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Urteilskopf

116 IV 157


29. Urteil des Kassationshofes vom 26. März 1990 i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen W. (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

Art. 36 Abs. 2 SVG, Art. 14 Abs. 1 VRV; Rechtsvortritt. Begriff der Strassenverzweigung.
Massgebliche Verzweigungsfläche ist auch dann die ganze Schnittfläche der zusammentreffenden Strassen, wenn auf der vortrittsberechtigten Fahrbahn eine Sicherheitslinie angebracht ist; diese ist keine abweichende Markierung bzw. Signalisation, welche - wie etwa eine Wartelinie - den Beginn der Verzweigungsfläche zu verändern vermag.

Sachverhalt ab Seite 157

BGE 116 IV 157 S. 157

A.- Am 8. Juli 1988 ereignete sich in Walperswil bei der Einmündung der Bühlstrasse von rechts in die eine Linkskurve beschreibende "Hauptstrasse" ein Verkehrsunfall. W. fuhr auf der "Hauptstrasse" auf die Strassenverzweigung - auf welcher gemäss Art. 36 Abs. 2 SVG Rechtsvortritt galt - zu; dies in der Absicht, auf dieser weiterzufahren. G., der von der Bühlstrasse her kam, wollte in die "Hauptstrasse" einmünden und auf dieser nach links in Richtung Aarberg abbiegen. Auf der Bühlstrasse war eine sechs Meter lange Sicherheitslinie angebracht, die am Rande der "Hauptstrasse" endete. G. schnitt die Kurve und fuhr links von dieser Sicherheitslinie. Auf der rechten Fahrbahnhälfte der
BGE 116 IV 157 S. 158
"Hauptstrasse" kam es dann ungefähr in der Mitte der Schnittfläche, die diese mit der verlängerten linken Fahrbahn der Bühlstrasse bildet, zu einer Kollision mit dem Personenwagen W.

B.- G. wurde wegen ungenügenden Rechtsfahrens und Überfahrens einer Sicherheitslinie verurteilt; das Urteil ist rechtskräftig. W. sprach der Gerichtspräsident I von Nidau der Nichtgewährung des Rechtsvortrittes gemäss Art. 36 Abs. 2 SVG und Art. 14 Abs. 1 VRV in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 1 SVG schuldig. Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern hiess hingegen mit Urteil vom 25. April 1989 seine Berufung gut und sprach ihn von Schuld und Strafe frei.

C.- Gegen dieses Urteil führt der Generalprokurator des Kantons Bern beim Bundesgericht eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Verurteilung von W. wegen Nichtgewährens des Rechtsvortrittes an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Vorinstanz verzichtete auf Gegenbemerkungen. W. beantragt in seiner Vernehmlassung die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der Vortritt steht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts dem Berechtigten - unter Vorbehalt einer abweichenden Signalisation oder Markierung - auf der ganzen Schnittfläche der zusammentreffenden Strassen zu (BGE 102 IV 259 mit Hinweisen). Die Vorinstanz ging davon aus, die Sicherheitslinie auf der Bühlstrasse habe zur Folge, dass bloss die sich aus der Verlängerung der rechten Fahrbahnhälfte der Bühlstrasse ergebende Schnittfläche die massgebliche Verzweigungsfläche darstelle; die Kollision habe sich ausserhalb dieser Schnittfläche ereignet und der Fahrzeuglenker W. hätte vor dieser Verzweigungsfläche anhalten können, weshalb er von der Anschuldigung des Nichtgewährens des Rechtsvortritts freizusprechen sei.
Demgegenüber vertritt der Beschwerdeführer die Auffassung, die in Frage stehende Sicherheitslinie habe nicht die Bedeutung einer abweichenden Signalisation oder Markierung, wie sie im zitierten Bundesgerichtsentscheid vorbehalten sei.

2. Die massgebliche vortrittsberechtigte Schnitt- oder Verzweigungsfläche wird grundsätzlich durch die Verlängerung der Fahrbahnränder der beiden sich schneidenden Strassen begrenzt.
BGE 116 IV 157 S. 159
Wenn der Vortrittsverpflichtete gemäss Art. 14 Abs. 1 VRV "vor Beginn der Verzweigung" halten muss, so heisst dies, dass er vor dem verlängerten linken Fahrbahnrand einer von rechts einmündenden Strasse anzuhalten hat, wenn er sonst den von rechts herannahenden Fahrzeuglenker in seiner Weiterfahrt auf der Verzweigungsfläche behindern würde (vgl. dazu BGE 115 IV 141 /2). Wenn diese Begrenzung der Schnittfläche nach dem zitierten Bundesgerichtsentscheid nur unter dem Vorbehalt einer abweichenden Signalisation oder Markierung gilt, so kann dies nur bedeuten, dass sich der für das Anhalten des Vortrittsbelasteten massgebliche Beginn der Verzweigungsfläche beispielsweise unter besonderen Umständen durch Anbringen einer Wartelinie (Ziff. 6.13 des Anhanges zur SSV; sog. Haifischzähne), dort wo die verlängerte Mittellinie der vortrittsberechtigten Strasse die vortrittsbelastete Fahrbahn schneidet, entsprechend verändert werden könnte.
Einer Sicherheitslinie auf der vortrittsberechtigten Fahrbahn kommt eine solche Wirkung indessen nicht zu (so auch die deutsche Rechtsprechung: vgl. JAGUSCH/HENTSCHEL, Strassenverkehrsrecht, 30. Auflage, § 8 StVO N 28, mit Hinweis auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg, in: Deutsches Autorecht, 1968, S. 329). Auch wenn eine solche Sicherheitslinie angebracht ist, bildet die ganze Schnittfläche, einschliesslich die Verlängerung der linken Fahrbahnhälfte der vortrittsberechtigten Strasse, die zu beachtende Verzweigungsfläche.
In gleicher Weise sprach das Bundesgericht im durch den Beschwerdeführer zu Recht angeführten unveröffentlichten Entscheid vom 29. Oktober 1981 i.S. B. einer Sperrfläche eine die Verzweigungsfläche einschränkende Wirkung ab, allerdings unter den besonderen Umständen einer Umleitung des Verkehrs vor einer Baustelle.
In BGE 102 IV 262 wird als Beispiel angeführt, dass bei Schnellstrassen gelegentlich die äusserste linke Spur im Bereich von Einmündungen und eine gewisse Strecke darüber hinaus durch eine Sicherheitslinie von den anderen Spuren getrennt werde. Diese Sicherheitslinie unterscheidet sich indessen von jener im vorliegenden Fall dadurch, dass sie nicht den Beginn der Verzweigungsfläche für den Vortrittsbelasteten, sondern deren Ende festlegt. Daraus kann der Beschwerdegegner daher nichts zu seinen Gunsten ableiten.

3. Wenn die Vorinstanz davon ausging, die Kollision habe sich ausserhalb der massgeblichen Verzweigungsfläche ereignet,
BGE 116 IV 157 S. 160
und gestützt darauf den objektiven Tatbestand der Nichtgewährung des Rechtsvortritts verneinte, verletzte sie Bundesrecht. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist daher gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung, insbesondere auch des subjektiven Tatbestandes (vgl. dazu BGE 80 IV 200 E. 2 und das zitierte unveröffentlichte Bundesgerichtsurteil i.S. B. S. 5 E. 2), an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3

Referenzen

BGE: 102 IV 259, 115 IV 141, 102 IV 262, 80 IV 200

Artikel: Art. 36 Abs. 2 SVG, Art. 14 Abs. 1 VRV, Art. 90 Ziff. 1 SVG