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Urteilskopf

116 Ib 270


37. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 28. September 1990 i.S. Gewerkschaft Textil Chemie Papier gegen Spinnerei Murg AG und Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

Regeste

Ausnahmen vom Sonntagsarbeitsverbot.
1. Legitimation der Arbeitnehmerverbände (E. 1a).
2. Kognition des Eidg. Volkswirtschaftsdepartements (E. 3).
3. Ratio legis des Nacht- und Sonntagsarbeitsverbots; Ausnahmen vom Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot; Begriff der wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit; Verhältnis zwischen Nachtarbeitsverbot und Sonntagsarbeitsverbot (E. 4, 5).
4. Kriterium der Berufsüblichkeit für die Bewilligung von Frauensonntagsarbeit; Sonderschutz weiblicher Arbeitnehmer und Gleichstellung von Frau und Mann (E. 6, 7).

Sachverhalt ab Seite 271

BGE 116 Ib 270 S. 271
Das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit erteilte der Spinnerei Murg AG am 6. November 1987 eine Bewilligung für die Verschiebung der Grenzen der Tagesarbeit (50 Männer, 98 Frauen, 10 Jugendliche), eine Bewilligung für Nachtarbeit (50 Männer) sowie eine Bewilligung für ununterbrochenen Betrieb (von der vorerst je 21 Frauen und Männer, bis 1992 106 Männer und 104 Frauen betroffen sein sollten).
Eine am 24. Dezember 1987 von der Gewerkschaft Textil Chemie Papier erhobene Beschwerde wies das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement am 18. September 1989 hinsichtlich der Bewilligung für ununterbrochenen Betrieb ab; im übrigen konnte die Beschwerde (betreffend Bewilligung für die Verschiebung der Grenzen der Tagesarbeit, Bewilligung für die Nachtarbeit) als durch Rückzug erledigt abgeschrieben werden.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 19. Oktober 1989 beantragt die Gewerkschaft Textil Chemie Papier, die mit dem angefochtenen Entscheid bestätigte Bewilligung für ununterbrochenen Betrieb sei aufzuheben, eventuell insoweit, als damit Sonntagsarbeit für Arbeitnehmerinnen bewilligt wird; eventuell sei die Sache an das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement oder an das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit zurückzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut und weist die Sache an das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement zurück zu neuem Entscheid im Sinne der folgenden

Erwägungen

Erwägungen:

1. a) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind Arbeitnehmerverbände der jeweiligen Branche gestützt auf Art. 103 lit. c OG in Verbindung mit Art. 58 Abs. 1 ArG zur Erhebung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Verfügungen in Anwendung des Arbeitsgesetzes legitimiert, ohne dass es darauf ankäme, ob direkt betroffene Arbeitnehmer zu den Mitgliedern des Verbandes gehören (BGE 98 Ib 346 E. 1; Urteil vom 11. Juli 1986 E. 1, in JAR 1987 S. 309 ff.). Auf diese Rechtsprechung zurückzukommen besteht kein Anlass.
Vorliegend ist eine Arbeitszeitbewilligung für eine Spinnerei angefochten. Die Gewerkschaft Textil Chemie Papier ist Branchengewerkschaft; ihre Legitimation steht ausser Frage. Auf die im übrigen frist- und formgerecht eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist einzutreten.
BGE 116 Ib 270 S. 272

2. a) Die Gewerkschaft wendet sich gegen die vom Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit erteilte und vom Eidg. Volkswirtschaftsdepartement bestätigte Bewilligung für ununterbrochenen Betrieb für bis zu 106 Männer und 104 Frauen. Ununterbrochener Betrieb, der Schichtarbeit mit Nachtarbeit und Sonntagsarbeit verbindet (REHBINDER, Kommentar zum Arbeitsgesetz, 4. Aufl. 1987, N. 1 zu Art. 25), kann nach Art. 25 Abs. 1 ArG bewilligt werden, wenn er "aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen unentbehrlich" ist. Nacht- oder Sonntagsarbeit von weiblichen Arbeitnehmern darf nur unter besonderen, durch Verordnung zu bestimmenden Voraussetzungen bewilligt werden (Art. 34 Abs. 3 ArG).
b) Art. 45 der vom Bundesrat erlassenen Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz vom 14. Januar 1986 (ArGV 1; SR 822.111) bestimmt unter dem Marginale "Unentbehrlichkeit von Nacht- und Sonntagsarbeit":
1. Die technische oder wirtschaftliche Unentbehrlichkeit von dauernder oder regelmässig wiederkehrender Nacht- oder Sonntagsarbeit gilt für die im Anhang aufgeführten Arbeiten im dort bezeichneten Umfang als nachgewiesen.
2. Das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement ist ermächtigt, nach eingeholtem Gutachten der Arbeitskommission den Anhang entsprechend der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung zu ändern oder zu ergänzen.
Der Anhang zu Art. 45 ArGV 1 führt unter Ziff. II die Arbeitsverfahren auf, für welche die technische oder wirtschaftliche Unentbehrlichkeit als nachgewiesen gilt; unter Ziff. I finden sich "allgemeine Richtlinien" zur Bestimmung der Unentbehrlichkeit. Diese Richtlinien sehen - soweit hier von Interesse - folgendes vor:
1. Technische Unentbehrlichkeit...
2. Wirtschaftliche Unentbehrlichkeit von dauernder oder regelmässig wiederkehrender Nacht- oder Sonntagsarbeit liegt vor, wenn
a) die Unterbrechung eines Arbeitsverfahrens und dessen Wiederingangsetzung mit erheblichen Kosten verbunden ist,
b) ein Arbeitsverfaren besonders hohe Investitions- und Amortisationskosten bedingt;
c) die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland wegen längerer Arbeitszeiten oder anderer Arbeitsbedingungen im Ausland erheblich beeinträchtigt ist.
3. ...
BGE 116 Ib 270 S. 273
Für weibliche Arbeitnehmer darf Sonntagsarbeit nach der vom Bundesrat erlassenen Verordnung u.a. dann bewilligt werden, wenn sie im betreffenden Beruf üblich ist (Art. 71 lit. b ArGV 1).
c) Der Betrieb der Spinnerei Murg AG fällt nach dem angefochtenen Entscheid nicht unter die Arbeitsverfahren, für welche die Unentbehrlichkeit gemäss Ziff. II des Anhangs als nachgewiesen gilt. Die Vorinstanzen stützen denn die Erteilung der Bewilligung auf Ziff. I/2 lit. b und c der allgemeinen Richtlinien, sowie hinsichtlich der Frauensonntagsarbeit auf Art. 71 lit. b ArGV 1.

3. a) Das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement hat die Begriffe "wirtschaftliche Unentbehrlichkeit" und "Berufsüblichkeit" als unbestimmte Rechtsbegriffe bezeichnet und ausgeführt, es auferlege sich bei der Überprüfung der Verfügung des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit die "sachgebotene Zurückhaltung" und weiche nicht "ohne Not" von dessen Auffassung ab in Fragen, welche spezielle Fachkenntnisse voraussetzten und naturgemäss schwer überprüfbar seien.
b) Das Bundesgericht hat im zitierten Urteil vom 11. Juli 1986 (JAR 1987 S. 309 ff.) ausgeführt, das Departement habe Beschwerden gegen Verfügungen des Bundesamtes gemäss Art. 49 VwVG mit voller Kognition zu beurteilen. In Fragen, die spezielle Fachkenntnisse voraussetzten und damit naturgemäss schwer überprüfbar seien, könne zwar den oberen Verwaltungsbehörden zugestanden werden, dass sie nicht ohne Not von der Auffassung der erstinstanzlichen Vollzugsbehörde abwichen oder gar ihr Ermessen anstelle der mit besonderer Sachkenntnis ausgestatteten Vorinstanz stellten. Das gelte aber nur, wo die Zurückhaltung sachlich gerechtfertigt, ja geradezu unerlässlich sei. Als Beispiel nannte das Bundesgericht Beschwerdeentscheide über Examensbewertungen. Hinsichtlich der hier interessierenden Frage der wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit von ununterbrochenem Betrieb hielt das Bundesgericht demgegenüber ausdrücklich fest, es wäre "völlig abwegig, dem Departement die notwendige Fachkenntnis abzusprechen". Aus der dem Bundesamt übertragenen Aufgabe und seiner Kompetenz zur erstinstanzlichen Erteilung der Bewilligung lasse sich nicht ableiten, dass die obere Behörde als Beschwerdeinstanz von diesem Fachbereich nichts zu verstehen habe. Solches würde Sinn und Zweck der hierarchischen Organisation und des rechtsstaatlichen Rechtsmittelverfahrens widersprechen.
c) Das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement hielt sich im angefochtenen Entscheid nicht an diese Rechtsprechung. Es nahm für
BGE 116 Ib 270 S. 274
sich erneut in Anspruch, seine Kognition einzuschränken. Tatsächlich begnügte es sich hinsichtlich der Unentbehrlichkeit von Nacht- oder Sonntagsarbeit denn auch damit, die vom Bundesamt gegebene Begründung in verkürzter Form zu wiederholen und festzustellen, die Vorinstanz habe sich auf die massgeblichen Bestimmungen von Gesetz und Verordnung gestützt und den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten. Dabei hat das Departement nicht geprüft, ob die vom Bundesamt angewandten Kriterien Gesetz und Verordnung entsprechen. Dies, obwohl die Gewerkschaft mit einlässlicher Begründung die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit selbst, und nicht nur die Anwendung im konkreten Fall, in Frage gestellt hatte.
Das Bundesgericht sieht keinen Anlass, seine Rechtsprechung zu ändern, zumal das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement für seine abweichende Auffassung keinerlei Begründung gibt. Die verwaltungsinterne Rechtspflege zeichnet sich gegenüber der verwaltungsgerichtlichen gerade dadurch aus, dass eine vollumfängliche Überprüfung erstinstanzlicher Verfügungen in aller Regel möglich ist und insofern einen besseren Rechtsschutz gewährt. Wirtschaftliche Fachkenntnis hat ein Volkswirtschaftsdepartement zu haben. Es muss in der Lage sein, die wirtschaftlichen Verhältnisse einer bestimmten Branche und eines Betriebes im Hinblick auf die Unentbehrlichkeit ununterbrochener Arbeitsweise zu würdigen.
d) Der angefochtene Entscheid verletzt schon deshalb Bundesrecht, weil die Vorinstanz die ihr zustehende Kognition im Beschwerdeverfahren nicht ausgeschöpft hat. Er ist aufzuheben und die Sache an das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement zurückzuweisen.
Es rechtfertigt sich allerdings, die Auslegung der massgebenden Bestimmungen von Gesetz und Verordnung zu klären, um zu vermeiden, dass das Departement im Rückweisungsverfahren die - wie zu zeigen sein wird - unzutreffende Rechtsauffassung des Bundesamtes auch bei freier Kognition übernimmt und deshalb bei der erneuten Beurteilung des Falles von einer falschen Rechtslage ausgeht.

4. a) Das Arbeitsgesetz untersagt dem Grundsatz nach die Beschäftigung von Arbeitnehmern während der Nacht (Art. 16 ArG) und an Sonntagen (Art. 18 ArG). Das Verbot trägt den negativen Auswirkungen von Nacht- und Sonntagsarbeit auf die Gesundheit, das familiäre und das soziale Leben Rechnung.
BGE 116 Ib 270 S. 275
Während der Nachtschicht lebt der Mensch gegen den biologischen Rhythmus, der auf Aktivität am Tag und Erholung in der Nacht ausgerichtet ist. Das hat langfristig gesundheitliche Probleme zur Folge. In Mitleidenschaft gezogen wird auch der familiäre Bereich durch den Zwang, auf die Ruhebedürfnisse des Schichtarbeit leistenden Familiengliedes tagsüber Rücksicht zu nehmen; überhaupt gibt es einen gemeinsamen Lebensrhythmus der Familie nicht mehr, was nicht nur zusätzliche Arbeit bei der Organisation des familiären Lebens bewirkt, sondern vor allem auch die Pflege mitmenschlicher Beziehungen innerhalb der Familie nachhaltig beeinträchtigt. Noch schwieriger wird die Teilnahme am öffentlichen Leben; soziale Isolierung kann die Folge sein (vgl. dazu das Gutachten der Faculté des Sciences Sociales et Politiques der Universität Lausanne: BEAUD/BRULHARDT/GOTTRAUX/LEVY/MESSANT-LAURENT, Travail de nuit et autres formes d'horaires atypiques, Lausanne 1990).
Anders als Nachtarbeit hat Sonntagsarbeit keine direkten Auswirkungen auf die Gesundheit. Um so grössere Bedeutung kommt der Sonntagsruhe aber in sozialer und kultureller Hinsicht zu. Nicht nur beruht die Sonntagsruhe auf der christlichen Tradition der Sonntagsheiligung und hat für einen Teil der Bevölkerung noch heute diese Bedeutung. Der für alle gleiche freie Tag ermöglicht dem in die Arbeit eingespannten Menschen auch und vor allem Erholung und Musse jenseits von Hektik und Zeitnot des Alltags. Er erlaubt innere Ruhe, die ohne äussere Ruhe nicht denkbar wäre. Kollektive Freizeit ermöglicht in hohem Masse Kommunikation und Kontakte in der Famille und darüber hinaus, was individuelle Wochenfreizeiten nicht zu erfüllen vermöchten (vgl. die sozialwissenschaftliche Studie von JÜRGEN P. RINDERSPACHER, Am Ende der Woche - Die soziale und kulturelle Bedeutung des Wochenendes, Bonn 1987).
b) Vom Verbot der Nacht- und Sonntagsarbeit macht das Arbeitsgesetz eine Ausnahme bei technischer oder wirtschaftlicher Unentbehrlichkeit (Art. 17 Abs. 2, Art. 19 Abs. 2 ArG). Das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit erachtet wirtschaftliche Unentbehrlichkeit als gegeben, "wenn die Nacht- und Sonntagsarbeit dazu dient, den Betrieb dynamisch, investitionsfreudig, kurzum gesund zu erhalten". Dieser Beurteilungsmassstab ist rein am ökonomisch Wünschbaren orientiert. Es wundert denn auch nicht, dass das Bundesamt nach dessen eigener Darstellung noch kaum je ein Gesuch um Nacht- oder Sonntagsarbeit hat ablehnen
BGE 116 Ib 270 S. 276
müssen. Das mag - wie das Bundesamt ausführt - zwar auch darauf zurückzuführen sein, dass Nacht- und Sonntagsarbeit von den Betrieben selbst wegen höherer Lohnkosten und Schwierigkeiten bei der Personalrekrutierung, und damit aus betriebswirtschaftlicher Vernunft, nur zurückhaltend eingeführt wird. Greifen müssen arbeitsschutzrechtliche Bestimmungen aber gerade dann, wenn die Gesetze des Marktes für die Einführung von Nacht- und Sonntagsarbeit sprechen. Das Arbeitsschutzrecht soll der ökonomischen Rationalität zugunsten des Arbeitnehmers Grenzen setzen. Es bestimmt die Rahmenbedingungen, an die sich der Unternehmer bei seinen, an der Wirtschaftlichkeit orientierten, Entscheidungen zu halten hat. Den Betrieb gesund, dynamisch und investitionsfreudig zu erhalten, ist Aufgabe des Unternehmers selbst, die er im Rahmen und unter Beachtung der Rechtsordnung verfolgen soll. Unentbehrlich kann ein Abweichen vom Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot deshalb nicht schon dann sein, wenn es dem Unternehmer für die Verfolgung der genannten Zielsetzung dienlich ist.
c) Blosse Zweckmässigkeit genügt für ein Abweichen vom Nacht- oder Sonntagsarbeitsverbot nicht. Erforderlich ist vielmehr, wie das Gesetz sagt, Unentbehrlichkeit. Unentbehrlich heisst nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch soviel wie "unerlässlich" oder "unbedingt notwendig". Auch im französischen und italienischen Text verwendete der Gesetzgeber die Worte "indispensable" und "indispensabile". Diese restriktive Wortwahl zeigt, dass der Gesetzgeber das Interesse an der Wahrung der Nacht- und Sonntagsruhe weit über die wirtschaftliche Zweckmässigkeit stellt, Nacht- und Sonntagsarbeit also nur ganz ausnahmsweise bewilligt werden darf, wenn es anders schlicht nicht geht.
Eine Ausnahmebewilligung fällt freilich - entgegen der Auffassung der Gewerkschaft - nicht nur oder erst dann in Betracht, wenn anders der Betrieb nicht überlebensfähig wäre. Das ist weder notwendige noch hinreichende Voraussetzung für die Bewilligung von Nacht- oder Sonntagsarbeit. Es geht einerseits nicht darum, unwirtschaftlich arbeitende Betriebe noch für einige Zeit am Leben zu erhalten; dass bestimmte Betriebe unter dem Druck der Konkurrenz nicht weiterexistieren können, ist dem marktwirtschaftlichen System immanent und soll nicht durch Ausnahmen vom Arbeitsschutz verhindert werden. Anderseits macht es aber auch keinen Sinn, Nacht- oder Sonntagsarbeit erst dann zu bewilligen,
BGE 116 Ib 270 S. 277
wenn der Betrieb seine Konkurrenzfähigkeit bereits eingebüsst hat.
Ansatzpunkt für die Beurteilung der wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit ist deshalb nicht die wirtschaftliche Lage des einzelnen Betriebs, sondern das Arbeitsverfahren. Das erlaubt eine wettbewerbsneutrale Praxis bei der Erteilung von Ausnahmebewilligungen. Überhaupt müssen die Ausnahmen von Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot den aus der Handels- und Gewerbefreiheit folgenden Grundsatz der Gleichbehandlung der Gewerbegenossen achten und dürfen keine Wettbewerbsverzerrungen bewirken.
d) Ausnahmen vom Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot sind nach dem Wortlaut des Gesetzes unter denselben Bedingungen zulässig, nämlich der technischen oder wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit. Das heisst aber nicht, dass Sonntagsarbeit zwangsläufig auch bewilligt werden müsste, wenn Nachtarbeit bewilligt wird.
Die Ausnahmebestimmung zum Nachtarbeitsverbot findet sich in Art. 17 Abs. 2 ArG, die Ausnahmebestimmung zum Sonntagsarbeitsverbot in Art. 19 Abs. 2 ArG. Drei- und mehrschichtige Arbeit (mit mindestens einer Nachtschicht) ist in Art. 24 Abs. 2 ArG geregelt, ununterbrochener Betrieb (mit Nacht- und Sonntagsarbeit) in Art. 25 Abs. 1 ArG. Die Regelung in verschiedenen Gesetzesbestimmungen zeigt, dass die Ausnahmen vom Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot nicht miteinander verknüpft sein müssen. Aus den Materialien (Botschaft, BBl 1960 II 1977) ergibt sich, dass der Gesetzgeber die Sonntagsarbeit noch weiter einschränken wollte als die Nachtarbeit, weshalb er für den Bereich der vorübergehenden Sonntagsarbeit höhere Lohnzuschläge als bei Nachtarbeit vorschrieb (Art. 17 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1 ArG). Auch wenn diese Lohnregelung für dauernde Nacht- und Sonntagsarbeit nicht massgebend ist, bleibt die darin zum Ausdruck gebrachte Wertung des Gesetzgebers beachtlich und muss dazu führen, dass Sonntagsarbeit noch zurückhaltender als Nachtarbeit bewilligt wird (Urteil vom 11. Juli 1986 E. 4, in JAR 1987 S. 316).
Als Abweichungen zu einem der tragenden Grundsätze des Arbeitsschutzrechts dürfen Ausnahmebewilligungen vom Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit nur so weit erteilt werden, als Unentbehrlichkeit besteht. Kann diese bei Bewilligung von Nachtarbeit nicht mehr angenommen werden, muss es dabei sein Bewenden haben und darf nicht zusätzlich auch noch Sonntagsarbeit bewilligt werden.
BGE 116 Ib 270 S. 278

5. a) Der Bundesrat hat in Ziff. I/2 des Anhangs zur ArGV 1 Nacht- oder Sonntagsarbeit als wirtschaftlich unentbehrlich bezeichnet, wenn die Unterbrechung des Arbeitsverfahrens und dessen Wiederingangsetzung erhebliche Kosten verursacht (lit. a), das Arbeitsverfahren hohe Investitions- und Amortisationskosten bedingt (lit. b) oder die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland wegen längerer Arbeitszeiten oder anderer Arbeitsbedingungen erheblich beeinträchtigt ist (lit. c). Die Auslegung dieser gesetzesinterpretativen Bestimmungen muss sich am gesetzgeberischen Zweck orientieren, Nacht- und Sonntagsarbeit möglichst einzuschränken.
b) Die der Spinnerei Murg AG erteilte Bewilligung stützt sich nicht auf Ziff. I/2 lit. a des Anhangs.
c) Die Vorinstanzen erachten die Voraussetzung, dass das von ihr angewendete Arbeitsverfahren besonders hohe Investitions- und Amortisationskosten bedinge (Ziff. I/2 lit. b des Anhangs), als erfüllt, weil die Spinnerei Murg AG das 3,5fache der durchschnittlichen Investitionen in vergleichbaren Betrieben investiert habe.
Darauf allein kann es jedoch nicht ankommen. Bei hohen Investitionen die wirtschaftliche Unentbehrlichkeit von Nacht- und Sonntagsarbeit ohne weiteres zu bejahen, hiesse arbeitsrechtlich Strukturpolitik zugunsten kapitalintensiver und zulasten arbeitsintensiver Betriebe zu betreiben. Es hiesse angesichts fortschreitender Rationalisierung überdies, dass Nacht- und Sonntagsarbeit zur Regel würde. Ausser acht gelassen wird bei einer solchen Interpretation sodann, dass hohe Investitions- und Amortisationskosten durch das Arbeitsverfahren "bedingt" sein müssen. Der Wortlaut des französischen Textes ist deutlicher formuliert: "un procédé de travail nécessite de grands frais..."; ebenso der italienische Text: "un processo lavorativo richiede elevate spese...". Aus den romanischsprachigen Texten wird klar, dass die Voraussetzung der wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit nur erfüllt ist, wenn das Arbeitsverfahren die hohen Kosten an Investitionen und Amortisationen erfordert. Dies ist nach der ratio legis nur dann der Fall, wenn das hohe Kosten verursachende Arbeitsverfahren als solches notwendig ist; sonst wäre es ins Belieben des Unternehmers gestellt, Arbeitsverfahren zu wählen, die zu Nacht- und Sonntagsarbeit führen.
Es kommt also darauf an, ob hohe Investitionen nötig sind, weil das Produkt anders gar nicht oder doch nicht in genügender Qualität hergestellt werden kann. Nicht gerechtfertigt sind
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Nacht- und Sonntagsarbeit demgegenüber, wenn die Maschinen nur deshalb ersetzt werden, weil noch produktivere zur Verfügung stehen. Natürlich bleibt dem Unternehmer die Wahl möglichst produktiver Fabrikationsmethoden; ob sich diese für ihn lohnen, muss er aber entscheiden, ohne auf arbeitsrechtliche Ausnahmebewilligungen zurückzugreifen. Wie Nationalrat Schürmann in der parlamentarischen Beratung des Arbeitsgesetzes unwidersprochen und ausdrücklich zuhanden der Materialien und der zu erlassenden Verordnung ausführte, sollen blosse Rationalisierungsbestrebungen für eine Ausnahmebewilligung nicht genügen (Sten.Bull. 1962 N 214). Von Unentbehrlichkeit kann in diesem Fall nicht die Rede sein; es handelt sich schlicht darum, dass längere Maschinenlaufzeiten eine erhöhte Produktion erlauben, was für jeden Betrieb zutrifft und ein Abweichen von einem grundsätzlichen Verbot nicht rechtfertigen kann.
Sind hohe Investitionen unabdingbar, stellt sich die weitere Frage, ob deren Amortisation nicht doch im Rahmen der üblichen Betriebsnutzungszeit oder allenfalls unter Bewilligung von Nachtarbeit, nicht aber Sonntagsarbeit, möglich ist. Erst wenn sowohl die hohe Investition unvermeidlich als auch zusätzlich deren Amortisation nicht ohne Nacht-, allenfalls Sonntagsarbeit möglich ist, kann eine Ausnahmebewilligung erteilt werden.
d) Die Vorinstanzen stützen sich weiter auf Ziff. I/2 lit. c des Anhangs, wonach wirtschaftliche Unentbehrlichkeit gegeben ist, wenn die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland wegen längerer Arbeitszeiten oder anderer Arbeitsbedingungen im Ausland erheblich beeinträchtigt ist. Diese Bestimmung hat ihre sachliche Grundlage in der weltwirtschaftlichen Verflechtung. Unterschiedliche Arbeitsgesetzgebung verbunden mit dem Abbau von Handelsschranken kann zu einer Beeinträchtigung der Konkurrenzfähigkeit schweizerischer Betriebe führen, wenn in Konkurrenzländern weniger strenge Vorschriften gelten. Dabei verhält es sich allerdings so, dass in den einzelnen Ländern für die Herstellung eines bestimmten Gutes mannigfache Standortvorteile und Standortnachteile bestehen. Mit der Liberalisierung des Welthandels wird gerade das Ziel verfolgt, Güter dort zu produzieren, wo dies am kostengünstigsten möglich ist. Diesen dem marktwirtschaftlichen Weltwirtschaftssystem immanenten Prozess kann und soll Ziff. I/2 lit. c des Anhangs zur ArGV 1 nicht verhindern. So sollen ausländische Standortvorteile infolge tieferen Lohnniveaus nicht durch Ausnahmen vom Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot
BGE 116 Ib 270 S. 280
ausgeglichen werden. In Betracht fällt vielmehr einzig eine Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit, die auf weniger strenge Arbeitsschutzvorschriften im Ausland zurückgeht. Diese können Nacht- und Sonntagsarbeit auch in der Schweiz wirtschaftlich unentbehrlich machen.
Der gesetzgeberische Grundentscheid, Nacht- und Sonntagsarbeit möglichst einzuschränken, darf beim Vergleich mit den Arbeitsbedingungen in Konkurrenzländern allerdings nicht aus den Augen verloren werden. Wäre für die Tragweite des Arbeitsschutzes immer die jeweils unterste Stufe massgebend, so liesse sich - worauf REHBINDER (a.a.O., N. 2 zu Art. 17) hinweist - das Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot bequem aus den Angeln heben. Das wäre mit dem Gesetzeszweck nicht vereinbar. Ein Vergleich mit Ländern ohne ausgebauten Schutz der Arbeitnehmer verbietet sich unter diesem Gesichtspunkt in jedem Fall. Dagegen hat der Schutz des Arbeitnehmers zurückzutreten, wenn Länder mit sozial grundsätzlich gleichwertiger Regelung in bestimmten Branchen weniger strenge Vorschriften kennen, vorausgesetzt allerdings, dass mit diesen Ländern eine Konkurrenzsituation besteht und erhebliche Auswirkungen auf die Konkurrenzfähigkeit der schweizerischen Unternehmungen nachgewiesen sind. Eine strengere Regelung lässt sich unter solchen Umständen in einem einzelnen Land nicht aufrechterhalten.
Es wird im vorliegenden Fall abzuklären und durch die Spinnerei Murg AG zu belegen sein, welches ihre wesentlichen Konkurrenzländer sind, wobei die Konkurrenzsituation auf den jeweiligen Märkten für jedes Land im einzelnen und anteilsmässig nachzuweisen ist. Weiter wird zu prüfen sein, ob die Maschinenlaufzeiten in den fraglichen Ländern wesentlich höher sind, als dies bei der Spinnerei Murg AG ohne Erteilung der nachgesuchten Bewilligung der Fall wäre. Das erscheint schon deshalb wenig wahrscheinlich, weil sich die Gewerkschaft nicht gegen Nachtarbeit, sondern lediglich gegen die Sonntagsarbeit wendet, die Frage der Nachtarbeit also nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet. Zu prüfen wird daher auch sein, ob nicht schon mit durchgehenden Schichten während sechs Wochentagen Betriebsnutzungszeiten erreicht werden könnten, die im Vergleich mit den massgeblichen Konkurrenzländern jedenfalls Sonntagsarbeit nicht mehr als wirtschaftlich unentbehrlich erscheinen liessen.

6. a) Die Gewerkschaft erachtet es selbst bei Unentbehrlichkeit von Sonntagsarbeit als unzulässig, Frauen dazu heranzuziehen.
BGE 116 Ib 270 S. 281
Gemäss Art. 34 Abs. 3 ArG darf Nacht- oder Sonntagsarbeit für weibliche Arbeitnehmer nur unter besonderen, durch Verordnung zu bestimmenden Voraussetzungen bewilligt werden. Dies ist zum Teil in der Verordnung II zum Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel vom 14. Januar 1966 (ArGV 2; SR 822.112) auf generell-abstrakte Weise geschehen, wo gestützt auf Art. 27 ArG für bestimmte Gruppen von Betrieben oder Arbeitnehmern Sonderbestimmungen erlassen wurden, die auch die Nacht- und Sonntagsarbeit von Frauen erfassen. Soweit ausserhalb dieser Gruppen durch behördliche Einzelverfügung Abweichungen von der Arbeitszeitregelung des Arbeitsgesetzes bewilligt werden, enthält die ArGV 1 in Art. 70 und Art. 71 die Bestimmungen über den Sonderschutz der weiblichen Arbeitnehmer hinsichtlich der Nacht- und Sonntagsarbeit. Nachtarbeit steht vorliegend nicht zur Diskussion (sie käme nach Art. 70 ArGV 1 nicht in Frage, und es gilt ohnehin das weitgehende Nachtarbeitsverbot gemäss dem Übereinkommen Nr. 89 der IAO vom 9. Juli 1948 über die Nachtarbeit von Frauen im Gewerbe). Gemäss Art. 71 lit. b ArGV 1 kann für weibliche Arbeitnehmer Sonntagsarbeit bewilligt werden, soweit sie im betreffenden Beruf üblich ist. Im vorliegenden Fall geht es um die Anwendung dieser Bestimmung.
b) Das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement erachtet das Erfordernis der Berufsüblichkeit als erfüllt, wenn in einem bestimmten Beruf die Sonntagsarbeit schon eine gewisse allgemeine Verbreitung gefunden hat und aufgrund neuer Produktionsverfahren zu einer Notwendigkeit geworden ist. Das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit geht noch weiter und nimmt Berufsüblichkeit bereits dann an, wenn die Sonntagsarbeit als solche unentbehrlich ist. Es sei unsinnig, vorerst Sonntagsarbeit nur für Männer zuzulassen und sie mit einer blossen Verzögerung dann doch auf die Frauen auszudehnen.
Nach der Auslegung des Bundesamtes wäre das Kriterium der Berufsüblichkeit obsolet. Frauensonntagsarbeit könnte immer dann zugelassen werden, wenn Sonntagsarbeit als solche technisch oder wirtschaftlich unentbehrlich ist. Die Frauen wären nicht mehr geschützt, als es die Männer sind. Das aber widerspricht klar den Intentionen des Gesetzes, das die Sonntagsarbeit von Frauen an zusätzliche, besondere Bedingungen knüpfen wollte (Art. 34 Abs. 3 ArG). Wenig überzeugend wäre aber auch eine Lösung, die Frauensonntagsarbeit zuliesse nach einer vorgeschobenen Phase der Sonntagsarbeit von Männern. Das böte nur wenig zusätzlichen
BGE 116 Ib 270 S. 282
Schutz und würde dagegen zum Ergebnis führen, dass Berufsüblichkeit von Sonntagsarbeit in Berufen, die vornehmlich oder ausschliesslich von Frauen ausgeübt werden, gar nie entstehen könnte, mit der Folge, dass am Sonntag trotz technischer oder wirtschaftlicher Unentbehrlichkeit nicht gearbeitet werden könnte.
c) Für die Auslegung der besonderen Kautelen, von denen die Zulässigkeit von Frauensonntagsarbeit abhängt, sei in Erinnerung gerufen, dass der Gesetzgeber Sonntagsarbeit generell (auch für Männer) mit Rücksicht auf die eminente Bedeutung des freien Sonntags für die Pflege der familiären und sozialen Kontakte noch weiter einschränken wollte als Nachtarbeit (E. 4d). In einem traditionellen Rollenverständnis, das in der sozialen Wirklichkeit trotz Gleichstellung von Frau und Mann im Eherecht fortbesteht und nicht überwunden ist, kommt der Frau für das Familienleben ein besonderer Stellenwert zu. Das ist der Grund dafür, dass Gesetz und Verordnung Sonntagsarbeit von Frauen zusätzlich einschränken. Teleologisch geht es also darum, Sonntagsarbeit, wenn sie schon technisch oder wirtschaftlich unentbehrlich ist, möglichst auf Männer zu beschränken. Wenn nun aber ein Beruf von Männern faktisch nicht oder doch nur in untergeordnetem Mass ausgeübt wird, lässt sich die Beschränkung auf Männersonntagsarbeit nicht aufrechterhalten. In solchen Fällen muss die Möglichkeit bestehen, Frauen zur Sonntagsarbeit heranzuziehen. Es ist also darauf abzustellen, ob eine Arbeit berufsüblich von Frauen (und nicht von Männern) ausgeübt wird.
Typische Frauenarbeiten, die seit jeher sowohl des Nachts als auch sonntags verrichtet werden müssen, sind in der ArGV 2 erfasst. REHBINDER (a.a.O., N. 3 zu Art. 34) schliesst daraus, dass der in Art. 71 lit. b ArGV 1 vorgesehene Tatbestand vermutlich überflüssig sei, weil Sonntagsarbeit nur in den Bereichen üblich sei, die ohnehin durch die ArGV 2 erfasst würden. Mit einer solchen Interpretation könnte aber bei neu entwickelten Produktionsverfahren einer technischen oder wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit nicht Rechnung getragen werden, wenn die entsprechende Arbeit faktisch vornehmlich oder ausschliesslich von Frauen verrichtet wird. Art. 71 lit. b ArGV 1 kommt diese die ArGV 2 ergänzende Funktion zu.

7. a) Es stellt sich freilich die Frage, ob und wie weit der Sonderschutz weiblicher Arbeitnehmer vor Art. 4 Abs. 2 BV standhält. Danach sind Mann und Frau gleichberechtigt (Satz 1); das Gesetz sorgt für ihre Gleichstellung, vor allem in Familie,
BGE 116 Ib 270 S. 283
Ausbildung und Arbeit (Satz 2). Satz 1 ist ein verfassungsmässiges Recht, das mit bestimmten Ausnahmen eine rechtliche Differenzierung nach dem Geschlecht verbietet und unmittelbar anwendbar ist. Satz 2 enthält einen Gesetzgebungsauftrag, der tatsächliche Gleichstellung in der sozialen Wirklichkeit schaffen soll (CHARLES-ALBERT MORAND, L'érosion jurisprudentielle du droit fondamental à l'égalité entre hommes et femmes, in: L'égalité entre hommes et femmes, Lausanne 1988, S. 77 ff.; GEORG MÜLLER, Quotenregelungen - Rechtssetzung im Spannungsfeld von Gleichheit und Verhältnismässigkeit, in: ZBl 91/1990, S. 308). Diskriminierungsverbot als formalrechtliche Gleichstellung einerseits und Egalisierungsgebot als Auftrag, materielle Chancengleichheit zu schaffen anderseits, stehen dabei in einem gewissen Widerspruch (MORAND, a.a.O., S. 87 f.) und müssen zum Ausgleich gebracht werden (GEORG MÜLLER, a.a.O., S. 310).
b) Mit biologischen Unterschieden lässt sich die Ungleichbehandlung von Frau und Mann hinsichtlich der Sonntagsarbeit nicht begründen. Sie beruht vielmehr auf der traditionellen Rollenverteilung im Familienleben. Zu beachten ist aber, dass die Sonntagsruhe für Familien eine noch grössere Bedeutung hat als für die Gesellschaft allgemein. Erschwerungen der sozialen Beziehungen insbesondere im Familienbereich zu verhindern, ist ein Anliegen der Arbeitsschutzgesetzgebung, das als solches mit Geschlechterdiskriminierung nichts zu tun hat und dem nach der bisherigen Regelung unter anderem mit den Sonderbestimmungen über die Sonntagsarbeit von Frauen Rechnung getragen werden soll. Dabei ist freilich eine gesetzgeberische Lösung denkbar, die nicht nach dem Geschlecht differenziert.
c) Grundsätzlich kann das Bundesgericht einer Verordnung, die mit Art. 4 Abs. 2 BV unvereinbar ist, die Anwendung versagen. An verfassungswidriges Verordnungsrecht ist es aber dann gebunden, wenn das Gesetz den Bundesrat ermächtigt, von der Verfassung abzuweichen, denn Bundesgesetze sind für das Bundesgericht verbindlich (Art. 113 Abs. 3 und Art. 114bis Abs. 3 BV). In Art. 34 Abs. 3 ArG wird bestimmt, dass Nacht- und Sonntagsarbeit von weiblichen Arbeitnehmern nur unter besonderen, durch die Verordnung zu bestimmenden Voraussetzungen bewilligt werden darf. Hinsichtlich der hier in Frage stehenden Sonntagsarbeit sind Sonderregelungen, die geschlechtsspezifisch die Frauen betreffen und mit Art. 4 Abs. 2 BV vereinbar wären, nicht denkbar, da nicht der Schutz der Mutterschaft bezweckt ist (nicht bezweckt sein
BGE 116 Ib 270 S. 284
kann), sondern des Familienlebens allgemein. Die Delegationsnorm des Gesetzes impliziert unter solchen Umständen eine verfassungswidrige Ausgestaltung des Verordnungsrechts, weshalb das Bundesgericht der Verordnung die Anwendung nicht versagen kann.
d) Hinzu kommt, dass die blosse Nichtanwendung der einschränkenden Voraussetzung in Art. 71 lit. b ArGV 1 lediglich die formale Geschlechtergleichheit herstellen würde, und zwar durch Verschlechterung der Stellung der Frau, ohne dass die Stellung des Mannes mit Familienpflichten verbessert würde. Es werden damit nicht die Voraussetzungen geschaffen, dass der Mann seinen Teil zu Erziehung und Haushalt beitragen kann; und es wird auch nicht verhindert, dass die Frau als billigere Arbeitskraft am Sonntag ausgenützt wird. Allein der Gesetzgeber ist in der Lage, gleichzeitig mit der formalen Gleichstellung der Geschlechter den Gesetzgebungsauftrag zu erfüllen, für eine tatsächliche Gleichstellung in Arbeit und Familie zu sorgen.

8. a) Zu Unrecht beruft sich die Spinnerei Murg AG im übrigen auf den Vertrauensschutz, weil ihr bereits früher Bewilligungen für Nacht- und Sonntagsarbeit erteilt worden seien. Ob befristet erteilte Bewilligungen überhaupt begründetes Vertrauen auf Erteilung weiterer Bewilligungen des nämlichen oder ähnlichen Inhalts verschaffen können, braucht hier nicht erörtert zu werden. Die frühere Bewilligung verschaffte der Spinnerei Murg AG die Beschäftigung von maximal 16 Männern und Frauen am Sonntag. Hier geht es aber um eine Erhöhung auf 210 Arbeitnehmer. Bei derart erheblichen Auswirkungen auf das Sonntagsarbeitsverbot ist eine erneute Prüfung sämtlicher Bewilligungsvoraussetzungen ohne weiteres zulässig und zur Wahrung des öffentlichen Interesses auch erforderlich.

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4 5 6 7 8

Referenzen

BGE: 98 IB 346

Artikel: Art. 71 lit. b ArGV 1, Art. 34 Abs. 3 ArG, Art. 4 Abs. 2 BV, Art. 25 Abs. 1 ArG mehr...