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Urteilskopf

148 V 321


28. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_104/2021 vom 27. Juni 2022

Regeste

Art. 16 und Art. 17 Abs. 1 ATSG; Zumutbarkeit der Selbsteingliederung bei rückwirkend befristeter und/oder abgestufter Rentenzusprache; massgebender Zeitpunkt für die Ermittlung des Eckwerts des 55. Altersjahres.
Für die Ermittlung, ob der Eckwert des 55. Altersjahres erreicht ist, wird bei rückwirkend befristeter und/oder abgestufter Rentenzusprache - gleich wie bei der Revision eines bestehenden Rentenanspruchs nach Art. 17 ATSG (vgl. BGE 141 V 5) - auf den Verfügungszeitpunkt abgestellt (E. 7.3).

Sachverhalt ab Seite 322

BGE 148 V 321 S. 322

A. Der 1963 geborene A. war zuletzt vom 1. Januar 2013 bis 31. März 2015 als Maurer bei der B. AG angestellt. Diese löste das Arbeitsverhältnis aus wirtschaftlichen Gründen auf. Am 9. Februar 2015 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich kündigte mit Vorbescheid vom 26. Februar 2016 an, dass sie das Leistungsbegehren abweisen werde. Auf Einwand vom 14. März 2016 mit ergänzender Begründung vom 20. Mai 2016 hin tätigte die Verwaltung weitere Abklärungen und stellte A. mit neuem Vorbescheid vom 9. März 2017 rückwirkend die Zusprache einer vom 1. August 2015 bis 31. August 2016 befristeten ganzen Invalidenrente in Aussicht. Dagegen erhob dieser am 27. April 2017 Einwand, woraufhin die IV-Stelle ein polydisziplinäres Gutachten bei der asim Begutachtung, Universitätsspital Basel, vom 14. Juni 2019 einholte. Am 13. November 2019 verfügte die IV-Stelle wie angekündigt.

B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 16. Dezember 2020 ab.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A., in Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Verfügung der IV-Stelle vom 13. November 2019 seien ihm die gesetzlichen Leistungen zu erbringen und es sei ihm für die Zeit ab September 2016 bis Juli 2017 eine halbe Invalidenrente, für die Zeitspanne ab August 2017 bis Januar 2019 eine ganze Invalidenrente und ab Februar 2019 eine unbefristete Dreiviertelsrente zuzusprechen. Eventualiter beantragt er ab September 2016 eine unbefristete halbe Invalidenrente. Subeventualiter verlangt er die Rückweisung der Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz bzw. an die IV-Stelle.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
BGE 148 V 321 S. 323
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

7. Letztinstanzlich bringt der Beschwerdeführer erstmals vor, der Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen bei der Rentenaufhebung sei in Verletzung des Grundsatzes "Eingliederung vor Rente" nicht geprüft worden.

7.1

7.1.1 Im Verfahren vor Bundesgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG; zum Begriff der neuen Tatsachen und Beweismittel: BGE 136 V 362 E. 3.3.1). Neue Begehren sind unzulässig (Art. 99 Abs. 2 BGG). Neue rechtliche Begründungen sind vor Bundesgericht im Rahmen des Streitgegenstands gestattet (Art. 95 lit. a und Art. 106 Abs. 1 BGG). Unzulässig ist dies nur, wenn dazu neue Tatsachen im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG festgestellt werden müssten. Hingegen kann eine neue rechtliche Begründung jedenfalls dann erfolgen, wenn sie sich auf aktenkundige Tatsachen stützt (BGE 136 V 362 E. 4.1 mit Hinweisen).

7.1.2 Bei Personen, deren Rente revisionsweise herabgesetzt oder aufgehoben werden soll, sind nach mindestens 15 Jahren Bezugsdauer oder wenn sie das 55. Altersjahr zurückgelegt haben, in der Regel vorgängig Massnahmen zur Eingliederung durchzuführen, bis sie in der Lage sind, das medizinisch-theoretisch (wieder) ausgewiesene Leistungspotenzial mittels Eigenanstrengung auszuschöpfen und erwerblich zu verwerten. Die IV-Stelle trägt die Beweislast dafür, dass entgegen der Regel die versicherte Person in der Lage ist, das medizinisch-theoretisch (wieder) ausgewiesene Leistungspotenzial auf dem Weg der Selbsteingliederung erwerblich zu verwerten (vgl. zum Ganzen: BGE 145 V 209 E. 5.1 mit Hinweisen). Bei der Herabsetzung oder Aufhebung der Invalidenrente von über 55-jährigen versicherten Personen sind auch dann grundsätzlich Eingliederungsmassnahmen durchzuführen, wenn über die Befristung und/oder Abstufung zeitgleich mit der Rentenzusprache befunden wird (BGE 145 V 209 E. 5.4).

7.1.3 Die Aufhebung der bisherigen Rente kann nach dem Gesagten in Fällen der nicht zumutbaren Selbsteingliederung erst nach
BGE 148 V 321 S. 324
der Durchführung von Eingliederungsmassnahmen erfolgen (Urteile 8C_798/2019 vom 16. Juli 2020 E. 6.1; 9C_707/2018 vom 26. März 2019 E. 5.1 und 5.2; 8C_582/2017 vom 22. März 2018 E. 6.4; 9C_367/2011 vom 10. August 2011 E. 3.4). Die Rentenaufhebung ohne vorherige Abklärungen bzw. ohne eine den Verhältnissen angepasste Durchführung befähigender Massnahmen ist daher bundesrechtswidrig (Urteile 8C_198/2021 vom 15. September 2021 E. 10.1; 8C_798/2019 vom 16. Juli 2020 E. 6.1 mit Hinweis).

7.1.4 Die Rüge, der Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen sei bei der Rentenaufhebung in Verletzung des Grundsatzes "Eingliederung vor Rente" nicht geprüft worden, hat der Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren zwar nicht bemüht. Da die Rente jedoch mit Blick auf das in Erwägung 7.1.3 Dargelegte nicht ohne vorherige Abklärung zur Notwendigkeit befähigender Massnahmen aufgehoben werden darf, gehört diese Frage, die ohnehin von Amtes wegen zu prüfen wäre (vgl. die bereits zitierten Urteile 8C_198/2021 E. 10.1 und 8C_798/2019 E. 6.1), zum gegebenen Streitgegenstand (vgl. nicht publ. E. 3.1).

7.2 Das Bundesgericht liess in BGE 145 V 209 E. 5.4 offen, welches der für die Ermittlung des Eckwerts des 55. Altersjahres massgebliche Zeitpunkt bei rückwirkend befristeter und/oder abgestufter Rentenzusprache sein soll. Es wies jedoch darauf hin, dass dafür der Zeitpunkt der Verfügung selbst, derjenige der darin verfügten Rentenabstufung bzw. -aufhebung (vgl. BGE 141 V 5) oder jener des Feststehens der entsprechenden medizinischen Zumutbarkeit (BGE 138 V 457) in Frage komme.
Der am 5. November 1963 geborene Beschwerdeführer war am 14. Juni 2019 (Feststehen der medizinischen Zumutbarkeit) wie auch bei Verfügungserlass (13. November 2019) über 55-jährig. Im Zeitpunkt der verfügten Rentenaufhebung (Ende August 2016) war er hingegen erst 52 Jahre alt, weshalb die Frage nach dem massgeblichen Zeitpunkt zu klären ist, zumal die Rechtsprechung gemäss BGE 145 V 209 beim Verfügungsdatum bereits bekannt war (vgl. hierzu etwa Urteil 8C_313/2018 vom 10. August 2018 E. 8 mit Hinweis).

7.3

7.3.1 Das Bundesgericht wies in BGE 145 V 209 E. 5.3 darauf hin, dass sich die rückwirkende Zusprache einer in der Höhe abgestuften und/oder zeitlich befristeten Invalidenrente grundsätzlich nach
BGE 148 V 321 S. 325
denselben Regeln wie die Revision eines bestehenden Rentenanspruchs nach Art. 17 Abs. 1 ATSG richte. Es erwog, schon aus diesem Grund wäre eine unterschiedliche Behandlung der Selbsteingliederungsfrage, je nachdem ob mit der Zusprache der Invalidenrente zugleich ("uno actu") deren Revision erfolge oder ob sich diese auf einen bereits bestehenden Rentenanspruch beziehe, kaum zu rechtfertigen. Der Eingliederungsbedarf müsse im Falle einer Revision oder Wiedererwägung in gleicher Weise abgeklärt werden wie im Rahmen einer erstmaligen Invaliditätsbemessung. Wenn darum in jedem Einzelfall feststehen müsse, dass die (wiedergewonnene) Erwerbsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt (erneut) verwertbar sei, sei nicht einzusehen, weshalb dies nicht gleichermassen für die Konstellation der Rentenabstufung und/oder -befristung zu gelten habe. Dass die (rückwirkende) Rentenzusprache und (zumindest teilweise) -aufhebung durch ein und denselben Akt erfolge, könne dabei keine entscheidende Rolle spielen. Denn betroffen seien auch in dieser Konstellation versicherte Personen, die hier zwar nicht durch langjährigen Rentenbezug, jedoch immerhin zufolge invalidisierender Beeinträchtigung ihrer Gesundheit (d.h. invaliditätsbedingt) über einen mehr oder weniger langen Zeitraum überhaupt nicht mehr oder nur noch beschränkt eingegliedert gewesen seien.

7.3.2 Bei der Revision eines bestehenden Rentenanspruchs nach Art. 17 ATSG gilt für die Frage nach der zumutbaren Selbsteingliederung rechtsprechungsgemäss das Alter (Erreichen des 55. Altersjahres) im Zeitpunkt der Revisionsverfügung als entscheidend. Mit deren Erlass, der einen klar terminierten Fixpunkt darstellt, ist der versicherten Person ohne Zweifel bewusst, dass ihr Rentenanspruch unsicher ist und sie sich neu orientieren muss. Die Erstattung des medizinischen Gutachtens kann nicht als massgebend erachtet werden, da zu diesem Zeitpunkt das Ergebnis der Rentenüberprüfung noch nicht abschliessend feststeht, weil bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades noch weitere Faktoren mitspielen (etwa Abklärungen zur Festlegung der anwendbaren Methode [z.B. Haushaltsabklärung] oder zu den beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten; zum Ganzen: BGE 141 V 5 E. 4.2.1).
Diese Begründung, die für den Zeitpunkt der Revisionsverfügung spricht, hat mit Blick auf die vom Bundesgericht angestrebte Gleichbehandlung der Revision eines bestehenden Rentenanspruchs nach Art. 17 ATSG und der rückwirkend befristeten und/oder abgestuften Rentenzusprache (vgl. E. 7.3.1 oben) auch für Letztere zu gelten.
BGE 148 V 321 S. 326
Weder mit dem Beizug des Zeitpunktes der verfügten Rentenabstufung bzw. -aufhebung noch mit dem Feststehen der medizinischen Zumutbarkeit kann diese Angleichung erreicht werden. So ist im Verfahren, in dem letztlich über die Befristung und/oder Abstufung zeitgleich mit der Berentung entschieden wird, bei der Erstattung des medizinischen Gutachtens der Anspruch ebenfalls noch nicht abschliessend geklärt (vgl. BGE 141 V 5 E. 4.2.1). Nichts anderes gilt in Bezug auf den Zeitpunkt der Rentenabstufung bzw. -aufhebung. Davon erfährt die versicherte Person unter Umständen erst viel später im Zeitpunkt des Verfügungserlasses. Erst dann ist ihr bewusst, wie sie sich zu orientieren hat (vgl. BGE 141 V 5 E. 4.2.1). Denn betroffen sind auch in dieser Konstellation versicherte Personen, die hier zwar nicht durch langjährigen Rentenbezug, jedoch immerhin zufolge invalidisierender Beeinträchtigung ihrer Gesundheit (d.h. invaliditätsbedingt) über einen mehr oder weniger langen Zeitraum überhaupt nicht mehr oder nur noch beschränkt eingegliedert waren (BGE 145 V 209 E. 5.3 in fine).
Vor dem Hintergrund des Gesagten ist für die Ermittlung des Eckwerts des 55. Altersjahres auch bei rückwirkend befristeter und/ oder abgestufter Rentenzusprache auf den Verfügungszeitpunkt abzustellen (so bereits: Urteil 9C_389/2021 vom 25. März 2022 E. 7.3). Der Beschwerdeführer war im einschlägigen Zeitpunkt (13. November 2019) über 55 Jahre alt, weshalb die Rechtsprechung gemäss BGE 145 V 209 E. 5.1 zur Anwendung gelangt.

7.4 Im angefochtenen Urteil fehlen die für die Beurteilung der Selbsteingliederungsfähigkeit notwendigen Feststellungen. Die strittige Rentenaufhebung hält aus diesem Grund vor Bundesrecht nicht stand. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie dies nachhole.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 7

Referenzen

BGE: 145 V 209, 141 V 5, 136 V 362, 138 V 457

Artikel: Art. 17 ATSG, Art. 99 Abs. 1 BGG, Art. 16 und Art. 17 Abs. 1 ATSG, Art. 99 Abs. 2 BGG mehr...