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Urteilskopf

137 V 434


45. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_556/2011 vom 15. Dezember 2011

Regeste

Art. 9 Abs. 2 ELG; Art. 7 Abs. 1 lit. a ELV; Abs. 1 und 2 Schlussbestimmung ELV vom 28. September 2007; Berechnung der Ergänzungsleistung für Kinder geschiedener Ehegatten, die mit diesen in häuslicher Gemeinschaft zusammenleben.
Leben die geschiedenen Ehegatten mit den Kindern wieder in häuslicher Gemeinschaft, ist deren Ergänzungsleistung nicht mehr zusammen mit dem Elternteil zu berechnen, dessen Zusatzrente infolge der 5. IV-Revision aufgehoben wurde, sondern mit dem rentenberechtigten Elternteil (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 434

BGE 137 V 434 S. 434

A. Die 1977 geborene A. ist Mutter von zwei (2001 und 2004 geborenen) Kindern und seit 4. Juli 2006 von ihrem Ehemann S. geschieden. Abgeleitet von dessen Berechtigung auf eine Rente der
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Invalidenversicherung und unter Einbezug der Kinder in die Berechnung sprach ihr die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau (SVA) mit Verfügung vom 3. November 2006 Ergänzungsleistungen ab 1. August 2006 zu. Seit 1. Januar 2009 lebt A. wiederum mit ihrem geschiedenen Ehemann zusammen. Die SVA berechnete dessen Anspruch auf Ergänzungsleistungen ab diesem Zeitpunkt neu, wobei sie die Kinder nun dem Vater zurechnete. Mit Verfügung vom 25. Juni 2010 verneinte sie einen Anspruch der A. auf Ergänzungsleistungen ab 1. Januar 2009 und verpflichtete sie, zu viel bezogene Ergänzungsleistungen im Betrag von Fr. 68'876.- zurückzuerstatten. Die dagegen erhobene Einsprache und das gleichzeitig gestellte Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wies sie mit Einspracheentscheid vom 16. November 2010 ab.

B. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der A. verpflichtete das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die SVA mit Entscheid vom 7. Juni 2011, ihr für das Einspracheverfahren die unentgeltliche Rechtsverbeiständung zu gewähren. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.

C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, unter Aufhebung des Entscheides vom 7. Juni 2011, soweit er Ergänzungsleistungen betrifft, sei die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen, damit diese ihren Anspruch weiterhin unter Berücksichtigung der Kinder berechne. Ferner lässt sie um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen.
Die SVA beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichten auf eine Stellungnahme.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Vorinstanz hat zu Recht einen selbständigen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Ergänzungsleistungen verneint (vgl. Art. 4 ff. des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2006 über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [ELG; SR 831.30]; vgl. Urteil 9C_371/2011 vom 5. September 2011 E. 2.3). Weiter ist sie der Auffassung, dass der Ergänzungsleistungsanspruch der Kinder von geschiedenen Eltern, die erneut zusammenziehen, gemeinsam mit dem rentenberechtigten Elternteil zu berechnen sei.
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Demnach habe die Beschwerdeführerin die Ergänzungsleistung seit 1. Januar 2009 unrechtmässig bezogen. Auf Einwendungen betreffend Erlass der Rückforderung ist die Vorinstanz nicht eingetreten.

2.2 Nach Auffassung der Beschwerdeführerin wurden ihr - als alleiniger Inhaberin der elterlichen Sorge - die Ergänzungsleistungen der Kinder zu Recht ausbezahlt. Deren Anspruch (vgl. Urteil 9C_371/2011 vom 5. September 2011 E. 2.4.1) sei gestützt auf Abs. 1 der in die Verordnung vom 15. Januar 1971 über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELV; SR 831.301) aufgenommenen Schlussbestimmung der Änderung vom 28. September 2007 (SchlBest. ELV; AS 2007 6037) zu berechnen, und zwar unabhängig von ihrem geschiedenen Ehemann. Abs. 2 SchlBest. ELV gelange nur zur Anwendung, wenn getrennte Ehegatten wieder zusammenleben. Da sie mit ihrem geschiedenen Ehemann einen gemeinsamen Haushalt begründet habe, sei die Berechnung der Ergänzungsleistung weiterhin nach Abs. 1 SchlBest. ELV durchzuführen.

3.

3.1 Art. 9 Abs. 2 ELG, Art. 7 ELV sowie Abs. 1 und 2 SchlBest. ELV haben insofern das gleiche Regelungsthema, als sie die Berechnung der Ergänzungsleistung von Kindern, die einen Anspruch auf eine Kinderrente der IV begründen, normieren. Gemäss Art. 9 Abs. 2 ELG werden die anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen von Ehegatten und Personen mit rentenberechtigten Kindern zusammengerechnet. Der Bundesrat bestimmt die Zusammenrechnung der anerkannten Ausgaben und der anrechenbaren Einnahmen von Familienmitgliedern; er kann Ausnahmen von der Zusammenrechnung vorsehen, insbesondere bei Kindern, die einen Anspruch auf eine Kinderrente der IV begründen (Art. 9 Abs. 5 lit. a ELG).
Art. 7 Abs. 1 lit. a ELV bestimmt, dass die jährliche Ergänzungsleistung für Kinder, die mit den Eltern zusammenleben, gemeinsam berechnet wird. Leben die Kinder dagegen nur mit einem Elternteil zusammen, der rentenberechtigt ist, so wird die Ergänzungsleistung zusammen mit diesem Elternteil festgelegt (Art. 7 Abs. 1 lit. b ELV).
Gemäss Abs. 1 SchlBest. ELV wird die jährliche Ergänzungsleistung eines Kindes, das einen Anspruch auf eine Kinderrente der IV begründet und am 31. Dezember 2007 mit einem Elternteil zusammenlebt, der getrennt oder geschieden ist und der seinen Anspruch auf Ergänzungsleistung am 1. Januar 2008 wegen der Aufhebung
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der laufenden Zusatzrenten in der IV verliert, aufgrund der anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen des Kindes und des Elternteils, mit dem es zusammenlebt, berechnet. Die jährliche Ergänzungsleistungsberechnung nach Abs. 1 SchlBest. ELV ist dann nicht mehr anwendbar, wenn entweder das Kind nicht mehr mit dem Elternteil zusammenlebt (Abs. 2 lit. a SchlBest. ELV) oder die getrennten Eltern wieder zusammenleben oder der Elternteil, mit dem das Kind zusammenlebt, wieder heiratet (Abs. 2 lit. b SchlBest. ELV).

3.2 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Ordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien können beigezogen werden, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort geben ( BGE 136 III 23 E. 6.6.2.1 S. 37; BGE 136 V 195 E. 7.1 S. 203; BGE 135 V 50 E. 5.1 S. 53; BGE 134 II 308 E. 5.2 S. 311). Verordnungsrecht ist gesetzeskonform auszulegen. Es sind die gesetzgeberischen Anordnungen, Wertungen und der in der Delegationsnorm eröffnete Gestaltungsspielraum mit seinen Grenzen zu berücksichtigen ( BGE 137 V 167 E. 3.3 S. 170 f. mit Hinweisen).

4.

4.1 Aufgrund des Wortlauts der dargelegten Bestimmungen (E. 3.1) ist für die Berechnung der Ergänzungsleistung stets entscheidend, mit wem die Kinder zusammenleben. Nicht massgebend ist, wer das elterliche Sorgerecht innehat oder welcher Elternteil tatsächlich die Betreuung der Kinder übernimmt. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, weshalb das elterliche Sorgerecht und die tatsächliche Ausübung der Betreuung ausschlaggebend sein sollen für die Berechnung der Ergänzungsleistung.

4.2 Nach dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 2 ELG werden die anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen des
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rentenberechtigten Elternteils grundsätzlich mit jenen des Ehegatten (ZAK 1986 S. 136, P 8/85; BGE 137 V 82 E. 4.1 S. 84) und der Kinder, die einen Anspruch auf eine Kinderrente der IV begründen, zusammengerechnet. Dagegen wird die Konkubinatspartnerin oder der Konkubinatspartner, wie deren resp. dessen eigene Kinder, nicht in die Berechnung eingeschlossen. Vorbehältlich des Rechtsmissbrauchs wird die Ergänzungsleistung eines Versicherten, der aus besonderen Gründen weiterhin mit dem geschiedenen Ehegatten zusammenlebt, nicht nach den für Ehegatten geltenden Regeln berechnet ( BGE 137 V 82 E. 5 S. 85 ff.). Dies entspricht auch der Auffassung des BSV (vgl. Rz. 3121.01 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [WEL] http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:59 ), dessen Weisungen das Bundesgericht zwar nicht binden, die bei der Entscheidfindung aber zu berücksichtigen sind ( BGE 137 V 82 E. 5.5 S. 88; BGE 133 V 587 E. 6.1 S. 591). Demnach werden bei der Berechnung der Ergänzungsleistung die anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen der Kinder, die zusammen mit ihren geschiedenen Eltern in einer Hausgemeinschaft leben, beim rentenberechtigten Elternteil berücksichtigt.

4.3 Wohl wäre aufgrund des Wortlauts von Art. 7 Abs. 1 lit. a ELV auch ein Einschluss der anerkannten Ausgaben und der anrechenbaren Einnahmen der geschiedenen Ehegattin oder des geschiedenen Ehegatten bei der Ergänzungsleistungsberechnung möglich. Dieser Interpretationsspielraum ändert jedoch nichts daran, dass nach Art. 9 Abs. 2 ELG, der letztlich Massstab bildet, die Kinder beim rentenberechtigten Elternteil zu berücksichtigen sind (E. 4.2).

4.4

4.4.1 In Abs. 2 SchlBest. ELV werden die geschiedenen Ehegatten, die wieder zusammenleben, nicht erwähnt.

4.4.2 Mit der 5. IV-Revision wurden die laufenden Zusatzrenten für Ehegatten aufgehoben. Der Bundesrat hat jedoch für diejenigen Betroffenen, die getrennt leben oder geschieden sind und mit rentenberechtigten Kindern zusammenleben, eine Besitzstandsregelung getroffen (CARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Aufl. 2009, S. 114). Denn der Wegfall des eigenen Ergänzungsleistungsanspruchs hätte bei den geschiedenen Personen mit Kindern zu einer finanziellen Lücke geführt, auch wenn der Unterhalt des Kindes über die Kinderrente und die Ergänzungsleistungen, die zu seinen
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Gunsten ausgerichtet werden, weitgehend gedeckt ist. Die Besitzstandsregelung wurde zur Vermeidung einer finanziellen Notlage erlassen, weil es meist kurzfristig nicht möglich ist, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder das Arbeitspensum zu erhöhen. Deshalb wurden die Ergänzungsleistungen dieser Personen nach derselben Methode berechnet, wie die Ergänzungsleistungen, die sie selbst vor dem Inkrafttreten der 5. IV-Revision erhalten haben (Erläuterungen des BSV zur Ergänzung der Änderung der Verordnung über die Invalidenversicherung, http://www.bsv.admin.ch/themen/ergaenzung/00035/index.html unter 5. IV-Revision: Erläuterungen zur Anpassung-2 ELV 1.1.2008", besucht am 14. November 2011). Der Botschaft lässt sich hierzu nichts entnehmen (Botschaft vom 22. Juni 2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision; BBl 2005 4459]).
Eine Berechnung der Ergänzungsleistung des Kindes zusammen mit dem Elternteil, der den Anspruch auf eine Zusatzrente verloren hat und wieder mit dem geschiedenen Ehegatten zusammenwohnt - wie von der Beschwerdeführerin verlangt - hätte zur Folge, dass die Familie finanziell besser gestellt wäre als vor der Scheidung (vgl. die Ergänzungsleistungsberechnung der Beschwerdegegnerin vom 27. Juli 2006 für die ganze Familie, die Ergänzungsleistungsberechnungen vom 8. November 2006 und 16. Februar 2007 für den geschiedenen Ehemann sowie die Ergänzungsleistungsberechnungen vom 26. Oktober 2006 und 3. September 2007 für die Beschwerdeführerin zusammen mit ihren Kindern). Dies würde über den Sinn und Zweck der Besitzstandsregelung hinausgehen, was nicht der Wille des Gesetz- bzw. des Verordnungsgebers gewesen sein kann.

4.5 Nach dem Gesagten ist die jährliche Ergänzungsleistung für Kinder zusammen mit dem rentenberechtigten Elternteil zu berechnen, wenn die Kinder wieder mit diesem in demselben Haushalt wohnen. Folglich besteht kein Raum für eine gesonderte Berechnung der jährlichen Ergänzungsleistung der Kinder. Die Vorinstanz hat zu Recht einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Ergänzungsleistungen ab dem 1. Januar 2009 verneint. Die Beschwerde ist unbegründet.

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Sachverhalt

Erwägungen 2 3 4

Referenzen

BGE: 137 V 82, 136 III 23, 136 V 195, 135 V 50 mehr...

Artikel: Art. 9 Abs. 2 ELG, Art. 7 Abs. 1 lit. a ELV, Art. 4 ff. des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2006 über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [ELG; SR 831.30], Art. 7 ELV mehr...