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Urteilskopf

140 IV 172


23. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
6B_280/2014 vom 1. September 2014

Regeste

Art. 147 Abs. 1 StPO; Recht auf Teilnahme an der Einvernahme von anderen beschuldigten Personen.
Der Anspruch beschuldigter Personen auf Teilnahme an Beweiserhebungen gilt nicht in getrennt geführten Verfahren gegen andere beschuldigte Personen (E. 1.2).

Sachverhalt ab Seite 172

BGE 140 IV 172 S. 172

A. Am 1. Dezember 2011 reiste X. per Flugzeug von Zürich nach Barcelona. Die mitgeführte Barschaft von Euro 16'360.- übergab sie nach ihrer Ankunft an A. Tags darauf, um ca. 5 Uhr morgens,
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wurde ihr von diesem und einer weiteren Person in Barcelona ein Personenwagen zur Rückfahrt in die Schweiz übergeben, in welchem 12'766 Gramm Kokaingemisch mit einem Reinheitsgrad von bis zu 91 % (total 9'159 Gramm reines Kokain-Hydrochlorid) und 5'518 Gramm Streckmittel versteckt waren. X. fuhr gleichentags alleine zurück in die Schweiz, wo sie nach der Ankunft an ihrem Domizil in Zürich verhaftet wurde. A., der zuvor per Linienflug aus Barcelona in Zürich eingetroffen war, wurde ebenfalls festgenommen.

B. Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X. am 21. Januar 2014 zweitinstanzlich wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz und Geldwäscherei zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren sowie zu einer bedingten Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu Fr. 30.-.

C. X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen im Hauptpunkt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und sie sei freizusprechen. Zudem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihres Teilnahmerechts gemäss Art. 147 StPO. Die Aussagen von A. vor der Konfrontationseinvernahme vom 24. August 2012 aus dem parallel gegen ihn geführten Verfahren seien nicht verwertbar. Sie sei nicht über die Einvernahmen informiert worden, weshalb sie daran nicht habe teilnehmen können. Es sei rechtsmissbräuchlich, einen Tag vor der Konfrontationseinvernahme eine Befragung von A. durchzuführen, so dass er nur noch darauf verweisen könne. Sie und ihre Verteidigerin hätten sich nicht seriös auf die Konfrontationseinvernahme vorbereiten können, da ihnen das Protokoll der vorgängigen Befragung erst eine Stunde vorher übergeben worden sei. Indem die Vorinstanz auf die unverwertbaren Aussagen abstelle, verletze sie Art. 147 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 StPO, Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV.

1.1 Die Vorinstanz verneint eine Verletzung des Teilnahmerechts. Sie teilt die Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts, wonach es nicht um die Teilnahmerechte zweier Mitbeschuldigter gehe, gegen die wegen eines gemeinschaftlich verübten Delikts eine Untersuchung geführt worden sei. Vorliegend handle es sich um Delikte, die in bloss teilweiser Mittäterschaft mit weiteren Personen begangen worden seien. Die ersten Befragungen von A. hätten primär zum Ziel gehabt,
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dessen Rolle im Drogengeschäft zu eruieren. Die Anwesenheit sämtlicher Beschuldigter in allen Einvernahmen erscheine der Wahrheitsfindung nicht zuträglich und sei auch aus praktischen Gründen unmöglich. Dies gelte gerade für umfangreiche Untersuchungen mit einem grossen Kreis von Verdächtigen.
Die Vorinstanz hält ergänzend fest, der seit der ersten Einvernahme anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin seien bereits Monate vor der Konfrontationseinvernahme wiederholt wesentliche, sie belastende Aussagen von A. sowie aufgezeichnete SMS und Audiogespräche vorgehalten worden. Ihr sei ab Mitte Februar 2012 bekannt gewesen, dass A. abweichende Standpunkte eingenommen und sie massiv belastet habe. Die Beschwerdeführerin habe nie eine Teilnahme an den Einvernahmen oder deren Wiederholung verlangt, wozu ihr am Ende ihrer Befragungen Gelegenheit geboten worden sei und wozu allenfalls auch Anlass bestanden hätte. Wie beim Akteneinsichtsrecht obliege es der beschuldigten Person, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Der Beschwerdeführerin und ihrer Verteidigerin sei eine Stunde vor Beginn der Konfrontationseinvernahme eine Kopie der tags zuvor durchgeführten Befragung von A. ausgehändigt worden und sie hätten sich besprechen können. Damit sei ihr angemessen und hinreichend Gelegenheit gewährt worden, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen. Sie hätte auf allfällige Widersprüche in den Aussagen hinweisen und Ergänzungsfragen stellen können, was sie jedoch nicht getan habe.
Die Vorinstanz kommt zum Schluss, die Durchführung von Einzelbefragungen vor der Konfrontationseinvernahme erscheine angemessen und korrekt, zumal dafür auch sachliche Gründe bestanden hätten und nicht bloss organisatorische Erleichterungen seitens der Staatsanwaltschaft angeführt worden seien. Angesichts der Mehrzahl mutmasslich tangierter Personen in unterschiedlichen Rollen seien aus Gründen der Praktikabilität und der Effizienz nicht parteiöffentliche Einzelbefragungen des zunächst ungeständigen A. angezeigt gewesen. Den Teilnahmerechten der Beschwerdeführerin sei anderweitig Nachachtung verschafft worden und eine prozessuale Schlechterstellung sei nicht ersichtlich. Das rechtliche Gehör sei nicht verletzt.

1.2

1.2.1 Art. 147 Abs. 1 Satz 1 StPO statuiert den Grundsatz der Parteiöffentlichkeit der Beweiserhebungen im Untersuchungs- und Hauptverfahren. Demnach haben die Parteien das Recht, bei
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Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen. Dieses spezifische Teilnahme- und Mitwirkungsrecht fliesst aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 107 Abs. 1 lit. b StPO). Es kann nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen (vgl. Art. 108, Art. 146 Abs. 4 und Art. 149 Abs. 2 lit. b StPO; s. auch Art. 101 Abs. 1 StPO) eingeschränkt werden (vgl. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1187 f. Ziff. 2.4.1.3). Beweise, die in Verletzung von Art. 147 Abs. 1 StPO erhoben worden sind, dürfen nicht zulasten der Partei verwertet werden, die nicht anwesend war (Art. 147 Abs. 4 StPO; vgl. zum Ganzen BGE 139 IV 25 E. 4.2 S. 29 f.; Urteil 1B_404/2012 vom 4. Dezember 2012 E. 2.1.2).

1.2.2 Das Recht, bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen, setzt Parteistellung voraus (vgl. Art. 147 Abs. 1 StPO). Parteien sind die beschuldigte Person, die Privatklägerschaft sowie im Haupt- und im Rechtsmittelverfahren die Staatsanwaltschaft (Art. 104 Abs. 1 StPO). Die Beschränkung der Teilnahmerechte auf die Parteien war bereits im Vorentwurf vom Juni 2001 zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung (VE-StPO) und im Entwurf vom 21. Dezember 2005 zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung (E-StPO; BBl 2006 1389, 1431) vorgesehen (Art. 158 und 159 VE-StPO; Art. 144 E-StPO).
Der gesetzliche Anspruch auf Teilnahme an den Beweiserhebungen im Untersuchungs- und Hauptverfahren gilt grundsätzlich auch für die Einvernahme von Mitbeschuldigten (BGE 139 IV 25 E. 5.1-5.3 S. 30 ff.; Urteil 1B_404/2012 vom 4. Dezember 2012 E. 2.1). Separate (nicht parteiöffentliche) polizeiliche Befragungen sind im Ermittlungsverfahren möglich, wenn die Polizei im Rahmen ihrer selbstständigen Ermittlungstätigkeit Befragungen von tatverdächtigen Personen durchführt (Art. 306 Abs. 2 lit. b StPO; BGE 139 IV 25 E. 5.4.3 S. 35). Art. 159 Abs. 3 VE-StPO hatte noch vorgesehen, dass Aussagen von Mitbeschuldigten im gleichen Verfahren nur als Beweismittel verwertet werden können, wenn die Beschuldigten und die Verteidigung während des Verfahrens mindestens einmal mit diesen Mitbeschuldigten und deren Aussagen konfrontiert wurden. Diese Regelung wurde allerdings weder in den bundesrätlichen Entwurf (Art. 144 E-StPO) noch in die vom Parlament verabschiedete einschlägige Version von Art. 147 StPO übernommen. Die im Vorentwurf zur StPO vorgesehene und auf zwei Artikel aufgeteilte
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restriktivere Ausgestaltung der Teilnahmerechte (vgl. Art. 158 und 159 VE-StPO) wurde in einem Artikel zusammengefasst, wobei ein umfassendes Teilnahmerecht der Parteien statuiert wurde.

1.2.3 In getrennt geführten Verfahren kommt den Beschuldigten im jeweils andern Verfahren keine Parteistellung zu. Ein gesetzlicher Anspruch auf Teilnahme an den Beweiserhebungen im eigenständigen Untersuchungs- und Hauptverfahren der andern beschuldigten Person besteht folglich nicht (Art. 147 Abs. 1 StPO e contrario). Die Einschränkung der Teilnahmerechte von Beschuldigten in getrennten Verfahren im Vergleich zu Mitbeschuldigten im gleichen Verfahren ist vom Gesetzgeber implizit vorgesehen und hinzunehmen.

1.3 Sofern sich die Strafverfolgungsbehörden auf Aussagen eines Beschuldigten aus einem getrennt geführten Verfahren abstützen, ist dem Konfrontationsrecht Rechnung zu tragen. Diese können nur verwertet werden, wenn der Beschuldigte wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, die ihn belastenden Aussagen in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Beschuldigten im getrennten Verfahren zu stellen (vgl. BGE 133 I 33 E. 2.2 S. 37 f.; BGE 131 I 476 E. 2.2 S. 480 f.; BGE 129 I 151 E. 3.1 S. 153 f. und E. 4.2 S. 157; BGE 125 I 127 E. 6b S. 132 f. und 6c/aa S. 134; je mit Hinweisen). Gemäss Art. 178 lit. f StPO ist der Beschuldigte aus einem andern Verfahren als Auskunftsperson einzuvernehmen. Die Bestimmung erfasst Mittäter oder Teilnehmer der abzuklärenden Tat, die in einem andern Verfahren beurteilt werden. Der Fall, dass in den beiden Verfahren nicht gleiche, aber konnexe Straftaten verfolgt werden, fällt ebenfalls darunter (siehe BBl 2006 1208 f. Ziff. 2.4.4).

1.4 Der Beschwerdeführerin kam im getrennt geführten Verfahren gegen A. keine Parteistellung zu. Sie brauchte daher nicht über die Einvernahmetermine orientiert zu werden, da sie kein Teilnahmerecht hatte. Art. 147 Abs. 1 StPO ist vorliegend nicht anwendbar.

1.5 Die Rüge, die Einvernahme von A. einen Tag vor der Konfrontationseinvernahme verstosse gegen Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV, ist unbegründet, soweit sie überhaupt den qualifizierten Begründungsanforderungen genügt (vgl. Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG). A. hat sich an der Konfrontationseinvernahme nochmals zur Sache geäussert, sodass die Beschwerdeführerin ihr Fragerecht tatsächlich ausüben konnte (vgl. Urteil 6B_369/2013 vom 31. Oktober 2013 E. 2.3.3). Davon hat sie indes keinen Gebrauch gemacht. Ob die Tatsache, dass ihr das Einvernahmeprotokoll der tags zuvor erfolgten
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Befragung erst eine Stunde vor Beginn der Konfrontationseinvernahme ausgehändigt wurde, eine seriöse Vorbereitung verhindert oder allenfalls beeinträchtigt hat, kann dahingestellt bleiben, da die Beschwerdeführerin dies nicht rechtzeitig rügte (vgl. BGE 135 III 334 E. 2.2 S. 336 mit Hinweisen; Urteil 6B_1071/2013 vom 11. April 2014 E. 1.2).

Inhalt

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Sachverhalt

Erwägungen 1

Referenzen

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