Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
Urteilskopf

110 II 391


75. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 10. April 1984 i.S. X. gegen Immorest AG (Berufung)

Regeste

Aktienrecht. Haftung des Verwaltungsrats bei unmittelbarem Gläubigerschaden (Art. 754 Abs. 1 OR).
1. Unterscheidung zwischen mittelbarem und unmittelbarem Gläubigerschaden (E. 1).
2. Die Haftung nach Art. 754 Abs. 1 OR setzt voraus, dass der unmittelbare Gläubigerschaden auf eine Verletzung aktienrechtlicher Gläubigerschutzbestimmungen zurückzuführen ist (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 392

BGE 110 II 391 S. 392

A.- X. war die einzige Verwaltungsrätin der BAGA Betriebsgesellschaft für das Gastgewerbe AG (Baga). Deren wichtigstes Aktivum bestand in einer Stockwerkeigentumseinheit an der Kanzleistrasse 231 in Zürich 4. Diese wurde mit Vertrag vom 12. Juli 1978 für die Zeit vom 1. August 1978 bis 31. Juli 1985 an die Immorest AG vermietet zu einem monatlichen Zins von Fr. 3'900.-- zuzüglich Fr. 100.-- monatliche Anzahlung an die Heizungskosten. X. verkaufte namens der Baga die Liegenschaft auf den 4. Dezember 1979 an Gottlieb Jäger, welcher am 17. Dezember 1979 den Mietvertrag im Sinne von Art. 259 OR auf den 31. März 1980 kündigte. In der Folge gelang es der Immorest AG, mit Jäger einen neuen Mietvertrag bis 31. März 1990 abzuschliessen, allerdings zu einem monatlichen Zins von Fr. 6'000.-- und einer Heizungskostenanzahlung von monatlich Fr. 200.--.
Mit Schreiben vom 28. Januar 1980 belangte die Immorest AG die Baga erstmals für den durch die Verletzung des Mietvertrages entstandenen Schaden. In Gutheissung einer Teilklage sprach das Bezirksgericht Zürich der Immorest AG am 24. Oktober 1980 Fr. 6'600.-- nebst Zins und Kosten für den im 2. Quartal 1980 erlittenen Schaden gegen die Baga zu. Am 19. Februar 1981 wurde über die Baga jedoch der Konkurs eröffnet, in dem die Immorest AG mit Fr. 140'537.25 zu Verlust kam. Im Konkursverfahren versäumte es die Immorest AG, rechtzeitig die Abtretung des von der Konkursverwaltung mit Rundschreiben vom 18. Mai 1981 offerierten allfälligen Haftungsanspruchs gegen die Organe der Baga aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit zu verlangen.

B.- In der Folge belangte die Immorest AG X. als Verwaltungsrätin der Baga auf Ersatz des unmittelbaren Schadens gemäss Art. 754 OR und klagte gegen sie auf Bezahlung von Fr. 140'000.--.
BGE 110 II 391 S. 393
Das Bezirksgericht Zürich schützte am 18. Juni 1982 die Klage im Umfang von Fr. 105'984.--. Auf kantonale Berufung der Beklagten bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich am 9. September 1983 dieses Urteil.

C.- Die Beklagte hat gegen das obergerichtliche Urteil Berufung eingelegt mit dem Antrag, es aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Klägerin schliesst auf Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht heisst die Berufung gut und weist die Klage ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Nach Art. 754 Abs. 1 OR sind die mit der Verwaltung betrauten Personen sowohl der Gesellschaft als den einzelnen Aktionären und Gesellschaftsgläubigern für den Schaden verantwortlich, den sie durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung der ihnen obliegenden Pflichten verursachen.
Leitet sich der Schaden eines Gläubigers bloss aus dem Schaden der Gesellschaft ab, indem der Gläubiger infolge der Vermögenseinbusse der Gesellschaft für seine Forderungen nicht gedeckt ist, so liegt ein mittelbarer Schaden vor. Wird der Gläubiger in seiner vermögensrechtlichen Stellung durch das pflichtwidrige Verhalten der haftbaren Person unabhängig von einer Schädigung der Gesellschaft beeinträchtigt, so liegt ein unmittelbarer (direkter, individueller) Schaden vor (FRICK, Der unmittelbare und der mittelbare Schaden im Verantwortlichkeitsrecht der Aktiengesellschaft, Diss. Zürich 1953, S. 94 u. 99; BÜRGI/NORDMANN, N. 43, 50 und 53 zu Art. 753/754 OR).
Ein Ersatzanspruch des Gläubigers aus mittelbarer Schädigung kann nur im Konkurs der Gesellschaft geltend gemacht werden und steht zunächst der Konkursverwaltung zu; erst wenn diese auf eine Geltendmachung verzichtet, kann der Gläubiger die Abtretung des Anspruchs nach den Bestimmungen des SchKG verlangen (Art. 755, 756 OR). Im Konkurs der Baga hat die Klägerin die Frist für ein solches Abtretungsbegehren versäumt und damit diesen Anspruch verwirkt. Sie macht denn auch nicht einen mittelbaren Schaden geltend, sondern behauptet, die Beklagte habe sie durch die Verletzung des Mietvertrags mit der Baga unmittelbar geschädigt.

2. Die Klägerin ist durch den Vertragsbruch unbestritten in ihrer vermögensrechtlichen Stellung nach allgemeinem Vertragsrecht beeinträchtigt worden. Es steht ihr deshalb die Klage aus
BGE 110 II 391 S. 394
Nichterfüllung des Mietvertrags gegen die Gesellschaft zu, welche sie auch in erster Linie angehoben hat.
Auf die aktienrechtliche Verantwortlichkeit kann sie sich darüber hinaus nur berufen, soweit in der Nichterfüllung des Mietvertrags zugleich ein pflichtwidriges Verhalten der Beklagten als Verwaltungsorgan der Aktiengesellschaft liegt. Art. 754 Abs. 1 OR verlangt eine Verletzung von der Verwaltung und der Kontrollstelle "obliegenden Pflichten". Gemeint sind die den Organen durch das Gesetz oder die Statuten auferlegten Pflichten, wie das in Art. 754 Abs. 2 OR, wo in gleicher Weise die Haftung der Liquidatoren geregelt ist, deutlicher zum Ausdruck kommt. Schon nach Art. 674 aOR hafteten die erwähnten Personen den Aktionären und den Gläubigern für die absichtliche Verletzung ihrer "Verwaltungs- und Aufsichtspflichten". Die mit der Revision von 1936 eingeführte geltende Regelung brachte in dieser Beziehung neu eine Haftung für jedes Verschulden, ohne an der Umschreibung des Haftungstatbestands etwas ändern zu wollen (BÄR, Verantwortlichkeit des Verwaltungsrates der Aktiengesellschaft, ZBJV 106/1970 S. 495; BÜRGI/NORDMANN N. 6 zu Art. 753/754 OR). Die Umschreibung der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit als Haftung für eine Verletzung gesetzlicher oder statutarischer Verwaltungs- und Aufsichtspflichten entspricht auch dem mit der Regelung verfolgten Zweck, die Haftung intern auszudehnen, damit die Einhaltung der vom Gesetz zwingend vorgeschriebenen Pflichten der Organe gegenüber der Gesellschaft besser garantiert werde (vgl. dazu BÜRGI/NORDMANN N. 16 zu Art. 753/754 OR).
a) Von dieser Rechtslage geht auch die Vorinstanz aus, indem sie annimmt, die Beklagte habe nicht nur die mietvertragliche Verpflichtung zur Überlassung des Mietobjekts an die Klägerin verletzt, sondern zugleich die einem geschäftsführenden Organ obliegenden Pflichten missachtet. Sie hält dafür, die Beklagte sei gemäss Art. 722 OR verpflichtet gewesen, die Geschäfte der Aktiengesellschaft mit aller Sorgfalt zu führen und hätte deshalb beim Verkauf des Mietobjekts den Eintritt des Käufers in den Mietvertrag vertraglich absichern müssen. Indem die Beklagte sich zu einem Verhalten entschlossen habe, das sich als Vertragsverletzung gegenüber der Klägerin darstelle, habe sie zugleich ihre Organpflichten verletzt.
b) Zwar ist denkbar, dass die Beklagte mit der Verletzung des Mietvertrags zugleich statutarische oder gesetzliche Pflichten (namentlich die allgemeine Sorgfaltspflicht aus Art. 722 OR) gegenüber
BGE 110 II 391 S. 395
der Gesellschaft missachtet hat, was diese allenfalls berechtigt hätte, auf die Beklagte zurückzugreifen, nachdem sie von der Klägerin aus dem Mietvertrag belangt worden war. In der allfälligen Verletzung von Pflichten gegenüber der Gesellschaft lag aber nicht schon ein pflichtwidriges Verhalten gegenüber der Gläubigerin. Das hätte vorausgesetzt, dass die Beklagte die ihr als Gesellschaftsorgan obliegenden Pflichten gegenüber der Klägerin verletzt hätte (BGE 106 II 261). Die Schadenzufügung durch das Organ muss auf einen Verstoss gegen aktienrechtliche Gläubigerschutzbestimmungen zurückgeführt werden können; ein Verstoss gegen eine aktienrechtliche Vorschrift, die nur die Gesellschaft oder den Aktionär schützen soll, nicht aber den Gläubiger, genügt nicht, damit im Sinn von Art. 754 OR von einem rechtswidrigen Verhalten gegenüber dem Gläubiger gesprochen werden kann (FRICK, a.a.O. S. 94). Solche gläubigerschützende Vorschriften finden sich vor allem in den Bestimmungen über die Publizität, namentlich in den Bilanzierungsvorschriften, oder in den Bestimmungen über die Erhaltung des Grundkapitals. Dementsprechend ist die Haftung etwa zu bejahen, wenn das Gesellschaftsorgan den Gläubiger durch falsche Auskünfte über die finanzielle Lage der Gesellschaft oder durch Verletzung der Bilanzierungsvorschriften zur Kreditgewährung an die Gesellschaft veranlasst hat (BGE 106 II 261; Urteil des Bundesgerichts i.S. B. gegen B. vom 6. November 1951, in SJ 74/1952 S. 81 ff., E. 3 S. 86, frei wiedergegeben auch in SAG 25/1952-53 S. 140 ff.).
c) Der Beklagten wird vorgeworfen, dass sie in ihrer Eigenschaft als Organ der Aktiengesellschaft den Mietvertrag zwischen dieser und der Klägerin gebrochen hat, allenfalls dass sie damit ihre Sorgfaltspflicht gegenüber der Gesellschaft missachtet hat, was sie allerdings bestreitet. Dass sie beim Vertragsbruch auch noch gegen Gläubigerschutzvorschriften des Aktienrechts verstossen hätte, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht geltend gemacht.
Die Klage lässt sich daher entgegen der Vorinstanz nicht auf Art. 754 OR stützen.

3. (Verneinung der Haftung aus Art. 41 OR mangels tatsächlicher Behauptungen der Klägerin.)

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3

Referenzen

BGE: 106 II 261

Artikel: Art. 754 Abs. 1 OR, Art. 754 OR, Art. 722 OR, Art. 259 OR mehr...