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Urteilskopf

117 II 410


76. Urteil der I. Zivilabteilung vom 16. Mai 1991 i.S. Luzia J. gegen W. und M. H. (Berufung)

Regeste

Mieterstreckung; materielle Rechtskraft (Art. 273 OR; Art. 5 Abs. 2 der Schlussbestimmungen zum neuen Mietrecht).
1. Anwendungsbereich der Übergangsbestimmung von Art. 5 Abs. 2 der Schlussbestimmungen zum neuen Mietrecht (E. 1).
2. Ist im Anschluss an eine Kündigung ein Anfechtungs- oder Erstreckungsverfahren angehoben und vor dem 1. Juli 1990 rechtskräftig erledigt worden, hat bei Inkrafttreten des neuen Mietrechts für eine Klage mit identischem Streitgegenstand keine neue Frist i.S. von Art. 273 OR zu laufen begonnen (E. 2).
3. Einem vorbehaltlosen Klagerückzug und der darauf folgenden Abschreibungsverfügung kommt materielle Rechtskraft zu (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 411

BGE 117 II 410 S. 411

A.- Zwischen Luzia J. als Mieterin und den Eheleuten Walter und Margot H. als Vermieter besteht seit dem 1. Oktober 1986 ein Mietvertrag über das Hotel Schifflände in A. zu einem jährlichen Mietzins von Fr. 72'000.--. Der Vertrag kann unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs Monaten jeweils auf den 30. September eines jeden Jahres gekündigt werden. Mit Schreiben vom 20. Juli 1989 und 5. März 1990 kündigten die Eheleute H. das Mietverhältnis auf den 30. September 1990. Mit Eingabe vom 6. April 1990 ersuchte Luzia J. das Bezirksgerichtspräsidium A., die Kündigung nichtig zu erklären, eventuell das Mietverhältnis um zwei Jahre zu erstrecken. Am 3. Mai 1990 zog ihr Anwalt das Begehren zurück, und der Vizepräsident des Bezirksgerichts
BGE 117 II 410 S. 412
schrieb das Verfahren mit Verfügung vom 7. Mai 1990 als durch Rückzug erledigt am Protokoll ab.

B.- Nachdem am 1. Juli 1990 das neue Mietrecht in Kraft getreten war, gelangte Luzia J. am 18. Juli 1990 an die Schlichtungsstelle für Mietverhältnisse der Gemeinde A. Sie beantragte erneut, die Kündigung sei ungültig zu erklären, eventuell das Mietverhältnis um sechs Jahre zu erstrecken. Die Schlichtungsstelle trat am 3. September 1990 auf das Anfechtungs- bzw. Erstreckungsgesuch nicht ein. Dieser Entscheid wurde vom Vizepräsidenten des Bezirksgerichts A. am 30. November 1990 bestätigt, und die Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau wies einen dagegen eingereichten Rekurs am 21. Januar 1991 ab. Alle drei kantonalen Instanzen gelangten zum Ergebnis, dem neuen Anfechtungs- bzw. Erstreckungsbegehren stehe die materielle Rechtskraft der Abschreibungsverfügung des Vizepräsidenten des Bezirksgerichts A. vom 7. Mai 1990 entgegen.
Eine Berufung der Luzia J. hat das Bundesgericht abgewiesen.

Erwägungen

Erwägungen:

1. Das auf den 1. Juli 1990 in Kraft getretene neue Mietrecht setzt in Art. 273 OR die Fristen fest, innert welchen eine Kündigung nach den Art. 271 und 271a OR angefochten bzw. eine Erstreckung des Mietverhältnisses im Sinne der Art. 272-272d OR verlangt werden kann. Ist eine Kündigung vor dem 1. Juli 1990 auf einen Zeitpunkt nach diesem Datum ausgesprochen worden, so haben die Fristen gemäss Art. 5 Abs. 2 der Schlussbestimmungen zum neuen Mietrecht am 1. Juli 1990 neu zu laufen begonnen. Diese Bestimmung, die einen schwerwiegenden Eingriff in den Grundsatz der Nichtrückwirkung von Gesetzen darstellt, ist in der bundesrätlichen Botschaft vom 27. März 1985 (BBl 1985 I 1478) lediglich damit begründet worden, die dadurch entstehende Rechtsunsicherheit sei in Kauf zu nehmen, weil verhindert werden müsse, dass vorsorglich gekündigt werde, um den strengeren Bestimmungen des neuen Rechts zu entgehen. Die gleiche Regelung findet sich bereits in Art. 60 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die landwirtschaftliche Pacht vom 4. Oktober 1985 (LPG, SR 221.213.2). Der problematische Charakter dieser Bestimmung muss aber dazu führen, sie in Zweifelsfällen nur mit Zurückhaltung anzuwenden.
BGE 117 II 410 S. 413

2. Es steht ausser Zweifel, dass in allen Fällen, in welchen ein Mieter eine unter die Übergangsbestimmung fallende Kündigung weder angefochten noch eine Mieterstreckung verlangt hat, am 1. Juli 1990 neue Fristen von 30 bzw. 60 Tagen im Sinne von Art. 273 OR zu laufen begonnen haben. Fraglich ist indessen, ob das auch dann gilt, wenn im Anschluss an die Kündigung ein Anfechtungs- oder Erstreckungsverfahren angehoben und vor dem 1. Juli 1990 rechtskräftig erledigt worden ist. In diesen Fällen gerät die Übergangsbestimmung mit den Wirkungen der materiellen Rechtskraft in Konflikt. GMÜR (Vom alten zum neuen Mietrecht, S. 20 f.) und LACHAT/MICHELI (Le nouveau droit du bail, S. 54) schliessen daraus, in einem solchen Falle könne eine rechtskräftige Streiterledigung nicht mehr in Frage gestellt werden. Etwas differenzierter argumentiert BARBEY (Commentaire du droit du bail, III/1, N. 267 Introduction). Danach ist eine Klage dann nicht verwirkt, wenn es sich nach neuem Recht um ein vom alten Recht verschiedenes Streitobjekt handelt. Indessen lässt auch dieser Autor die Wirkungen der materiellen Rechtskraft dort eintreten, wo der Sachverhalt und die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche nach altem und neuem Recht vollständig identisch sind. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Vorliegend ist die Identität gegeben. Der Sachverhalt, auf den die Klägerin ihre Begehren stützt, ist nach altem und neuem Recht identisch, ebenso die von ihr erhobenen Ansprüche. Mit dem Begehren vom 6. April 1990 hat sie einerseits verlangt, die Kündigung sei nichtig zu erklären, weil sie im Zusammenhang mit einer Mietzinserhöhung erfolgt sei. Damit rief sie den Nichtigkeitsgrund von Art. 18 Abs. 3 BMM an. Nach neuem Recht ist eine derartige Kündigung nicht mehr nichtig, sondern bloss anfechtbar (Art. 271 und Art. 271a lit. b in Verbindung mit Art. 273 OR); der neurechtliche Anspruch geht somit etwas weniger weit. Anderseits sind auch die beiden Erstreckungsbegehren identisch; dass nach neuem Recht eine Erstreckung für eine längere Dauer verlangt werden kann, rechtfertigt es nicht, von einem anderen Streitgegenstand zu sprechen und deswegen ein neues Erstreckungsbegehren zuzulassen.

3. An den Wirkungen der materiellen Rechtskraft ändert auch der Umstand nichts, dass das frühere Verfahren nicht durch rechtskräftiges Sachurteil, sondern durch Abschreibung infolge Rückzugs des Begehrens erledigt worden ist. Einem vorbehaltlosen Klagerückzug und der gestützt darauf ergangenen Abschreibungsverfügung kommt sowohl nach Bundesrecht (BGE 105 II 151; vgl.
BGE 117 II 410 S. 414
auch Art. 73 BZP) wie nach dem massgebenden Zivilprozessrecht des Kantons Thurgau materielle Rechtskraft zu, die zur Einrede der abgeurteilten Sache führt. Das wird an sich mit der Berufung auch nicht bestritten. Dagegen macht die Klägerin geltend, es wäre stossend, wenn ihr zufolge des Klagerückzugs die Einrede der abgeurteilten Sache entgegengehalten werden könnte, während das nicht der Fall gewesen wäre, wenn sie es, statt die Klage zurückzuziehen, auf einen Nichteintretensentscheid wegen Versäumnis der Frist von Art. 267a Abs. 3 OR hätte ankommen lassen; diesfalls hätte ein prozessualer Erledigungsentscheid vorgelegen, dem keine materielle Rechtskraft zugekommen wäre. Diese Argumentation ist bereits im Ansatz verfehlt. Sofern das Erstreckungsbegehren vom 6. April 1990 verspätet war, hätte das Verfahren nicht zu einem prozessualen Erledigungsbeschluss, sondern zu einem materiellen Sachentscheid, das heisst zur Abweisung des Erstreckungsbegehrens, geführt, der materielle Rechtskraft zugekommen wäre und die zur Einrede der abgeurteilten Sache geführt hätte.

4. Ebensowenig verfängt der Einwand, der im summarischen Verfahren ergangenen Abschreibungsverfügung komme nur provisorischer Charakter und somit keine materielle Rechtskraft zu. Wie das Obergericht im angefochtenen Entscheid zutreffend ausführt, stellt der Entscheid über ein Erstreckungsbegehren ein materielles und abschliessendes Sachurteil über einen bundesrechtlichen Anspruch dar; das gilt im Falle eines Klagerückzuges folgerichtig auch für die gestützt darauf ergangene Abschreibungsverfügung.

5. Abwegig ist schliesslich auch der Einwand der Klägerin, auf diese Weise werde ihr das Recht abgeschnitten, die mit dem neuen Mietrecht (Art. 271 und 271a OR) eingeführte Anfechtbarkeit einer Kündigung geltend zu machen. Wie bereits dargelegt, will die Klägerin mit ihrer neuen Klage die Kündigung mit der Begründung anfechten, sie sei im Zusammenhang mit einem Versuch der Vermieter, eine Mietzinserhöhung durchzusetzen, erfolgt. Das aber ist, wie bereits dargelegt (E. 2 hievor), nichts anderes als die mit der ersten Klage angerufene Nichtigkeit der Kündigung gemäss Art. 18 Abs. 3 BMM.

6. Steht somit der Klage die Einrede der abgeurteilten Sache entgegen, so ist nicht mehr zu prüfen, ob die Kündigung für die Klägerin eine unzumutbare Härte zur Folge hätte.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4 5 6

Referenzen

BGE: 105 II 151

Artikel: Art. 273 OR, Art. 271 und 271a OR, Art. 18 Abs. 3 BMM, Art. 272-272d OR mehr...