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Urteilskopf

145 IV 55


7. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
6B_235/2018 vom 1. November 2018

Regeste

Art. 5 Abs. 1 Anhang 1 FZA; Zielsetzung des FZA, "spezifische Prüfung".
Mit dem Abschluss des FZA hat die Schweiz Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU im Wesentlichen ein weitgehendes und reziprokes Recht auf Erwerbstätigkeit eingeräumt, allerdings unter dem Vorbehalt eines rechtskonformen Verhaltens im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA. Das FZA berechtigt lediglich zu einem doppelt bedingten Aufenthalt in der Schweiz, nämlich einerseits nach Massgabe der spezifischen Vertragsvereinbarungen als Voraussetzung eines rechtmässigen Aufenthalts und andererseits nach Massgabe des rechtskonformen Verhaltens im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA (E. 3.3).
Das FZA enthält keine strafrechtlichen Bestimmungen und ist kein strafrechtliches Abkommen. Die Schweiz ist in der Legiferierung des Strafrechts auf ihrem Territorium durch das FZA nicht gebunden. Jedoch hat sie bei der Auslegung die völkervertragsrechtlich vereinbarten Bestimmungen des FZA zu beachten (E. 3.3).

Sachverhalt ab Seite 56

BGE 145 IV 55 S. 56

A. Dem schwedisch-serbischen Doppelbürger X. (Jahrgang 1993) mit Aufenthaltsbewilligung B wird vorgeworfen, in Zürich-Aussersihl am 17. November 2016 im Laufe einer Auseinandersetzung A. aus drei Metern Distanz eine leere Flasche "Smirnoff Ice" (275 ml) an den Kopf geworfen und ihm damit eine 2-3 cm lange, stark blutende Rissquetschwunde an der rechten Schläfe zugefügt zu haben. Er habe gedroht, ihn umzubringen.
Das Bezirksgericht Zürich fand ihn am 18. Mai 2017 der qualifizierten einfachen Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 2 Abs. 2 StGB) sowie der Drohung (Art. 180 Abs. 1 StGB) schuldig. Es verurteilte ihn zu 8 Monaten Freiheitsstrafe (wovon 80 Tage durch
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Haft erstanden sind) und schob den Vollzug bei einer Probezeit von 4 Jahren auf. Es widerrief eine vom Bezirksgericht Zürich am 10. Februar 2014 ausgefällte bedingte Geldstrafe von 7 Tagessätzen zu Fr. 30.- sowie die mit Strafbefehl vom 31. Oktober 2015 ausgefällte bedingte Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu Fr. 60.- und Fr. 400.- Busse. Von der Anordnung der Landesverweisung sah es ab.
Die Staatsanwaltschaft erhob Berufung und beantragte den Vollzug der Freiheitsstrafe und die Landesverweisung für 5 Jahre.

B. Das Obergericht des Kantons Zürich stellte am 16. Januar 2018 fest, der Schuldspruch sei in Rechtskraft erwachsen. Es bestrafte X. mit 8 Monaten Freiheitsstrafe unbedingt (wovon 80 Tage durch Haft erstanden sind) und ordnete den Vollzug der beiden Vorstrafen aus den Jahren 2014 und 2015 an. Es verwies ihn im Sinne von Art. 66abis StGB für 3 Jahre des Landes.

C. X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, ihn zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 8 Monaten zu verurteilen und von einer Landesverweisung abzusehen sowie eventualiter die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege (und Verbeiständung) zu gewähren und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu bewilligen.

D. Die Vorinstanz verzichtete auf eine Stellungnahme.
Die Staatsanwaltschaft führt in ihrer Stellungnahme zur Frage der Landesverweisung aus, in der Verfassung und in der Rechtsprechung des Bundesgerichts finde sich keine eindeutige Vorgabe zur Normenhierarchie. Art. 190 BV lasse die Rangfrage offen. Art. 5 Abs. 4 BV eröffne die Möglichkeit, das Verhältnis von Völkerrecht und Bundesgesetz von Fall zu Fall zu beurteilen. Die Sache sei umstritten. Einen ersten Lösungsansatz liefere die Schubert-Praxis (BGE 99 Ib 39), die von der PKK-Rechtsprechung relativiert worden sei, insofern völkerrechtliche menschenrechtliche Normen Vorrang hätten (BGE 125 II 417). Im Gesetzgebungsprozess sei mit Art. 66a Abs. 2 und Art. 66abis StGB einer Einzelfall- und Verhältnismässigkeitsprüfung Rechnung getragen worden. In der Schlussabstimmung sei die Vorlage im Nationalrat am 20. März 2015 mit 109 zu 68 (bei 18 Enthaltungen) und im Ständerat mit 36 zu 3 Stimmen (bei 5 Enthaltungen) angenommen worden. Der Gesetzgeber habe eine Kollision mit dem Staatsvertrag bewusst in Kauf genommen (BGE 138 II 524 E. 5.1 S. 532 f.). Die Gegenausnahme der
BGE 145 IV 55 S. 58
PKK-Rechtsprechung komme nicht zur Anwendung, da mit der Härtefallklausel dem elementaren Grundsatz der Verhältnismässigkeit staatlichen Handelns im Sinne von Art. 5 Abs. 2 BV Beachtung geschenkt worden sei, welche die Einzelfallprüfung erlaube und somit keinen Widerspruch zum Freizügigkeitsabkommen (FZA) eröffne, da die völkerrechtlich gebotene Verhältnismässigkeitsprüfung durchgeführt werden könne. Im Anwendungsfall könne auf die zutreffenden Ausführungen der Vorinstanz verwiesen werden.
Der Beschwerdeführer repliziert, Fakt sei, dass das Landesrecht eine strengere Handhabung der Landesverweisung zulasse und somit einen immanenten Widerspruch zum FZA darstelle. Das FZA müsse als vorrangig eingestuft werden.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Die Vorinstanz verweist den Beschwerdeführer, einen schwedisch-serbischer Doppelbürger mit Aufenthaltsbewilligung B, im Sinne von Art. 66abis StGB für 3 Jahre des Landes. Schweden ist Mitgliedstaat der EU. Der Beschwerdeführer kann sich deshalb als schwedischer Staatsangehöriger grundsätzlich auf das zwischen der Schweiz und der EU abgeschlossene und für die Schweiz am 1. Juni 2002 in Kraft getretene Freizügigkeitsabkommen berufen (Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit [FZA; SR 0.142.112. 681]).

3.2 Ziel des FZA zu Gunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU und der Schweiz ist die Einräumung des Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie das Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien (Grundbestimmungen, Art. 1 lit. a), Erleichterung der Erbringung von Dienstleistungen (Art. 1 lit. b), Einräumung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt für Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben (Art. 1 lit. c) und die Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer (Art. 1 lit. d). Diese Personen, die sich "rechtmässig" im Rahmen der Anhänge I, II und III [in der Schweiz] aufhalten, werden nicht diskriminiert (Art. 2; vgl. BGE 144 II 1 E. 4.5 ff. S. 8 ff.). Das Einreiserecht wird gemäss den
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in Anhang I festgelegten Bestimmungen eingeräumt (Art. 3; vgl. BGE 143 IV 97 E. 1.2.1 S. 100). Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird (unter Vorbehalt) gewährt (Art. 4). Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, wird das Aufenthaltsrecht unter spezifischen Voraussetzungen eingeräumt (Art. 2 Abs. 2 und Art. 24 Anhang I FZA).
Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA bestimmt unter dem Randtitel "Öffentliche Ordnung": "Die auf Grund dieses Abkommens eingeräumten Rechte dürfen nur durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden."

3.3 Die Zielsetzung wie die Bestimmungen in den umfangreichen Anhängen des FZA regeln das Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und Selbständigerwerbenden sowie ihrer Familienangehörigen (diesbezüglich regelt Art. 3 Anhang I FZA das Recht von Familienangehörigen, bei einer aufenthaltsberechtigten Person Wohnung zu nehmen; vgl. BGE 144 II 1 E. 3 S. 4 ff.), ferner von Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben. Mit dem Abschluss des FZA hat die Schweiz Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU im Wesentlichen ein weitgehendes und reziprokes Recht auf Erwerbstätigkeit eingeräumt, allerdings unter dem Vorbehalt eines rechtskonformen Verhaltens im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA. Damit wurde der völkerrechtlich unbestrittene Grundsatz in das FZA übernommen, wonach jeder Staat die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern auf seinem Territorium grundsätzlich selber bestimmen und damit auch einschränken kann.
Das FZA berechtigt mithin lediglich zu einem doppelt bedingten Aufenthalt in der Schweiz, nämlich einerseits nach Massgabe der spezifischen Vertragsvereinbarungen als Voraussetzung eines rechtmässigen Aufenthalts und andererseits nach Massgabe des rechtskonformen Verhaltens im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA. Der schuldig gesprochene Straftäter hatte sich evidentermassen nicht an diese Konformitätsbedingungen gehalten.
Das FZA enthält keine strafrechtlichen Bestimmungen und ist kein strafrechtliches Abkommen. Mit dem FZA vereinbarte die Schweiz - pointiert formuliert - keine Freizügigkeit für kriminelle Ausländer. Die Schweiz ist in der Legiferierung des Strafrechts auf ihrem Territorium durch das FZA nicht gebunden. Jedoch hat sie die völkervertragsrechtlich vereinbarten Bestimmungen des FZA zu beachten. Eine Vertragspartei kann sich nicht auf ihr innerstaatliches
BGE 145 IV 55 S. 60
Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen (Art. 27 des für die Schweiz am 6. Juni 1990 in Kraft getretenen Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge [VRK; SR 0.111]). Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen (Art. 31 Abs. 1 VRK).

3.4 In der Volksabstimmung vom 28. November 2010 wurde die "Ausschaffungsinitiative" von 52,3% der Abstimmenden und dem Mehr von 15 5/2 gegen 5 1/2 Stände angenommen. Die Umsetzung des vom Souverän beschlossenen Art. 121 Abs. 3-6 BV wurde damit dem Bundesparlament übertragen. Dieser verfassungsrechtlich mit der Umsetzung von Initiativen beauftragte Gesetzgeber hatte die Aufgabe, den Volkswillen möglichst wortgetreu umzusetzen. Die Mehrheit der Stimmenden wollte, dass mit straffälligen Ausländern streng zu verfahren ist. Wie der Kommissionssprecher des Ständerats als Zweitrat am 10. Dezember 2014 weiter ausführte, beinhaltet auch diese Verfassungsbestimmung einen Interpretationsspielraum, mit welchem sorgsam umzugehen sei; insbesondere habe das Volk damit den rechtsstaatlich fundamentalen Grundsatz der Verhältnismässigkeit staatlichen Handelns nicht ausser Kraft gesetzt (AB 2014 S 1236). Der Kommissionssprecher wies darauf hin, dass der Nationalrat als Erstrat (mit dem der nachmalig deutlich abgelehnten "Durchsetzungs-Initiative" entnommenen Deliktskatalog) zum Teil weit über das hinausging, was für die wortgetreue Umsetzung der Ausschaffungsinitiative notwendig sei (AB 2014 S 1237).
Der Kommissionssprecher des Nationalrats hatte am 20. März 2014 zunächst erläutert, dass der Kern des direkten Gegenvorschlags, der die Verhältnismässigkeit wahren und die Massnahmen von der Höhe des Strafmasses abhängig machen und Art. 5 BV respektieren wollte, vom Souverän (mit 52,6% der Abstimmenden und von 20 6/2 und damit allen Ständen) explizit abgelehnt worden war. Insofern sei eine rechtlich korrekte und konfliktfreie Umsetzung durchaus teilweise eine Quadratur des Kreises (AB 2014 N 489).
Es ist festzustellen, dass die Umsetzung im Bundesparlament ausführlich und kontrovers debattiert wurde. Gegen die Umsetzung wurde das Referendum indes nicht ergriffen. Die obligatorische und die nicht obligatorische Landesverweisung gemäss Art. 66a ff. StGB wurden mit Änderung des StGB vom 20. März 2015 Gesetz und am 1. Oktober 2016 in Kraft gesetzt (AS 2016 2337; zu den
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Gesetzgebungsarbeiten bereits Urteil 6B_371/2018 vom 21. August 2018 E. 2.2 und 2.3).

4.

4.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, bei der Landesverweisung bestehe ein immanenter Normenkonflikt zum FZA, da die Bestimmungen nicht deckungsgleich seien und keine strengere Handhabung der Wegweisung von EU-Bürgern ermöglichten, als es das FZA vorsehe. Die Vorinstanz sehe deshalb keinen Normenkonflikt, weil sie die Bestimmungen des StGB in hypothetischen Einzelfällen prüfe und das Ergebnis teilweise dasselbe sei, wie wenn das FZA auf den Einzelfall angewendet worden wäre. Dabei verkenne sie die Prüfungsreihenfolge der verschiedenen Bestimmungen: Jene des FZA und nicht diejenigen des Landesrechts seien für die Wegweisung, respektive Fernhaltemassnahmen von EU-Bürgern in der Schweiz massgebend und nicht umgekehrt.
Die Argumentation ist nicht stichhaltig. Das FZA schreibt keine Prüfungsreihenfolge vor. Kommt das Strafgericht landesrechtlich zu einem Ergebnis, das sich als mit dem FZA kompatibel erweist, ist das FZA offenkundig nicht verletzt. Der Beschwerdeführer geht von einem "grundsätzlichen Wegweisungsautomatismus" aus und behauptet, wenn die Vorinstanz sinngemäss damit argumentiere, dass die Anwendung der Härtefallklausel den Normenkonflikt zum FZA quasi "abfedern" könne, irre sie darüber hinweg, dass die Härtefallklausel schon gar nicht zur Anwendung gelangen könne, ausser das Völkerrecht bzw. das FZA wäre gegenüber dem Landesrecht nachrangig; es gebe aber keinen Anlass, das Landesrecht als vorrangig einzustufen.
Lässt sich Landesrecht völkerrechtskonform anwenden, stellt sich die Frage einer Normenhierarchie nicht. Diese kann offenbleiben. Das Strafgericht hat zunächst das ihm vertraute Landesrecht anzuwenden.

4.2 Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, die Wegweisung eines EU-Bürgers sei nur im Sinne von Art. 5 Anhang I FZA gerechtfertigt. Dabei setze das FZA für eine Beschränkung des Aufenthaltsrechts eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung voraus, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre (Urteile 2C_108/2016 vom 7. September 2016 E. 2.3 und 2C_238/2012 vom 30. Juli 2012 E. 2.3; BGE 139 II 121 E. 5.3 S. 126). Die Behörde, welche über die Beendigung des Aufenthalts entscheide, habe eine spezifische Gesamtwürdigung der Umstände unter dem Blickwinkel der
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Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorzunehmen, wobei diese nicht zwingend mit der strafrechtlichen Würdigung des Verhaltens übereinstimmen müsse (Urteile 2C_108/2016 vom 7. September 2016 E. 2.3 und 2C_406/2014 vom 2. Juli 2015 E. 2.3; BGE 130 II 176 E. 3.4.1 S. 183 f.). Entsprechend der zu berücksichtigenden Rechtsprechung des EuGH genüge eine strafrechtliche Verurteilung nur, wenn die Straftat und das Verschulden des Täters auf eine anhaltend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung schliessen liessen; dabei liessen sich Beschränkungen der Freizügigkeitsrechte nur mit grosser Zurückhaltung rechtfertigen.
Der Beschwerdeführer bezieht sich auf die ausländerrechtliche Rechtsprechung, die vor dem Inkrafttreten der strafrechtlich relevanten Ausführungsgesetzgebung zu Art. 121 BV ergangen ist. Die Landesverweisung ist eine eigenständige strafrechtliche Massnahme. In casu erging keine Beendigung des Aufenthaltsrechts und keine Wegweisung im Sinne des Ausländergesetzes (AuG; SR 142.20), sondern eine Landesverweisung gemäss Art. 66abis StGB. Die zitierte ausländerrechtliche Rechtsprechung erscheint insoweit nicht als einschlägig.

4.3 Der Beschwerdeführer macht mit Blick auf die von ihm zitierte Rechtsprechung geltend, diese Fälle zeigten eindrücklich auf, dass eine Wegweisung eines EU-Bürgers nur bei sehr schwerwiegenden, mehrfach verübten Delikten mit dem FZA vereinbar und demnach möglich sei. Der zu beurteilende Fall könne schlichtweg nicht mit solchen äusserst schwerwiegenden Fällen verglichen werden. Eine Wegweisung wäre bereits aus Gründen der Verhältnismässigkeit nicht gerechtfertigt.
Der Beschwerdeführer argumentiert gestützt auf die ausländerrechtliche Rechtsprechung im Rahmen des AuG. Die von Volk und Ständen angenommene Verfassungsinitiative und deren Umsetzung durch das verfassungsrechtlich berufene Organ des Bundesparlaments führt zu einer klaren Verschärfung der Praxis mittels der strafrechtlichen Landesverweisung. Die federführende Bundespräsidentin erklärte in der Debatte des Nationalrats vom 11. März 2015, der Beschluss des Ständerats bedeute eine massive Verschärfung der Ausschaffungspraxis. Gleichzeitig ermögliche der Beschluss des Ständerats den Gerichten, dass sie das Gesetz im Einzelfall anwenden könnten. Die Gewaltentrennung verlange, dass der Gesetzgeber Gesetze mache, die das Gericht anwenden könne und müsse, und zwar auch im Einzelfall anwenden könne und müsse (AB 2015 N 255).
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4.4 Die Vorinstanz beachtet den Willen des Gesetzgebers. Sie erwägt abschliessend, aufgrund der erheblichen Gefahr weiterer Straftaten, insbesondere solcher gegen Leib und Leben, und in Anbetracht der trotz des schon längeren Aufenthalts ungenügenden Integration und Verwurzelung in der Schweiz, dränge sich eine Landesverweisung auf. Deren Dauer sei in Relation zum Strafmass und zum noch jugendlichen Alter des Beschwerdeführers auf das gesetzliche Minimum von drei Jahren festzusetzen. Angesichts der Anlasstat und der Tendenz zu zunehmender Gewaltanwendung erscheine die Rückfallgefahr als so erheblich, dass auch nach den Massstäben der EuGH-Rechtsprechung eine Landesverweisung zulässig und am Platze sei.
Die Vorinstanz berücksichtigt das Verhältnismässigkeitsprinzip. Gegen die vorinstanzliche Entscheidung wendet der Beschwerdeführer nichts Entscheidendes ein. Vielmehr lässt sich auch den von ihm zitierten bundesgerichtlichen Urteilen gerade entnehmen, dass ein geringes, aber tatsächlich vorhandenes Rückfallrisiko für eine aufenthaltsbeendende Massnahme im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA genügen kann, sofern dieses Risiko eine schwere Verletzung hoher Rechtsgüter wie z.B. die körperliche Unversehrtheit beschlägt. Mit dem Erfordernis der gegenwärtigen Gefährdung ist nicht gemeint, dass weitere Straftaten mit Gewissheit zu erwarten sind oder umgekehrt solche mit Sicherheit auszuschliessen sein müssten (Urteil 2C_108/2016 vom 7. September 2016 E. 2.3). Allerdings sind Begrenzungen der Freizügigkeit im Sinne von Art. 5 Anhang I FZA einschränkend auszulegen; es kann etwa nicht lediglich auf den "ordre public" verwiesen werden, ungeachtet einer Störung der sozialen Ordnung, wie sie jede Straftat darstellt (BGE 139 II 121 E. 5.3 S. 125 f.). Art. 5 Anhang I FZA steht Massnahmen entgegen, die (allein) aus generalpräventiven Gründen verfügt werden (Urteil 2C_406/ 2014 vom 2. Juli 2015 E. 2.3). Das ist in casu nicht der Fall. Bei strafrechtlichen Verurteilungen verlangt der EuGH eine spezifische Prüfung unter dem Blickwinkel der dem Schutz der öffentlichen Ordnung innewohnenden Interessen; eine frühere strafrechtliche Verurteilung darf nur insoweit berücksichtigt werden, als die zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (BGE 130 II 176 E. 3.4.1 S. 183 f.). Diese spezifische Prüfung hat die Vorinstanz vorgenommen.

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