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Urteilskopf

118 Ia 223


30. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 1. Juni 1992 i.S. A. gegen H., Gemeinderat Wynau und Regierungsrat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde).

Regeste

Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Anspruch auf gerichtliche Überprüfung von Nutzungsplänen, mit deren Genehmigung das Enteignungsrecht erteilt wird.
Der von Art. 6 Ziff. 1 EMRK verlangte gerichtliche Rechtsschutz zählt zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bundesrechts, denen die Kantone Rechnung zu tragen haben. Anspruch auf Zugang zu einem Gericht, dem eine umfassende Rechtskontrolle zusteht, bei Streitigkeiten über die Zulässigkeit einer Enteignung, wenn die Anfechtung der Erteilung des Enteignungsrechtes im Schätzungsverfahren ausgeschlossen ist (E. 1).
Art. 4 BV; mangelhafte Rechtsmittelbelehrung, Überweisung einer Streitsache an das Verwaltungsgericht zur weiteren Behandlung.
Da in einer staatsrechtlichen Beschwerde nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte geltend gemacht werden kann, hat das Verwaltungsgericht, sofern das kantonale Recht hiefür keine Grundlage bietet, dem Betroffenen gestützt auf Art. 4 BV eine angemessene Frist anzusetzen, innert welcher dieser eine Beschwerdeergänzung einreichen kann (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 224

BGE 118 Ia 223 S. 224
Vom 26. Februar bis 27. März 1990 lag in Wynau die Überbauungsordnung "Ausbau Schulhausstrasse" öffentlich auf. Als vom Plan betroffener Eigentümer erhob A. dagegen Einsprache. Nach der Festsetzung des Plans durch die Gemeinde wurde dieser von der Baudirektion des Kantons Bern unter Abweisung der Einsprache von A. genehmigt, wobei der Gemeinde Wynau mit der Plangenehmigung
BGE 118 Ia 223 S. 225
das Enteignungsrecht für die vom Plan erfassten Liegenschaften erteilt wurde. Eine von A. gegen den Genehmigungsentscheid geführte Beschwerde wies der Regierungsrat des Kantons Bern ab.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde verlangt A. die Aufhebung des Entscheides des Regierungsrates. Er beruft sich auf eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 22ter BV.
Im Rahmen des bundesgerichtlichen Verfahrens beantragt die Justizdirektion des Kantons Bern, es sei auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht einzutreten, weil im vorliegenden Fall mit Blick auf die Erteilung des Enteignungsrechtes ausnahmsweise die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig gewesen wäre.
Das Verwaltungsgericht hat dem Bundesgericht mitgeteilt, es sei in Beachtung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Bundesgerichtes zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK bereit, die staatsrechtliche Beschwerde als kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde an die Hand zu nehmen.
Mangels Letztinstanzlichkeit ist das Bundesgericht auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten, und es hat die Streitsache dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern zur weiteren Behandlung im Sinne der Erwägungen überwiesen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. a) Gemäss Art. 86 Abs. 2 OG in der Fassung vom 16. Dezember 1943, der vorliegend noch anwendbar ist (Schlussbestimmungen OG Ziff. 3 Abs. 1), sind staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte erst zulässig, wenn von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch gemacht worden ist. Der Beschwerdeführer beruft sich auf eine Verletzung von Art. 22ter BV sowie von Art. 6 Ziff. 1 EMRK; die in Art. 86 Abs. 2 OG vorgesehenen Ausnahmen vom Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges greifen somit nicht. Auch nach dem seit dem 15. Februar 1992 in Kraft stehenden Art. 86 OG in der Fassung vom 4. Oktober 1991 sind staatsrechtliche Beschwerden nur gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide zulässig.
Die Justizdirektion des Kantons Bern führt aus, nach der Praxis habe über Enteignungsstreitigkeiten mindestens ein unabhängiges kantonales Gericht zu befinden. Für solche Fälle stehe die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Berner Verwaltungsgericht offen. Es sei damit möglich, in gewissen Fällen Beschwerdeentscheide des
BGE 118 Ia 223 S. 226
Regierungsrates im Rahmen von Plangenehmigungen beim Berner Verwaltungsgericht anzufechten, und zwar insbesondere dann, wenn ein Plan als Enteignungstitel diene, eine Verletzung von Bundesrecht geltend gemacht werde und die zu enteignende Person Beschwerde führe. In diesem Sonderfall sei der Regierungsratsbeschluss nicht der kantonal letztinstanzliche Entscheid. A. habe jedoch im kantonalen Verfahren nicht geltend gemacht, die angefochtene Planung verletze seine Eigentumsrechte. Der Regierungsrat habe sich deshalb nicht veranlasst gesehen, in der Rechtsmittelbelehrung auf die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde hinzuweisen.
Das Verwaltungsgericht anerkennt, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Bundesgerichtes zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK die Kantone gehalten seien, zur Überprüfung von Plänen, mit denen das Enteignungsrecht verbunden ist, eine Gerichtsinstanz offenzuhalten, die zumindest den Sachverhalt und das anwendbare Recht frei prüfen könne. Die bernische Gesetzgebung entspreche dieser Rechtsprechung nicht (vgl. Art. 61 Abs. 4 des Baugesetzes vom 9. Juni 1985 (BauG) in Verbindung mit Art. 77 Abs. 1 lit. d und h des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 3. Mai 1989 (VRPG)), doch zeige der vorliegende Fall, dass das Verwaltungsgericht künftig nicht darum herumkommen werde, auf Beschwerden gegen Genehmigungsbeschlüsse betreffend Pläne mit Enteignungswirkung einzutreten, wenn das Enteignungsrecht bestritten werde.
b) Wie beide kantonalen Behörden darlegen, wird mit der Genehmigung der vorliegend umstrittenen Überbauungsordnung der Gemeinde Wynau das Enteignungsrecht erteilt. Art. 128 Abs. 1 lit. c BauG bestätigt dies. Der Beschwerdeführer hat nach dem Landerwerbsplan 1:500, mit Änderungen von der Baudirektion am 1. Juli 1991 genehmigt, ca. 93 m2 Land abzutreten und ist daher vom angefochtenen Plan betroffen. Das enteignungsrechtliche Schätzungsverfahren ist im wesentlichen auf die Bestimmung der Höhe und der Art der Entschädigung beschränkt (vgl. Art. 44 ff. des Gesetzes über die Enteignung vom 3. Oktober 1965 (EntG)). Eine Anfechtung der Erteilung des Enteignungsrechtes ist im Schätzungsverfahren ausgeschlossen (Art. 36 ff., insbesondere Art. 41 und 47 EntG in Verbindung mit Art. 128 BauG). Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Bundesrecht geltend (Art. 22ter BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Die von den kantonalen Behörden angeführten Voraussetzungen für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Berner Verwaltungsgericht sind somit gegeben (BGE 118 Ib 13 E. 1b und 3).
BGE 118 Ia 223 S. 227
c) Das Verwaltungsgericht hat zu Recht erkannt, dass Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat verschiedentlich festgehalten, dass Enteignungsverfahren in den Anwendungsbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK fallen (Urteil Bodén vom 27. Oktober 1987, Ziff. 29 und 32, Série A vol. 125-B = EuGRZ 1988 S. 452, 454 f.; Urteil Zimmermann und Steiner vom 13. Juli 1983, Ziff. 22, Série A vol. 66 = EuGRZ 1983 S. 482; Urteil Sporrong und Lönnroth vom 23. September 1982, Ziff. 79-83, Série A vol. 52 = EuGRZ 1983 S. 523, 527 f.). Die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK hat zur Folge, dass der Betroffene bei Streitigkeiten über die Zulässigkeit der Enteignung Anspruch auf Zugang zu einem Gericht hat, dem eine umfassende Rechtskontrolle zusteht, wie dies für das Verwaltungsgericht zutrifft (Art. 80 VRPG; BGE 116 Ib 56 E. 3b; BGE 115 Ia 190 f. E. 4b; BGE 115 Ib 414 f. E. 3c; BGE 114 Ia 127 E. 4c, ch). Dass das Verwaltungsgericht die Angemessenheit des angefochtenen Hoheitsaktes grundsätzlich nicht überprüfen kann (Art. 80 lit. b VRPG), widerspricht Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht (BGE 115 Ia 191; BGE 117 Ia 502 E. 2e).
Der von Art. 6 Ziff. 1 EMRK verlangte gerichtliche Rechtsschutz zählt zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bundesrechts, denen die Kantone Rechnung zu tragen haben. Zu Recht erklären sich daher sowohl die Justizdirektion im Namen des Regierungsrates als auch das Verwaltungsgericht bereit, die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Beschwerdeentscheide im Zusammenhang mit der Genehmigung von Plänen, mit denen die Erteilung des Enteignungsrechts verbunden ist, zuzulassen. Es ergibt sich hieraus, dass auf die staatsrechtliche Beschwerde mangels Letztinstanzlichkeit des angefochtenen Entscheides nicht eingetreten werden kann.

2. Der Regierungsrat hat dem angefochtenen Entscheid keine Rechtsmittelbelehrung beigefügt in der Meinung, einzig die staatsrechtliche Beschwerde sei zulässig. Nach dem Gesagten hat sich diese Auffassung als unzutreffend erwiesen. Die Justizdirektion führt in ihrer Vernehmlassung zwar an, es habe für den Regierungsrat kein Anlass bestanden, auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde hinzuweisen, da der Beschwerdeführer nicht geltend gemacht habe, er werde in seinen Eigentumsrechten verletzt. Dieser Meinung kann nicht beigepflichtet werden. In seiner Beschwerde vom 19. Juli 1991 an den Regierungsrat erklärte der Beschwerdeführer, er "sei nicht bereit, Land zur Verfügung zu stellen". In seinen Schlussbemerkungen vom 19. November 1991 hielt er fest, die Voraussetzungen für die Erteilung des Enteignungsrechtes seien nicht gegeben.
BGE 118 Ia 223 S. 228
Gemäss Art. 52 lit. d VRPG muss eine Verfügung unter anderem den Hinweis auf das zulässige ordentliche Rechtsmittel mit Angabe von Frist und Instanz enthalten. Eine zu Unrecht unterlassene Rechtsmittelbelehrung stellt eine mangelhafte Eröffnung dar. Niemandem darf hieraus ein Rechtsnachteil erwachsen (Art. 44 Abs. 5 VRPG). Dieser Grundsatz entspricht dem unter dem Schutz von Art. 4 BV stehenden Gebot des Verhaltens nach Treu und Glauben und des Vertrauensschutzes (Verfassungsprinzip der Fairness, BGE 115 Ia 18 f. E. 4a mit Hinweisen; vgl. Art. 107 Abs. 3 OG und Art. 38 VwVG; GEORG MÜLLER, Kommentar BV, Art. 4 Rz. 60 und 71).
Das Verwaltungsgericht hat sich bereit erklärt, die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde als kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde an die Hand zu nehmen, doch weist es darauf hin, dass es ihm aufgrund von Art. 33 Abs. 3 VRPG nicht möglich sei, eine Frist zur Ergänzung der Beschwerde anzusetzen, da der Beschwerdeführer die staatsrechtliche Beschwerde am Ende der dreissigtägigen Rechtsmittelfrist gemäss Art. 81 Abs. 1 VRPG eingereicht habe. Darin liegt für den Beschwerdeführer ein Nachteil, kann er sich doch in einer staatsrechtlichen Beschwerde nur auf die Verletzung verfassungsmässiger Rechte berufen, während mit einer kantonalen Verwaltungsgerichtsbeschwerde auch die mangelhafte Sachverhaltsfeststellung und die unrichtige Rechtsanwendung geltend gemacht werden kann (Art. 80 VRPG). Da die Unterlassung der Rechtsmittelbelehrung der verfügenden Behörde anzulasten ist, wird das Verwaltungsgericht - falls ihm dies aufgrund des kantonalen Verfahrensrechts nicht möglich sein sollte - unmittelbar gestützt auf Art. 4 BV dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist ansetzen, damit dieser eine Art. 80 VRPG entsprechende Beschwerdeergänzung einreichen kann.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2

Referenzen

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