehren, um ein gefahrloses Vergnügen zu gewährleisten. Hielt die Beklagte Verbotstafeln mit ihrer "Plauschphilosophie" für unvereinbar, so hatte sie durch bauliche Massnahmen dafür zu sorgen, dass das Bad sicher benutzt werden konnte, beispielsweise
BGE 116 II 422 S. 427
durch eine Abschrankung oder dadurch, dass die Umfassung des Pflanzentrogs statt mit Keramikplatten mit spitzen Steinen, die nicht zum Daraufstehen eingeladen hätten, belegt worden wäre. Das Fehlen derartiger, für die Beklagte ohne weiteres zumutbarer Massnahmen stellte in Anbetracht der baulichen Anlage, des freiheitlichen Betriebskonzepts, der jugendlichen Benützer und der Tatsache der erkannten Gefahr einen erheblichen Werkmangel dar, für den die Beklagte als Werkeigentümerin einzustehen hat.
Ein gewisses, freilich mit grosser Zurückhaltung zu bewertendes Indiz dafür, dass die Beklagte ihre Anlage selbst als mangelhaft anerkennt, ergibt sich aus der vorinstanzlichen Feststellung, dass an der Unfallstelle nachträglich ein - entsprechend der "Plauschphilosophie" - diskretes Hinweisschildchen mit der Aufschrift "Hier springen wir nicht hinein" angebracht und ein Seil gespannt worden sei (OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 212 Rz. 85 mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung in Fn. 310).
3. Wurden jugendliche Badegäste durch die bauliche Anlage und das Betriebskonzept der Beklagten dazu verleitet, an der fraglichen Stellen ins Wasser zu springen, so ist das Verhalten des Klägers entgegen den Berufungsvorbringen nicht derart abwegig und unvernünftig, dass der Werkmangel als Unfallursache völlig in den Hintergrund gedrängt würde und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der Lebenserfahrung nicht mehr als adäquate Schadensursache erschiene (
BGE 108 II 54 E. 3 mit Hinweisen).
4. Ebenso unbegründet ist das in der Berufung gestellte Eventualbegehren, das Selbstverschulden des Klägers gestützt auf
Art. 44 Abs. 1 OR wenigstens als Grund zur Herabsetzung des Schadenersatzes von zwei Dritteln auf einen Viertel zu berücksichtigen. Nach den vorinstanzlichen Feststellungen war für den damals 15jährigen Kläger die Annahme verständlich, er dürfe gleich andern, von der Aufsicht so wenig wie er abgehaltenen Badbesuchern den Sprung von jener Stelle aus wagen. Ob bei einer Sprunghöhe von 1,3 m eine Wassertiefe von 1,6 m ausreicht, hängt entscheidend vom Eintauchwinkel ab; dass sie unter Umständen ungenügend sein könnte, hat jedoch der Kläger laut Vorinstanz mangels Hinweisen der Beklagten nicht erkennen können. Zum Verschulden, das bei Kindern und Jugendlichen ohnehin milder beurteilt wird (
BGE 102 II 368), gereicht ihm daher allein das Ausserachtlassen der Tatsache, dass der Ort seines Absprunges offensichtlich nicht als Einsprungsort konzipiert war. Eine Herabsetzung seines Anspruches um mehr als einen Drittel rechtfertigt sich deswegen nicht. Sie wird bereits durch
BGE 116 II 422 S. 428
die Tatsache ausgeschlossen, dass ein Werkmangel vorlag, an dem die Beklagte, die nach den vorinstanzlichen Feststellungen trotz erkannter Gefahr keine Schutzvorkehren getroffen und das Bad nur lückenhaft überwacht hat (
BGE 113 II 427 f. E. 1c; WEBER, a.a.O., S. 71 und 86), zusätzlich auch ein Verschulden trifft, welches das Selbstverschulden des Klägers zu einem grossen Teil kompensiert. Praxisgemäss findet bei leichtem Verschulden eine Reduktion um einen Viertel bis zu einem Drittel statt (
BGE 106 II 212 E. 3,
BGE 103 II 246 E. 5,
BGE 91 II 212 E. 5c,
BGE 60 II 348 E. 5; vgl. auch die Zusammenstellung bei BREHM, N 29 zu
Art. 44 OR).
Seitens des Klägers ist das Ausmass der Reduktion nicht angefochten. Daher kann offenbleiben, ob und wieweit das Verschulden der Beklagten das Selbstverschulden des Klägers nicht weitergehend zu kompensieren vermöchte (
BGE 111 II 443 E. 3b, zurückhaltend
BGE 113 II 328 E. 1c).