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Urteilskopf

86 II 165


28. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. Mai 1960 i.S. Produits Perfectone SA gegen Tchamkerten.

Regeste

Art. 2 Abs. 2 ZGB. Es ist offenbar rechtsmissbräuchlich, wenn der Aktionär an der Klage auf Anfechtung eines Entlastungsbeschlusses der Generalversammlung festhält, obschon diese den Beschluss unter Zustimmung der Mitglieder der Verwaltung aufgehoben hat.
Art. 72 BZP, Art. 40 OG. Wenn der Richter eine Klage gutheisst, obschon das rechtliche Interesse des Klägers dahingefallen ist, wird der Prozess auf Berufung hin, weil gegenstandslos geworden, als erledigt erklärt.

Sachverhalt ab Seite 165

BGE 86 II 165 S. 165

A.- Die Generalversammlung der Produits Perfectone SA in Biel beschloss am 31. Oktober 1958, dem Verwaltungsrate für das Geschäftsjahr 1957/58 Entlastung zu erteilen. Die vier Mitglieder des Verwaltungsrates stimmten im Sinne des Beschlusses. Der Aktionär Nerces Tchamkerten stimmte für sich und mit Vollmacht des Mitaktionärs Ara Tchamkerten gegen die Entlastung.
Auf Gesuch des Nerces Tchamkerten fand am 15. Dezember 1958 mit der Produits Perfectone SA ein gerichtlicher Aussöhnungsversuch statt über das Begehren, der Entlastungsbeschluss sei ungültig zu erklären. Am 23. Dezember 1958 schrieb Fürsprecher Dr. Kunz dem den Kläger vertretenden Fürsprecher Lifschitz, die Verwaltung anerkenne, dass der Beschluss mit Art. 695 OR nicht vereinbar
BGE 86 II 165 S. 166
und daher ungültig sei, und sie sei bereit, entweder dem Kläger in aller Form zu erklären, dass ihn der Beschluss nicht binde, oder eine ausserordentliche Generalversammlung einzuberufen, um diesen rückgängig zu machen. Da Fürsprecher Lifschitz antwortete, der Beschluss könne nur durch ein Urteil aus der Welt geschafft werden, vertrat Dr. Kunz mit Schreiben vom 7. Januar 1959 nochmals die Auffassung, eine Klage sei überflüssig. Er schrieb, "alle übrigen Aktionäre" seien bereit, den Beschluss durch eine ausserordentliche Generalversammlung widerrufen zu lassen. Trotzdem reichte Nerces Tchamkerten beim Appellationshof des Kantons Bern am 26. Januar 1959 die Klage ein.
Am 12. Februar 1959 fand eine ausserordentliche Generalversammlung statt, an der die vier Mitglieder der Verwaltung und als weiterer Aktionär Georges Bessire teilnahmen. Sie beschloss mit 617 von 620 Stimmen, den Entlastungsbeschluss vom 31. Oktober 1958 aufzuheben. Georges Bessire stimmte nicht zu. Die Beklagte beantragte dem Appellationshof in der Folge, die Klage als gegenstandslos und wegen Fehlens eines rechtlichen Interesses erledigt zu erklären.
Der Kläger focht den Beschluss vom 12. Februar 1959 beim Appellationshof des Kantons Bern als ungültig an, weil die Generalversammlung nicht in der richtigen Form einberufen worden sei. Dieser Prozess wurde vom Appellationshof bis zur rechtskräftigen Beurteilung der gegen den Entlastungsbeschluss gerichteten Klage eingestellt.

B.- Der Appellationshof des Kantons Bern hiess am 13. Oktober 1959 die Klage vom 26. Januar 1959 gut und erklärte den Entlastungsbeschluss vom 31. Oktober 1958 als ungültig.

C.- Die Beklagte hat die Berufung erklärt. Sie beantragt dem Bundesgericht, die Klage als erledigt zu erklären, eventuell sie abzuweisen.
Der Kläger stellt den Antrag, auf die Berufung nicht einzutreten, eventuell die Berufungsbegehren abzuweisen.
BGE 86 II 165 S. 167

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

3. Bei Beschlüssen über die Entlastung der Verwaltung einer Aktiengesellschaft haben Personen, die an der Geschäftsführung teilgenommen haben, kein Stimmrecht (Art. 695 Abs. 1 OR). Der Kläger wäre daher grundsätzlich berechtigt, den Entlastungsbeschluss vom 31. Oktober 1958, der mit den Stimmen der Mitglieder der Verwaltung zustandekam, beim Richter mit Klage gegen die Gesellschaft anzufechten (Art. 706 Abs. 1 OR).
Dieses Recht steht ihm jedoch nur in der Schranke zu, die Art. 2 Abs. 2 ZGB allgemein der Ausübung von Rechten setzt. Die Klage ist nicht zu schützen, wenn sie offenbar missbräuchlich ist, weil der Kläger wegen der Stellungnahme der Beklagten in den Briefen des Dr. Kunz vom 23. Dezember 1958 und 7. Januar 1959 oder wegen des neuen Beschlusses der Generalversammlung vom 12. Februar 1959, wie die Beklagte geltend macht, jedes schutzwürdige Interesse an der Anfechtung des Entlastungsbeschlusses verloren hätte. Dem kann nicht, wie der Appellationshof ausführt, entgegengehalten werden, jeder Aktionär habe "ein allgemeines rechtliches Interesse daran, dass Beschlüsse in gesetz- und statutenmässiger Weise zustandekommen"; das Anfechtungsrecht sei ein wohlerworbenes, unentziehbares Recht und könne nicht dadurch zunichte gemacht werden, dass dem Kläger ein Interesse an seiner Geltendmachung abgesprochen werde; der Anspruch auf Gesetz- und Statutenmässigkeit sei an sich schutzwürdig. Gewiss zählt Art. 646 Abs. 3 OR das Recht zur Anfechtung ausdrücklich zu den "wohlerworbenen Rechten", d.h. zu denen, die gemäss Art. 646 Abs. 1 den Aktionären nicht ohne ihre Zustimmung entzogen werden können. Das bedeutet aber nur, dass es "von den Beschlüssen der Generalversammlung und der Verwaltung unabhängig ist" (Art. 646 Abs. 2), also den Aktionären nicht durch die Generalversammlung oder die Verwaltung entzogen werden kann. Dass der Richter ihm den Rechtsschutz
BGE 86 II 165 S. 168
nicht versagen dürfe, ja müsse, wenn der Aktionär kein schützenswertes Interesse an seiner Ausübung hat, sondern es offenbar missbraucht, ist damit nicht gesagt.

4. Da der Kläger dem Entlastungsbeschluss vom 31. Oktober 1958 nicht zustimmte, wurde sein Recht, gegen die Mitglieder der Verwaltung Verantwortlichkeitsklagen einzureichen, durch diesen Beschluss nicht beseitigt (Art. 757 OR). Der Kläger hat ein Interesse an dessen Anfechtung auch nicht deshalb, weil Art. 757 OR das Recht des nicht zustimmenden Aktionärs, die Verantwortlichkeitsklage einzureichen, auf die der Schlussnahme folgenden sechs Monate befristet, während beim Fehlen eines Entlastungsbeschlusses oder nach dessen gerichtlichen Aufhebung gegen die verantwortlichen Mitglieder der Verwaltung solange auf Schadenersatz geklagt werden kann, als die Forderung nicht verjährt, d.h. die in Art. 760 OR vorgesehene Frist von fünf bzw. zehn Jahren nicht abgelaufen ist. Denn die am 23. Dezember 1958 mitgeteilte Bereitschaft der Verwaltung, dem Kläger in aller Form zu erklären, dass ihn der Beschluss nicht binde, hatte den Sinn, dass die Mitglieder der Verwaltung sich nicht auf die Entlastung berufen würden, wenn der Kläger sie zur Verantwortung ziehen sollte. Dem Kläger könnte somit in einem von ihm eingeleiteten Verantwortlichkeitsprozess schon kraft dieser Erklärung nicht entgegengehalten werden, er habe die sechsmonatige Klagefrist des Art. 757 OR versäumt.
Dennoch beseitigte das Schreiben vom 23. Dezember 1958 das Interesse des Klägers an der Anfechtung des Entlastungsbeschlusses nicht vollständig. Der Verzicht, diesen anzurufen, wurde nur gegenüber dem Kläger ausgesprochen. Im Verhältnis zur Gesellschaft, die allenfalls gemäss Art. 754 OR eine Verantwortlichkeitsklage könnte anheben wollen, bleiben die Mitglieder der Verwaltung entlastet. Dass der Gesellschaft die Verantwortlichkeitsklage erhalten bleibe, lag auch im Interesse des Klägers, mag dieses auch
BGE 86 II 165 S. 169
nur klein gewesen sein. Es wurde auch nicht durch die Erklärung des Dr. Kunz vom 7. Januar 1959 beseitigt, wonach alle Mitaktionäre des Klägers bereit seien, den Entlastungsbeschluss in einer ausserordentlichen Generalversammlung rückgängig zu machen. Solange diese nicht stattgefunden hatte, blieb die Möglichkeit offen, dass das nicht geschehe.

5. Es kann dahingestellt bleiben, unter welchen Voraussetzungen im allgemeinen Beschlüsse der Generalversammlung widerrufen werden können, und es braucht auch nicht entschieden zu werden, ob durch den Beschluss der Generalversammlung der Beklagten vom 12. Februar 1959 der Entlastungsbeschluss vom 31. Oktober 1958 gültig aufgehoben wurde. Für die Auffassung des Appellationshofes, ein Entlastungsbeschluss werde nach Ablauf der zweimonatigen Anfechtungsfrist des Art. 706 OR dauernd gültig, weil er eine negative Schuldanerkennung gegenüber der Verwaltung enthalte, ist unter den Umständen des vorliegenden Falles kein Platz. Die vier Mitglieder der Verwaltung nahmen an der Generalversammlung vom 12. Februar 1959 teil und stimmten für die Aufhebung des Entlastungsbeschlusses. Damit stellten sie sich auf den Standpunkt, die Gesellschaft und die Aktionäre könnten sie zur Verantwortung ziehen, als ob die Entlastung nicht beschlossen worden wäre. Sie können die Haltung, die sie damit als Aktionäre einnahmen, als Mitglieder der Verwaltung nicht verleugnen. Ihre Zustimmung zur Aufhebung des Entlastungsbeschlusses bedeutete, dass sie bereit seien, der Gesellschaft und den Mitaktionären in allfälligen Verantwortlichkeitsprozessen Rechenschaft abzulegen, ohne sich auf den Entlastungsbeschluss zu berufen, und zwar auch dann, wenn ein solcher Prozess erst nach Ablauf der in Art. 757 OR vorgesehenen sechsmonatigen Frist angehoben werden sollte. Diese Erklärung wirkte nicht nur zugunsten des Klägers, sondern auch zugunsten der Gesellschaft, die durch die Generalversammlung vertreten war.
BGE 86 II 165 S. 170
Die Gesellschaft kann - wie der Kläger - Verantwortlichkeitsprozesse gegen die Mitglieder der Verwaltung anheben, ohne die Einwendung hören zu müssen, sie seien entlastet worden. Damit ist jedes Interesse des Klägers, den Prozess um die Ungültigerklärung des Entlastungsbeschlusses weiterzuführen, dahingefallen. Das Festhalten an der vorliegenden Klage kann nur noch den Zweck haben, den Prozess um des Prozessierens willen fortzuführen. Das ist offenbarer Missbrauch eines Rechtes und verdient keinen Schutz (Art. 2 Abs. 2 ZGB). Es kommt nichts darauf an, ob die Generalversammlung vom 12. Februar 1959 in der vorgeschriebenen Form einberufen wurde. Die Haltung, welche die Mitglieder der Verwaltung an dieser Versammlung gegenüber der Gesellschaft und den Mitaktionären einnahmen, bleibt auf jeden Fall bestehen.
Übrigens missbraucht der Kläger auch durch die Anfechtung des Beschlusses vom 12. Februar 1959 klar das Recht. Da der Kläger den Entlastungsbeschluss vom 31. Oktober 1958 als ungültig ausgibt und darum einen Prozess führt, widerspricht es Treu und Glauben, den Aufhebungsbeschluss, durch den die Mitglieder der Verwaltung und die Beklagte sich ihm in allen Teilen unterzogen, ebenfalls als ungültig anzufechten. Der Einwand, Georges Bessire habe dem Beschluss vom 12. Februar 1959 nicht zugestimmt, taugt nicht. Es steht nicht dem Kläger zu, die Interessen dieses Aktionärs zu wahren, abgesehen davon, dass man sich fragen kann, ob Georges Bessire an der Entlastung der Verwaltung überhaupt interessiert sei.

6. Da das Interesse des Klägers am Prozess erst nach der Einreichung der Klage vollständig dahinfiel, ist diese nicht abzuweisen, sondern der Prozess, weil gegenstandslos geworden, als erledigt zu erklären. Entscheide dieses Inhalts sind in Art. 72 BZP vorgesehen und rechtfertigen sich in Anwendung des Grundgedankens dieser Bestimmung auch im Berufungsverfahren, mag der Rechtsstreit schon vor der kantonalen Instanz oder mag er erst vor dem Bundesgericht gegenstandslos geworden sein (vgl. Art. 40 OG).
BGE 86 II 165 S. 171

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
In Gutheissung der Berufung wird das Urteil der III. Zivilkammer des Appellationshofes des Kantons Bern vom 13. Oktober 1959 aufgehoben und der Prozess, weil gegenstandslos geworden, als erledigt erklärt.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 3 4 5 6

Dispositiv

Referenzen

Artikel: Art. 757 OR, Art. 2 Abs. 2 ZGB, Art. 72 BZP, Art. 40 OG mehr...