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Urteilskopf

139 IV 214


30. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Y. (Beschwerde in Strafsachen)
6B_337/2012 vom 19. März 2013

Regeste

Übertragung der HIV-Infektion durch ungeschützten Sexualverkehr; Körperverletzung.
Angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der medizinischen Behandlungsfortschritte lässt sich heute nicht mehr sagen, dass die HIV-Infektion schon als solche lebensgefährlich im Sinne von Art. 122 Abs. 1 StGB ist. Sie stellt indessen nach wie vor eine nachteilige pathologische Veränderung mit Krankheitswert dar und ist unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls als einfache oder als schwere Körperverletzung zu qualifizieren (Änderung der Rechtsprechung; E. 3.4).

Sachverhalt ab Seite 215

BGE 139 IV 214 S. 215

A. X. wird in der Anklage vom 1. Dezember 2009/8. September 2010 vorgeworfen, er habe zwischen ca. Ende April 2003 und Juni 2003, wissend um seine HIV-Infektion und die Übertragbarkeit des Virus, mit seinem damaligen Lebenspartner Y. zwischen 5 und 10 Mal ungeschützt oral und anal sexuell verkehrt. Dadurch habe er zumindest in Kauf genommen, diesen mit dem HI-Virus zu infizieren, im Wissen darum, dass die Infektion nach ungewisser, relativ langer Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch von AIDS und anschliessend mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führe. Der nicht informierte Y. habe sich mit dem HI-Virus angesteckt. X. habe sich der schweren Körperverletzung im Sinne von Art. 122 Abs. 1 StGB und des Verbreitens menschlicher Krankheiten im Sinne von Art. 231 StGB schuldig gemacht.

B. Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X. am 3. April 2012 zweitinstanzlich wegen schwerer Körperverletzung (Art. 122 Abs. 1 StGB) und Verbreitens menschlicher Krankheiten (Art. 231 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) schuldig und verurteilte ihn zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 30 Monaten bei einer Probezeit von 2 Jahren. Den zu vollziehenden Teil der Freiheitsstrafe legte es auf acht Monate fest. Überdies verpflichtete es X., Y. eine Genugtuung von Fr. 50'000.- zu bezahlen. Dessen Schadenersatzforderung hiess es dem Grundsatz nach gut. Es verpflichtete X., Y. Fr. 6'000.- als Ersatz für bisher angefallene Gesundheitskosten zu bezahlen. Im darüber hinausgehenden Betrag verwies es Y. auf den Zivilweg.

C. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X., es sei der Entscheid vom 3. April 2012 (Dispositivziffern 1, 2, 3 und 5) aufzuheben (Ziffer 1). Er sei von den Vorwürfen der schweren Körperverletzung und des Verbreitens einer menschlichen Krankheit freizusprechen (Ziffer 2 und 6). Eventuell sei er wegen vollendeter schwerer (recte: einfacher) Körperverletzung schuldig zu sprechen, wobei von
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einer Strafe abzusehen sei (Ziffer 3). Im Falle einer Bestrafung wegen schwerer Körperverletzung sei eine Strafe von maximal 24 Monaten auszusprechen und der Vollzug der Freiheitsstrafe bei einer Probezeit von 2 Jahren aufzuschieben (Ziffer 4 und 5). Weiter sei davon abzusehen, ihn zu einer Genugtuungszahlung zu verpflichten (Ziffer 7). Eventualiter, im Falle einer Verurteilung gemäss Beschwerdeantrag Ziffer 3, sei die Genugtuung auf Fr. 15'000.- festzusetzen. X. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

D. Das Obergericht des Kantons Zürich und Y. verzichten auf eine Stellungnahme zur Beschwerde. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. X. nimmt zur Vernehmlassung der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich in einer Replik Stellung.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.4

3.4.1 Das Bundesgericht qualifizierte die HIV-Infektion in seiner bisherigen Rechtsprechung konstant als lebensgefährliche schwere Körperverletzung im Sinne von Art. 122 Abs. 1 StGB (bzw. Art. 125 Abs. 2 StGB). Es ging davon aus, dass die Infektion mit dem HI-Virus nach relativ langer Zeit bei vielen Betroffenen mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch der Immunschwäche AIDS und anschliessend mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führte. Dass die Lebensgefahr im Sinne der zitierten Bestimmungen notwendigerweise eine zeitlich unmittelbare bzw. akute sein müsse, verneinte es. Massgeblich sei nur, dass eine erhebliche Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Verlaufs bestehe. Die HIV-Infektion erfülle diese Voraussetzung. Das Bundesgericht übersah nicht, dass die Medizin Fortschritte gemacht hatte und den HIV-Infizierten verbesserte medikamentöse Behandlungen zur Verfügung standen. Es stufte diese aber nicht als derart wegweisend ein, dass es sich veranlasst sah, die Qualifikation der HIV-Infektion als lebensgefährlich in Frage stellen zu müssen (BGE 131 IV 1 E. 1.1; BGE 125 IV 242 E. 2b; siehe auch BGE 134 IV 193; am Rande BGE 116 IV 133).
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung stiess in der Lehre teilweise auf Zustimmung (vgl. BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Bd. I, 3. Aufl. 2010, N. 8 zu Art. 122 StGB; ANDREAS DONATSCH, Delikte gegen den Einzelnen, 9. Aufl. 2008, S. 39; HANS SCHULTZ, Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1990, ZBJV 128/1992 S. 12), zu einem erheblichen Teil aber auf Kritik.
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Einzelne Autoren erachten die Subsumtion der HIV-Übertragung unter die Tatbestandsvariante der lebensgefährlichen Verletzung nach Art. 122 Abs. 1 StGB (mangels Unmittelbarkeit der Lebensgefahr) als verfehlt und fordern eine Subsumtion unter die Generalklausel einer "andern schweren Gesundheitsschädigung" im Sinne von Art. 122 Abs. 3 StGB (so namentlich TRECHSEL/FINGERHUTH, Schweizerisches Strafrecht, Praxiskommentar, 2013, N. 2 zu Art. 122 StGB sowie N. 9 ff. zu Art. 231 StGB; ROTH/BERKEMEIER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 9 und 22 zu Art. 122 StGB). Andere qualifizierten und qualifizieren die HIV-Infektion als solche objektiv lediglich als einfache Körperverletzung (so insb. KARL-LUDWIG KUNZ, Aids und Strafrecht, Die Strafbarkeit der HIV-Infektion nach schweizerischem Recht, ZStrR 107/1990 S. 39 ff., 46 ff.; GUIDO JENNY, Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1999, ZBJV 136/2000 S. 641; so wohl auch FELIX BOMMER, Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 2008, ZBJV 146/2010 S. 163, und STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, Besonderer Teil, Bd. I, Straftaten gegen Individualinteressen, 7. Aufl. 2010, S. 76).

3.4.2 An der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann insofern nicht festgehalten werden, als sich heute angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten nicht mehr sagen lässt, dass der Zustand der Infiziertheit mit dem HI-Virus schon als solcher generell lebensgefährlich im Sinne von Art. 122 Abs. 1 StGB ist. Mit modernen antiretroviralen Kombinationstherapien (Highly Active Anti-Retroviral Therapy [HAART]) ist es möglich, den Ausbruch von AIDS hinauszuschieben, die Vermehrung der HI-Viren im Körper aufzuhalten, die Viruslast im Blut unter die Nachweisgrenze zu senken und die Lebenserwartung von HIV-Infizierten erheblich zu steigern, so dass bei früher Diagnose und guter Behandlung HIV-Infizierte fast so lange leben können wie nicht Infizierte (siehe MÖSCH PAYOT/PÄRLI, Der strafrechtliche Umgang mit HIV/AIDS in der Schweiz im Lichte der Anliegen der HIV/AIDS-Prävention: Status Quo, Reflexion, Folgerungen, Teil 1: Die schweizerische Rechtsprechung: empirische und dogmatische Analyse, AJP 2009 S. 1261 ff.; 1269 f.; FUMIYO NAKAGAWA UND ANDERE, Projected life expectancy of people with HIV according to timing of diagnosis, AIDS: Official Journal of the international AIDS Society Bd. 26 Nr. 3 vom 28. Januar 2012 S. 335-343; ROLF ROSENBROCK UND ANDERE, Die Normalisierung von AIDS in
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Westeuropa, Der Politik-Zyklus am Beispiel einer Infektionskrankheit, Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Public Health, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung [WZB] No. P99-201, S. 30 ff.; siehe auch VERNAZZA/HIRSCHEL/BERNASCONI/FLEPP, Les personnes séropositives ne souffrant d'aucune autre MST et suivant un traitement antirétroviral efficace ne transmettent pas le VIH par voie sexuelle, Schweizerische Ärztezeitung 2008 S. 165 ff.). Damit fehlt es heute - unter der Voraussetzung medizinischer Behandlung - an der erheblichen Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Verlaufs und folglich an der Lebensgefahr der HIV-Infektion im Sinne der Tatbestandsvariante von Art. 122 Abs. 1 StGB. Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse haben teilweise bereits Eingang in die Rechtspraxis der Kantone gefunden. So sprach beispielsweise die Cour de Justice du Canton de Genève am 23. Februar 2009 einen HIV-positiven Mann, welcher ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte, u.a. vom Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung frei. Er sei aufgrund der Einnahme antiretroviraler Medikamente bei einer Viruslast von Null nicht mehr infektiös gewesen (vgl. zum Sachverhalt Urteil 6B_260/2009 vom 30. Juni 2009; siehe hierzu auch Plädoyer 2009 2 S. 65 [Rubrik Rechtsprechung]).

3.4.3 Dass die HIV-Infektion als solche auch unter Berücksichtigung der medizinischen Fortschritte indes nach wie vor eine nachteilige pathologische Veränderung mit Krankheitswert darstellt, steht ausser Diskussion. Lässt sich diese Infektion auf einen Übertragungsakt zurückführen, ist mit nahezu einhelliger Meinung von einer tatbestandsmässigen Körperverletzung auszugehen (BGE 125 IV 242 E. 2b/aa; STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, a.a.O., S. 66 N. 8; vgl. für das deutsche Recht THOMAS FISCHER, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 59. Aufl., München 2012, N. 7 zu § 223 StGB; ESER/STERNBERG-LIEBEN, in: Strafgesetzbuch, Kommentar, Schönke/Schröder [Hrsg.], 28. Aufl., München 2010, N. 7 zu § 223 StGB). Fraglich ist nur, ob sie unter den Tatbestand der einfachen Körperverletzung zu subsumieren ist, wie es der Beschwerdeführer fordert (so namentlich KARL-LUDWIG KUNZ, a.a.O., S. 46 ff., weitere Hinweise unter E. 3.4.1), oder unter denjenigen der schweren Körperverletzung, namentlich im Sinne der Generalklausel nach Art. 122 Abs. 3 StGB bzw. Art. 125 Abs. 2 StGB (so u.a. ROTH/BERKEMEIER, a.a.O., N. 9 und 22 zu Art. 122 StGB).

3.4.4 Im Rahmen dieser Beurteilung ist einerseits in Rechnung zu stellen, dass HIV (und AIDS) heute in der Medizin behandelt
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werden wie andere chronische Krankheiten (vgl. RAOUL GASQUEZ, Pour la dépénalisation de l'exposition au VIH, Plädoyer 2009 4 S. 53). Die modernen (Kombinations-)Therapien sind effizient und werden in der Regel gut vertragen. Die Lebenserwartung von HIV-Infizierten gleicht sich derjenigen von Gesunden an (vgl. vorstehend E. 3.4.2). Andererseits ist HIV nicht heilbar. Eine Impfung ist trotz grosser medizinischer Fortschritte nicht in Sicht. Die Therapien stellen hohe Anforderungen an die Disziplin eines Betroffenen. Die Medikamente müssen ein Leben lang streng vorschriftsgemäss eingenommen werden (Therapietreue) und können zu körperlichen und/oder seelischen Nebenwirkungen mit Beeinträchtigung der Lebensqualität führen. Überdies besteht das Risiko von Resistenzentwicklungen, Wechselwirkungen mit andern Medikamenten und unerwünschten Langzeitnebenwirkungen (wie etwa dauerhafte Organschädigungen etc.). Aus dieser beispielhaften Aufzählung erhellt, dass ein Betroffener infolge der HIV-Ansteckung trotz verbesserter Behandlungsmethoden und Medikamentenverträglichkeit nach wie vor komplexen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt ist bzw. sein kann. Alleine die Gewissheit, mit dem heute noch nicht heilbaren HI-Virus infiziert zu sein, kann zu einer Erschütterung des seelischen Gleichgewichts führen.

3.4.5 Wie diese möglichen Belastungen in ihrer Gesamtheit rechtlich zu beurteilen sind, kann das Bundesgericht vorliegend nicht entscheiden, da diese Frage weder Gegenstand der Anklage noch der vorinstanzlichen Urteile bildete. Dass der Beschwerdeführer die Problematik aufwirft und die Beschwerdegegnerin 1 in ihrer Vernehmlassung darauf eingeht, führt zu keinem andern Ergebnis. Die Vorinstanz wird deshalb - nach allfälliger Ergänzung der Anklageschrift und Gewährung der prozessualen Verfahrensrechte - darüber zu befinden haben, ob es sich um einen Verletzungserfolg im Sinne von Art. 122 Abs. 3 StGB (bzw. Art. 125 Abs. 2 StGB) oder um einen solchen gemäss Art. 123 StGB (bzw. Art. 125 Abs. 1 StGB) handelt. Allenfalls wird sie, um sich in tatsächlicher Hinsicht ein besseres Bild über den aktuellen Forschungsstand, die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten und deren Folgen machen zu können, ein Gutachten einholen und/oder weitere geeignete Abklärungen vornehmen müssen.
Die Vorinstanz wird weiter beurteilen, ob und inwiefern die möglichen psychischen Belastungen (beispielsweise bei Eröffnung der
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Diagnose) und die allenfalls negativen Auswirkungen der Therapien dem Täter objektiv und subjektiv zugerechnet werden können. (Diese Frage konnte das Bundesgericht in den früheren BGE offenlassen; vgl. BGE 125 IV 242 E. 2b/dd letzter Absatz). Bei der Beurteilung der Zurechenbarkeit wird sie prüfen, ob und inwiefern der Umstand eine Rolle spielt, dass der Beschwerdeführer den Beschwerdegegner 2 im Jahr 2003 ansteckte und die damaligen Behandlungsmethoden (inkl. Medikamentenverträglichkeit, Risiken und Nebenwirkungen) mit den heutigen Methoden wohl nicht (vollständig) vergleichbar waren. Die Vorinstanz wird schliesslich die Strafzumessung unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Urteilszeitpunkt und die Bemessung der Genugtuung neu vornehmen müssen.

Inhalt

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Sachverhalt

Referenzen

BGE: 125 IV 242, 131 IV 1, 134 IV 193, 116 IV 133

Artikel: Art. 122 Abs. 1 StGB, Art. 122 StGB, Art. 125 Abs. 2 StGB, Art. 122 Abs. 3 StGB mehr...