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Urteilskopf

98 II 337


49. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 29. November 1972 i.S. Eheleute X.

Regeste

Ehescheidung wegen tiefer Zerrüttung (Art. 142 ZGB).
Voraussetzungen, unter denen die Medikamenten- und Alkoholsucht eines Ehegatten den andern zur Scheidungsklage berechtigt.

Sachverhalt ab Seite 337

BGE 98 II 337 S. 337
Aus dem Tatbestand:
X., der seit 1953 verheiratet ist und schon seit 1948 im kommerziellen Dienst eines grossen Transportunternehmens arbeitet, lebte mit seiner Familie bis 1959 im europäischen Ausland, dann bis zum Frühjahr 1965 in der Schweiz und schliesslich bis zum Frühjahr 1970 in Nordafrika. Seither leben die Ehegatten getrennt, der Ehemann in Asien, die Ehefrau in Europa. Die Klage auf Ehescheidung wegen tiefer Zerrüttung, die der Ehemann im Sommer 1970 beim Richter seiner schweizerischen Heimat einleitete, wurde von den kantonalen Gerichten und vom Bundesgericht geschützt.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Nach Art. 142 Abs. 1 ZGB kann jeder Ehegatte auf Scheidung klagen, wenn eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses eingetreten ist, dass den Ehegatten die Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft nicht zugemutet werden darf. Diese Voraussetzung ist nicht schon dann erfüllt, wenn in der Ehe Schwierigkeiten, sei es auch ernster Art, auftreten, die das Einvernehmen unter den Ehegatten beeinträchtigen. Diese sind vielmehr verpflichtet, ihren guten Willen für die Aufrechterhaltung der Ehe und die Überwindung der bestehenden Schwierigkeiten einzusetzen (BGE 77 II 208mit Hinweisen,BGE 79 II 341,
BGE 98 II 337 S. 338
BGE 87 II 279 /80). Zeigt sich beim einen Ehegatten eine Fehlentwicklung, so verlangt die eheliche Beistandspflicht (Art. 159 Abs. 3 ZGB) vom andern, dass er sein Möglichstes tut, um seinen Partner wieder auf den rechten Weg zu bringen, und dass er dabei die nötige Geduld aufbringt. Das gilt namentlich auch dann, wenn ein Ehegatte der Trunksucht oder der Drogensucht verfällt. Der andere Ehegatte kann die Scheidung wegen eines solchen Lasters grundsätzlich erst verlangen, wenn die ihm zuzumutenden Bemühungen zur Abhilfe gescheitert sind (zum Falle der Trunksucht vgl.BGE 68 II 3f. Erw. 2,BGE 71 II 5,BGE 77 II 358und die nicht veröffentlichten Entscheide vom 14. November 1963 i.S. Pfenniger, vom 24. Februar 1966 i.S. Conus, vom 12. Mai 1967 i.S. Locher, vom 26. Mai 1967 i.S. Strickler und vom 1. Mai 1969 i.S. Gachoud; zum Falle der Drogensucht vgl. die bereits angeführten Entscheide i.S. Pfenniger und Conus). Welches Mass von Einsatz, Nachsicht, Selbstüberwindung, Geduld und Beharrlichkeit vom andern Ehegatten verlangt werden darf, ist eine Rechtsfrage (vgl.BGE 72 II 401/02,BGE 74 II 66, BGE 92 II 140 Erw. 2), die nach den konkreten Umständen des einzelnen Falles zu beurteilen ist (BÜHLER, N. 26 zu Art. 142 ZGB). Die Pflicht zu solchem Bemühen findet für den dazu aufgerufenen Ehegatten dort ihre Grenze, wo die Änderung des die Ehe belastenden Zustandes überhaupt ausserhalb seiner Willensmacht liegt oder aber von ihm ein solches Mass von Verzicht und Selbstaufgabe fordern würde, dass darob seine Persönlichkeit verkümmern oder seine Menschenwürde leiden müsste (BGE 72 II 402und namentlich die nicht veröffentlichten Entscheide vom 31. März 1960 i.S. Bilski, vom 30. April 1962 i.S. Bikel, vom 7. Juni 1962 i.S. Gebert, vom 8. Juni 1965 i.S. Hofmänner, vom 11. Februar 1966 i.S. Prager, vom 10. Juni 1966 i.S. Fauchère, vom 11. November 1966 i.S. Kellenberger, vom 26. Mai 1967 i.S. Strickler, vom 17. Oktober 1968 i.S. Christen, vom 29. Mai 1970 i.S. Koller; HINDERLING, Das schweiz. Ehescheidungsrecht, 3. Aufl., S. 14; BÜHLER, N. 26 zu Art. 142 ZGB).
Im vorliegenden Falle hat die Vorinstanz im wesentlichen festgestellt, die Beklagte habe infolge ihres Medikamentenmissbrauchs schon in der Schweiz den Haushalt, die Kinder und sich selbst vernachlässigt und unter Schreikrämpfen gelitten. In Nordafrika habe ihre Medikamenten- und Alkoholsucht trotz ärztlicher Behandlung fortgedauert. 1967 seien bei ihr wieder
BGE 98 II 337 S. 339
deutliche "Verschlampungserscheinungen" aufgetreten. So sei es bis zum Frühjahr 1970 geblieben. Bei der Beklagten habe "während ca. 10 Jahren bis zum Beginn des Jahres 1970 eine praktisch andauernde, eigentliche, extrem-intensive Süchtigkeit in Bezug auf Medikamente und Alkohol bestanden". Darunter habe die eheliche Gemeinschaft "in selten schwerem Ausmass gelitten". Die Beklagte habe als Frau und Mutter hochgradig versagt. Ihr Zustand habe sich in äusserst störender Weise auf den Ehemann und die Erziehung der Kinder auswirken müssen. Sie habe auch Szenen im Geschäft des Mannes und in der Öffentlichkeit gemacht. Die "lange dauernde Süchtigkeit mit ihren grässlichen Auswirkungen" habe "im Verlauf der Zeit ihre ehezerstörerische Wirkung getan". Mann und Kinder hätten über Jahre die Beklagte als Ehefrau, Hausfrau und Mutter faktisch entbehren müssen. Ihr krankhaftes Verhalten habe die Kinder in der Entwicklung und Reifung gestört, und der Mann habe verständlicherweise die affektiven Beziehungen zu seiner Frau mehr und mehr verloren. Die Beziehung des Ehemannes zu Fräulein Y. (die sich seither gelockert haben soll) habe "erst in einem Zeitpunkt begonnen (ca. 1967/68), als die Zerrüttung bereits offen zu Tage trat, die Süchtigkeit der Frau während vielen Jahren schon in ekelerregender Weise bestanden hatte". Die Verfehlungen des Klägers gegen die eheliche Treue seien für die Zerrüttung der Ehe nicht kausal.
Diese Feststellungen, die sich u.a. auf das Gutachten von Prof. K. stützen, betreffen tatsächliche Verhältnisse, und zwar gilt das auch insoweit, als sie die Auswirkungen der Süchtigkeit der Beklagten auf das eheliche Verhältnis und die Frage zum Gegenstand haben, ob die Beziehungen des Klägers mit Fräulein Y. für die Zerrüttung der Ehe kausal seien oder nicht (BGE 92 II 140 Erw. 2 mit Hinweisen). Als Ergebnis einer im Berufungsverfahren nicht zu überprüfenden Beweiswürdigung sind sie für das Bundesgericht verbindlich (Art. 63 Abs. 2 OG). Daher muss angenommen werden, dass das eheliche Verhältnis der Parteien infolge der Süchtigkeit der Beklagten schon vor Beginn der Beziehungen des Klägers mit Fräulein Y. tief zerrüttet war. Ferner steht fest, dass die Parteien seit dem Frühjahr 1970, als die Beklagte die Entwöhnungskur in Europa antrat und der Kläger nach Asien übersiedelte, getrennt leben und dass alle vorher mit ärztlicher Hilfe unternommenen Versuche, die Beklagte von ihrer Sucht zu befreien, gescheitert sind.
BGE 98 II 337 S. 340
Im Rückblick auf die zehn Jahre vor der Trennung der Parteien kann man finden, die Beklagte hätte nicht erst im Frühjahr 1970, sondern schon mehrere Jahre vorher einer Entwöhnungskur in einer Klinik zugeführt werden sollen. Der Gutachter Prof. K., dem das Obergericht folgt, bezeichnet es jedoch als verständlich, dass der Kläger mangels Erfahrung in solchen Dingen jahrelang immer wieder den Versicherungen der Beklagten glaubte, seine Hoffnungen auf Milieuwechsel setzte, sich von den durchgeführten ambulanten Behandlungen Erfolg versprach und erst spät die Notwendigkeit einer klinischen Behandlung einsah. Daher ist ihm nicht vorzuwerfen, er habe sich vor Einleitung der vorliegenden Scheidungsklage nicht genügend um die Heilung der Beklagten bemüht.
Hatte der Kläger unter den Folgen der Süchtigkeit der Beklagten in der dargestellten Weise während vieler Jahre aufs schwerste zu leiden, waren die Bemühungen zu ihrer Heilung bis zum Frühjahr 1970 erfolglos und verlor der Kläger wegen dieser Entwicklung, wie festgestellt, seine affektiven Beziehungen zur Beklagten, so könnte ihm die Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft heute, wenn überhaupt, höchstens dann zugemutet werden, wenn sich der Zustand der Beklagten so nachhaltig gebessert hätte, dass eine Wiederkehr des frühern Zustandes mit seinen äusserst widerwärtigen, tief in die persönliche Sphäre des Klägers eingreifenden Folgen nicht ernstlich zu befürchten wäre. Diese Voraussetzung ist nach dem Gutachten von Prof. K., das die Vorinstanz in für das Bundesgericht verbindlicher Weise als schlüssig würdigt, nicht erfüllt. Die Beklagte ist nach dem Gutachten K. nicht vollständig geheilt und muss weiterhin als gefährdet gelten. Im gegenwärtigen Milieu (d.h. in der Umgebung, in welcher die Beklagte zur Zeit in Europa lebt) kann die Rückfallgefahr freilich als eher gering gelten. Falls die Beklagte zu ihrem Ehemann zurückkehren würde und dessen geschäftsbedingten Lebensstil teilen müsste, wäre die Gefahr eines Rückfalls dagegen nach der Auffassung des Gutachters ziemlich gross. Dass der Kläger, um dieses Risiko zu vermindern, die von ihm während der ganzen Dauer der Ehe ausgeübte Tätigkeit aufgebe, ist von ihm nicht zu verlangen. Würde er versuchen, die Beklagte von den mit dieser Tätigkeit verbundenen gesellschaftlichen Anlässen fernzuhalten, die sie nach der Auffassung des Gutachters gefährden, so wäre sie zumal an Orten wie der entlegenen asiatischen Stadt,
BGE 98 II 337 S. 341
wo der Kläger heute arbeitet, den für sie ebenso grossen Gefahren des Alleinseins und der Langeweile ausgesetzt. Besteht somit im Falle einer Rückkehr der Beklagten zum Kläger eine ernstliche Rückfallgefahr, die sich nicht beseitigen lässt, so ist dem Kläger die Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft nicht zuzumuten, sondern kann er nach Art. 142 Abs. 1 ZGB die Scheidung verlangen.
Dass die Zerrüttung im Sinne von Art. 142 Abs. 2 ZGB vorwiegend der Schuld des Klägers zuzuschreiben sei, wird in der Berufungsschrift nicht ausdrücklich behauptet und kann auf Grund der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz nicht angenommen werden. Die entscheidende Ursache der Zerrüttund war darnach die Süchtigkeit der Beklagten, die der Kläger nicht verschuldet hat. Die Beziehungen des Klägers mit Fräulein Y. waren für die Zerrüttung festgestelltermassen nicht kausal. Dass der Kläger die Beklagte nicht schon vor dem Frühjahr 1970 zu einer Entziehungskur in eine Klinik schickte, bedeutet angesichts der festgestellten Umstände kein erhebliches Verschulden.
Der Scheidungsspruch der Vorinstanz ist daher zu bestätigen.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 2

Referenzen

BGE: 92 II 140, 87 II 279

Artikel: Art. 142 ZGB, Art. 142 Abs. 1 ZGB, Art. 159 Abs. 3 ZGB, Art. 63 Abs. 2 OG mehr...