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Urteilskopf

117 II 480


88. Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. August 1991 i.S. S. GmbH gegen B. AG (Berufung)

Regeste

Nichtigkeit eines europäischen Patentes wegen vorzeitiger Offenbarung der Erfindung; Beginn der Neuheitsschonfrist im Fall einer unschädlichen Offenbarung; Art. 52 Abs. 1, 54, 55 Abs. 1 EPÜ und Art. 1 Abs. 1, 7, 7b, 26 Abs. 1 Ziff. 1 PatG.
1. Voraussetzungen, unter denen eine Erfindung als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht gilt (E. 1).
2. Bei der Berechnung der Neuheitsschonfrist von Art. 55 Abs. 1 EPÜ ist auf den Zeitpunkt der Einreichung der europäischen Patentanmeldung abzustellen. Eine frühere prioritätsbegründende nationale Anmeldung ist im Unterschied zur Regelung gemäss Art. 7b PatG unbeachtlich (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 480

BGE 117 II 480 S. 480
Die S. GmbH mit Sitz in Berlin ist Inhaberin des europäischen Patentes Nr. 708 betreffend eine Stapelvorrichtung für stab- oder
BGE 117 II 480 S. 481
brettförmiges Stückgut. Das Patent wurde am 17. Juli 1978 unter Beanspruchung einer deutschen Priorität vom 3. August 1977 angemeldet.
Vorher hatte die L. GmbH, ebenfalls mit Sitz in Berlin, am 20. Juni 1977 einer Firma M. in Deutschland den Prototyp einer Stapelvorrichtung geliefert, welcher das Patent der S. GmbH verletzt. In der Folge produzierte und verkaufte die L. GmbH mehrere solche Vorrichtungen. Eine davon gelangte im Jahre 1987 über einen Zwischenhändler in den Besitz der B. AG in Niedergösgen, welche die Maschine in ihrem Betrieb verwendet.
Im Februar 1989 reichte die S. GmbH beim Obergericht des Kantons Solothurn wegen Patentverletzung Klage gegen die B. AG ein. Sie stellte neben einem Unterlassungs- sowie Auskunftsbegehren den Antrag, die Beklagte zur Zahlung von Schadenersatz, eventuell zur Herausgabe des erzielten Gewinnes zu verpflichten. Da die Beklagte den Einwand erhob, das Patent der Klägerin sei mangels Neuheit nichtig, schränkte das Obergericht das Verfahren auf diese Frage ein. Mit Urteil vom 6. November 1990/27. Februar 1991 wies es in Gutheissung des Einwandes die Klage ab.
Die Klägerin hat das Urteil des Obergerichts mit Berufung angefochten, die vom Bundesgericht abgewiesen wird.

Erwägungen

Erwägungen:

1. Umstritten ist vor Bundesgericht, ob die Erfindung der Klägerin, welche ihrem europäischen Patent zugrunde liegt, mit der Lieferung des Prototyps am 20. Juni 1977 an die Firma M. im Sinne von Art. 7 Abs. 2 PatG und Art. 54 Abs. 2 EPÜ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Unstreitig war dagegen schon im Verfahren vor dem Obergericht, dass der von der L. GmbH hergestellte Prototyp und auch die von dieser später produzierten und veräusserten Stapelautomaten der patentierten Erfindung entsprachen.
a) Gemäss Art. 26 Abs. 1 Ziff. 1 PatG ist ein Patent nichtig, wenn sein Gegenstand nach den Art. 1 und 1a PatG nicht patentfähig ist. Dieser Nichtigkeitsgrund gilt auch für europäische Patente (Art. 110 PatG, Art. 138 Abs. 1 lit. a EPÜ). Eine der materiellen Patentvoraussetzungen ist die Neuheit der Erfindung (Art. 1 Abs. 1 PatG, Art. 52 Abs. 1 EPÜ). Sie fehlt, wenn die Erfindung zum Stand der Technik gehört. Diesen Stand bildet
BGE 117 II 480 S. 482
alles, was vor dem Anmelde- oder Prioritätsdatum der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist (Art. 7 PatG, Art. 54 Abs. 1 und 2 EPÜ).
Das Bundesgericht prüft im Berufungsverfahren frei, ob die Erfindung unter den gegebenen Umständen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, da die Offenkundigkeit oder Offenbarung einer Erfindung ein Rechtsbegriff ist. Offenkundigkeit liegt nach Lehre und Rechtsprechung dann vor, wenn eine zureichende, nach der Erfahrung des Lebens und den Verhältnissen des Einzelfalles nicht auszuschliessende Möglichkeit besteht, dass Fachleute von der Erfindung in einer Weise Kenntnis nehmen, die ihnen die Ausführung erlaubt (BGE 68 II 396; BLUM/PEDRAZZINI, Das schweizerische Patentrecht, 2. Aufl., Bd. I, Anm. 13 ff. zu Art. 7 PatG und Anm. 16A des Nachtrags zu Art. 7 PatG; PEDRAZZINI, Patent- und Lizenzvertragsrecht, 2. Aufl., S. 51). Ob die Fachleute eines bestimmten Landes - beispielsweise jenes Landes, in dem sich die behauptete Patentverletzung ereignet hat - die Erfindung zur Kenntnis genommen haben, ist nicht entscheidend; denn der Stand der Technik bestimmt sich nach dem der Öffentlichkeit irgendwo zugänglich gemachten technischen Wissen (BGE 95 II 364; TROLLER, Immaterialgüterrecht, 3. Aufl., Bd. I, S. 161). Der Öffentlichkeit zugänglich ist solches Wissen, wenn es den Kreis der dem Erfinder zur Geheimhaltung verpflichteten Personen verlässt und einem weiteren interessierten Publikum offen steht, das wegen seiner Grösse oder wegen der Beliebigkeit seiner Zusammensetzung für den Urheber der Information nicht mehr kontrollierbar ist (BGE 68 II 397, BGE 43 II 113, BGE 29 II 163; BERNHARDT/KRASSER, Lehrbuch des Patentrechts, 4. Aufl., S. 143).
Nicht erforderlich ist sodann, dass die Erfindung mit einem bestimmten Mittel, auf eine bestimmte Art und Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. In Betracht fällt vor allem die Weitergabe der technischen Lehre in schriftlicher oder mündlicher Form. Unter Umständen genügt jedoch auch ein Inverkehrbringen der Vorrichtung, die nach der Lehre der Erfindung hergestellt worden ist. Selbst ein einziger Verkauf oder ein einmaliges Vorzeigen des Gegenstandes, welcher die Information verkörpert oder enthält, kann die Offenkundigkeit herbeiführen (BLUM/PEDRAZZINI, a.a.O., Anm. 16 zu Art. 7 PatG; SINGER, Europäisches Patentübereinkommen, N. 5 zu Art. 54 EPÜ). Entscheidend
BGE 117 II 480 S. 483
ist aber in jedem Fall, ob nach der Sachlage damit gerechnet werden muss, dass eine Weiterverbreitung erfolgt (BGE 68 II 397; BERNHARDT/KRASSER, a.a.O., S. 144; BENKARD/ULLMANN, Patentgesetz, Gebrauchsmustergesetz, N. 54 und 62 zu § 3 PatG).
b) Nach Auffassung des Obergerichts ist die Erfindung der Klägerin der Öffentlichkeit durch die Lieferung des Prototyps an die Firma M. am 20. Juni 1977 zugänglich gemacht worden. Im angefochtenen Urteil wird dazu in tatsächlicher Hinsicht für das Bundesgericht verbindlich festgestellt (Art. 63 Abs. 2 OG), der Prototyp sei eigens für diese Firma hergestellt worden. Der Geschäftsführer der Herstellerin sei vom 1. Juli 1974 bis zum 31. März 1977 bei der Klägerin als Betriebsleiter tätig gewesen und habe bereits während der Dauer des Arbeitsverhältnisses mit der Konstruktion und Fertigung der Maschine begonnen, dabei Wissen und Unterlagen der Klägerin verwendet und sich der Mithilfe zweier Kollegen bedient, die bei der Klägerin als Chefkonstrukteur und Maschinenschlossermeister angestellt waren. In rechtlicher Hinsicht nimmt das Obergericht an, die Lieferung des Prototyps sei als neuheitsschädliche Benutzungshandlung zu betrachten, weil die Firma M. keiner Geheimhaltungspflicht unterstanden habe und davon auszugehen sei, dass der Prototyp die Fachleute interessiert habe, womit die Möglichkeit einer Kenntnisnahme von der Erfindung naheliege. Die Klägerin wendet dagegen ein, das wettbewerbswidrige Verhalten der L. GmbH und ihres Geschäftsführers habe auch die Firma M. zu Verschwiegenheit und Geheimhaltung veranlasst, was der Annahme entgegenstehe, die Erfindung sei durch die Benutzungshandlung offenkundig geworden.
c) Der Auffassung des Obergerichts ist indessen zuzustimmen. Die Lieferung des Prototyps stellte unstreitig eine Benutzungshandlung dar. Sie war als solche neuheitsschädlich, sofern sie geeignet war, den Gegenstand der Erfindung kundbar, das heisst einem weiteren Fachpublikum und damit der Öffentlichkeit im Sinne von Art. 7 Abs. 2 PatG und Art. 54 Abs. 2 EPÜ zugänglich zu machen. Das trifft im vorliegenden Fall zu. Sowohl das Gebrauchen - falls es über blosse Versuche hinausgeht - wie auch das Inverkehrbringen der erfindungsgemässen Konstruktion hat als Offenbarung zu gelten, wenn der Erfindungsgedanke dadurch für den Fachmann erkennbar hervortritt (BLUM/PEDRAZZINI, Anm. 18 zu Art. 7 PatG; BENKARD/ULLMANN, N. 44 und 47 zu § 3 PatG). Letzteres wird aber im angefochtenen Urteil für das Bundesgericht verbindlich festgestellt. Unter diesen Umständen ist nach der allgemeinen
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Lebenserfahrung anzunehmen, dass die interessierten Berufsleute in und um den Betrieb der Firma M. von der Erfindung Kenntnis nehmen konnten. In Frage kamen einerseits die branchenkundigen Betriebsangehörigen und andererseits die Geschäftspartner der Firma, bei denen erfahrungsgemäss ein Interesse an neuen Konstruktionen gegeben ist. Damit sind die Voraussetzungen der Offenbarung der Erfindung an einen unbestimmten Personenkreis erfüllt.
Mitteilungen des Erfinders und Benutzungshandlungen sind allerdings nach Lehre und Rechtsprechung dann nicht neuheitsschädlich, wenn der Mitteilungsempfänger an eine Geheimhaltungspflicht gebunden ist. Gibt der Geheimnisträger den Erfindungsgedanken jedoch in Verletzung seiner Pflicht weiter, so wird die Erfindung dadurch im allgemeinen offenbart. In einem solchen Fall gehört die Erfindung lediglich dann nicht zum Stand der Technik, wenn die Offenbarung im Sinne von Art. 7b PatG oder Art. 55 EPÜ als unschädlich zu beurteilen ist (BLUM/PEDRAZZINI, a.a.O., Anm. 19 zu Art. 7 PatG und Anm. 19A des Nachtrags zu Art. 7 PatG; BENKARD/ULLMANN, N. 67 zu § 3 PatG; SINGER, a.a.O., N. 6 zu Art. 54 EPÜ). Aus diesen Gründen ist unerheblich, ob nicht nur der Geschäftsführer L., sondern auch die L. GmbH gegenüber der Klägerin zur Geheimhaltung verpflichtet war. Massgebend ist vielmehr, dass die Erfindung trotz einer allenfalls bestehenden Geheimhaltungspflicht durch eine Benutzungshandlung offenbart worden ist, und zwar an eine Abnehmerin, die in keinem Vertrags- oder Geschäftsverhältnis zur Klägerin stand und daher ihr gegenüber auch nicht vertraglich oder aus anderen Gründen zur Geheimhaltung verpflichtet sein konnte. Sodann wird im angefochtenen Urteil nicht festgestellt, die Firma M. sei ihrerseits von L. persönlich oder der L. GmbH verpflichtet worden, die Stapelvorrichtung geheimzuhalten. Die gegenteilige Behauptung der Klägerin ist deshalb nicht zu hören. Zudem lässt sich aus den Feststellungen der Vorinstanz nicht ableiten, dass die Firma M. ein eigenes Interesse an der Geheimhaltung gehabt habe, wie die Klägerin geltend macht. Schliesslich findet sich auch nirgends die Feststellung, sowohl die L. GmbH wie auch die Firma M. hätten den Prototyp nur vertrauenswürdigen Interessenten zugänglich machen wollen, welche Gewähr dafür boten, dass die Klägerin nichts davon erfuhr.
Die II. Beschwerdekammer des Bundesamtes für geistiges Eigentum hat zwar die Mitteilung des Erfindungsgedankens an einen
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beschränkten Fachkreis, der dem Erfinder gegenüber nicht zur Geheimhaltung verpflichtet ist, nicht als neuheitsschädlich betrachtet (PMMBl 1977 I 88f.). Diese Auffassung steht jedoch im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Begriff der neuheitsschädlichen Offenbarung (BGE 95 II 363, BGE 94 II 322 E. IV/1 und 2). Sie ist denn auch von TROLLER kritisiert worden (a.a.O., Bd. I, S. 163 Fn. 64). Die Offenbarung der Erfindung durch Dritte ist der Öffentlichkeit vielmehr auch dann im Sinne von Art. 7 Abs. 2 PatG und Art. 54 Abs. 2 EPÜ zugänglich, wenn der Kreis der ersten Mitteilungsempfänger aus geschäftspolitischen oder anderen Gründen begrenzt gehalten wird, es sei denn, dieser Kreis sei seinerseits gegenüber dem Erfindungsberechtigten zur Geheimhaltung verpflichtet. Zu Recht ist daher das Obergericht von einer Offenkundigkeit der Erfindung vor dem massgebenden Prioritätsdatum ausgegangen.

2. Streitig ist im weitern, ob im vorliegenden Fall Art. 7b lit. a PatG oder Art. 55 Abs. 1 lit. a EPÜ anwendbar ist. Die Vorschriften stimmen insoweit überein, als sie die Offenbarung einer Erfindung als unschädlich erklären, falls diese innerhalb eines bestimmten Zeitraumes erfolgt ist und auf einen offensichtlichen Missbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seines Rechtsvorgängers zurückgeht. Während Art. 7b PatG aber die zeitliche Begrenzung auf sechs Monate vor dem Anmelde- oder Prioritätsdatum festlegt, gibt Art. 55 Abs. 1 EPÜ als massgebenden Zeitpunkt die Einreichung der europäischen Patentanmeldung an. Das Obergericht hält Art. 55 EPÜ gemäss Art. 109 Abs. 2 und 3 PatG für allein anwendbar, weil diese Vorschrift gegenüber der inhaltlich abweichenden Bestimmung von Art. 7b lit. a PatG Vorrang habe. Die Klägerin vertritt dagegen die Auffassung, es müsse entweder ausschliesslich auf Art. 7b lit. a PatG abgestellt oder Art. 55 Abs. 1 lit. a EPÜ so ausgelegt werden, dass inhaltliche Übereinstimmung zwischen den beiden Vorschriften bestehe.
a) Vorweg festzuhalten ist, dass die Nichtigkeitsgründe von Art. 138 EPÜ entgegen der Auffassung der Klägerin nicht durch die Bestimmungen des PatG eingeschränkt werden. Das ergibt sich sowohl aus Art. 109 Abs. 3 PatG wie auch aus Art. 2 Abs. 2 EPÜ, wonach die europäischen Patente dem für die Schweiz verbindlichen Staatsvertragsrecht unterstehen, soweit dieses Recht vom PatG abweicht. Bezüglich der Frage der Patentnichtigkeit besteht keine Ausnahme. Dazu kommt, dass der im vorliegenden Fall allein in Frage stehende Nichtigkeitsgrund der mangelnden Neuheit
BGE 117 II 480 S. 486
im Sinne von Art. 1 Abs. 1 und Art. 26 Abs. 1 Ziff. 1 PatG in gleicher Form auch im EPÜ vorgesehen ist (Art. 138 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 und 54 f. EPÜ). Im übrigen würden - wie bereits erwähnt - die Bestimmungen des EPÜ der Regelung des PatG vorgehen, falls der Staatsvertrag die Patentvoraussetzungen, namentlich die Neuheit der Erfindung, unterschiedlich umschrieben hätte. Das gilt umso mehr, als die Frage der Patentfähigkeit nicht nur das Nichtigkeits-, sondern auch das Erteilungsverfahren beschlägt. Dieses Verfahren untersteht jedoch nicht dem nationalen Recht. Zudem lässt nichts darauf schliessen, dass der Bundesgesetzgeber den Begriff der fehlenden Patentfähigkeit als Nichtigkeitsgrund gegenüber europäischen Patenten nicht aus dem Staatsvertrag übernehmen wollte. Das ergibt sich auch nicht aus der von der Klägerin zitierten Stelle der Botschaft des Bundesrates vom 24. März 1976 (BBl 1976 II 39). Selbst wenn der Bundesrat der Auffassung gewesen sein sollte, die nationale Regelung decke sich in jeder Hinsicht mit jener des EPÜ, verhielte es sich nicht anders, denn dieser Umstand vermöchte die Auslegung des Staatsvertrages nicht massgeblich zu beeinflussen (vgl. dazu die folgenden Ausführungen). Die entscheidende und durch Auslegung zu ermittelnde Frage ist somit, ob Art. 55 Abs. 1 EPÜ hinsichtlich des Beginns der sechsmonatigen Frist mit Art. 7b PatG übereinstimmt.
b) Die Vorschriften des EPÜ sind unmittelbar anwendbar (Art. 109 Abs. 3 PatG). Massgebend sind daher die Regeln, welche für die Auslegung von Staatsvertragsrecht gelten (BGE 113 II 362). Vorrang hat danach der Wortlaut, so wie ihn die Vertragsparteien nach dem Vertrauensprinzip im Hinblick auf den Vertragszweck verstehen durften (BGE 116 Ib 221 E. 3). Der von den beteiligten Staaten anerkannte Wortlaut bildet den nächstliegenden und zugleich wichtigsten Anhaltspunkt für den wahren gemeinsamen Vertragswillen, welcher die Auslegung beherrscht. Zu beachten ist im vorliegenden Fall, dass gemäss Art. 177 Abs. 1 EPÜ die deutsche, englische und die französische Fassung einander gleichgestellt sind. Im weitern ist die grammatikalische Auslegung jedenfalls soweit verbindlich, als die übrigen Auslegungselemente nicht eindeutig zum Schluss führen, dass der Wortlaut den Sinn der Bestimmung nicht oder nur ungenau wiedergibt. Bei der Ermittlung dieses Sinns sind namentlich Gegenstand und Zweck des Staatsvertrages zu berücksichtigen, über welche dessen Entstehungsgeschichte Aufschluss geben kann.
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Schliesslich kommt im Fall eines Staatsvertrages, der wie das EPÜ vor allem eine internationale Rechtsvereinheitlichung bewirken soll, der ausländischen Lehre und Rechtsprechung sowie den Bemühungen, diese Einheit herbeizuführen, besondere Bedeutung zu (BGE 113 II 362 E. 3).
aa) Der Wortlaut von Art. 55 Abs. 1 EPÜ ist bezüglich der hier interessierenden Frage in allen drei massgebenden Fassungen klar und unmissverständlich. Nach dem deutschen Text wird auf den Zeitpunkt der "Einreichung der europäischen Patentanmeldung" abgestellt. In der englischen Fassung ist von "the filing of the European patent application" und in der französischen von "le dépôt de la demande de brevet européen" die Rede. Ebenso eindeutig ist der Wortlaut von Art. 89 EPÜ, wonach der Prioritätstag nur für die Anwendung von Art. 54 Abs. 2 und 3 sowie Art. 60 Abs. 2 EPÜ als Tag der europäischen Patentanmeldung gilt.
Die Entstehungsgeschichte des EPÜ liefert keine Anhaltspunkte dafür, dass der Sinn der erwähnten Vorschriften nicht mit ihrem Wortlaut übereinstimmt. Soweit über Art. 55 Abs. 1 EPÜ anlässlich der Münchner diplomatischen Konferenz diskutiert worden ist, wurde keine Änderung des Inhalts angestrebt, sondern in Frage stand lediglich die Art der sprachlichen Fassung. Dabei wurde einerseits auf Hinweis der britischen Delegation mit der neuen Formulierung "nicht früher als sechs Monate vor der Einreichung" ("no earlier than six months preceding the filing", "pas plus tôt que six mois avant le dépôt de la demande") anstelle von "innerhalb von sechs Monaten vor dem Anmeldetag" klargestellt, dass eine Offenbarung in bestimmten Fällen missbräuchlicher Patentanmeldung auch dann unschädlich ist, wenn sie nach der Einreichung einer zweiten Patentanmeldung erfolgt. Andererseits wurde auf Wunsch der niederländischen Delegation präzisiert, dass unter dem ursprünglich im Absatz 1 vorgesehenen Begriff "Anmeldetag" der Tag der Einreichung der Patentanmeldung verstanden werden müsse (Berichte der Münchner diplomatischen Konferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens, S. 30; LOTH, Münchner Gemeinschaftskommentar, N. 59 zu Art. 55 EPÜ; MATHÉLY, Le droit européen des brevets d'invention, S. 119/20; ANTOINE SCHEUCHZER, Nouveauté et activité inventive en droit européen des brevets, Diss. Lausanne 1981, S. 188). Im Konferenzbericht der deutschen Delegation wird denn auch darauf hingewiesen, dass die Neuheitsschonfrist von sechs Monaten ab Einreichung der europäischen Patentanmeldung
BGE 117 II 480 S. 488
und nicht etwa vom Prioritätszeitpunkt an gelte (SINGER, Das materielle europäische Patentrecht, GRUR Int. 1974, S. 63).
bb) Aufgeworfen - aber nicht entschieden - wurde die hier streitige Auslegungsfrage in einem Entscheid einer Technischen Beschwerdekammer des europäischen Patentamtes vom 1. Juli 1985 (GRUR Int. 1988, S. 246 f.). Das Bundesamt für geistiges Eigentum nahm sodann in einer Auskunft vom 15. Dezember 1980 an, dass Art. 7b PatG von Art. 55 Abs. 1 EPÜ abweiche, weil nach dieser Vorschrift ausschliesslich der Zeitpunkt der europäischen Patentanmeldung massgebend sei (PMMBl 1981 I S. 35 f.). Im Gegensatz dazu ging die Botschaft des Bundesrates ohne Begründung davon aus, die Regelung des PatG stimme mit jener des EPÜ überein (BBl 1976 II 30, 70/71 und 74/75, ebenso BRÄNDLI, Das neue schweizerische Patentrecht, GRUR Int. 1979, S. 2).
cc) In der schweizerischen und ausländischen Lehre wird überwiegend die Auffassung vertreten, Art. 55 Abs. 1 EPÜ sei nach seinem Wortlaut auszulegen. Soweit sie dazu Stellung nehmen, sind diese Autoren zudem der Meinung, die schweizerische Regelung gehe mit dem alternativen Abstellen auf das Prioritätsdatum über jene des EPÜ hinaus (SINGER, GRUR Int. 1974, S. 63; SINGER, Europäisches Patentübereinkommen, N. 2 zu Art. 55 EPÜ; PEDRAZZINI, SMI 1980, S. 25; HAERTEL, Die Harmonisierung des nationalen Patentrechts durch das europäische Patentrecht, GRUR Int. 1983, S. 202; COMTE, Les limites de l'harmonisation européenne du droit des brevets, Festschrift 10 Jahren Europäisches Patentübereinkommen, S. 63; MATHÉLY, a.a.O., S. 119; BERNHARDT/KRASSER, a.a.O., S. 147; SCHEUCHZER, a.a.O., S. 305). Eine Auslegung entgegen dem Wortlaut schliesst dagegen CORNISH - allerdings ohne Begründung - nicht aus (Die wesentlichen Kriterien der Patentfähigkeit europäischer Erfindungen: Neuheit und erfinderische Tätigkeit, GRUR Int. 1983, S. 223 Fn. 9). Mit ausführlicher Begründung abgelehnt wird die überwiegende Lehrmeinung von LOTH (a.a.O., N. 57 ff. zu Art. 55 EPÜ).
dd) Ebenfalls für die Massgeblichkeit des Wortlautes spricht im weitern, dass wesentliche Teile des Staatsvertrages - darunter auch Art. 55 EPÜ - auf das Strassburger Übereinkommen vom 27. November 1963 zur Vereinheitlichung gewisser Begriffe des materiellen Rechts der Erfindungspatente zurückgehen (StrÜ, SR 0.232.142.1; SINGER, GRUR Int. 1974, S. 61; BERNHARDT/KRASSER,
BGE 117 II 480 S. 489
a.a.O., S. 64 und S. 147). Aus Art. 4 StrÜ, dessen Ziffer 4 inhaltlich mit Art. 55 EPÜ übereinstimmt, ergibt sich eindeutig, dass ausschliesslich auf den Zeitpunkt der Einreichung der Patentanmeldung abgestellt werden muss. In Ziffer 2 von Art. 4 StrÜ wird nämlich bei der Umschreibung, was zum Stand der Technik gehört, nicht nur der Zeitpunkt der Patentanmeldung erwähnt, sondern auch jener einer ausländischen Anmeldung, deren Priorität beansprucht wird. Zugleich werden die Bestimmungen von Ziffer 4 aber vorbehalten. Daraus muss geschlossen werden, dass die Vertragsparteien hinsichtlich der Neuheitsdefinition beide Zeitpunkte einander gleichsetzen, im Zusammenhang mit der Schonfrist die prioritätsbegründende Anmeldung dagegen unberücksichtigt lassen wollten. Diese Folgerung lässt sich denn auch auf die Entstehungsgeschichte des Übereinkommens stützen (LOTH, a.a.O., Fn. 152 bei N. 64 zu Art. 55 EPÜ).
In die gleiche Richtung deuten im übrigen die nationalen Regelungen Deutschlands, Grossbritanniens sowie Frankreichs und das entsprechende Schrifttum, in dem mehrheitlich eine Kumulierung der Fristen abgelehnt wird (LOTH, a.a.O., N. 61 zu Art. 55 EPÜ).
ee) Zu berücksichtigen ist zudem, dass aufgrund der im EPÜ verwendeten Begriffe ebenfalls kein Anlass zur Annahme besteht, Art. 55 Abs. 1 EPÜ sei ungenau formuliert worden und beruhe insoweit auf einem Redaktionsfehler, der durch Auslegung zu berichtigen sei. Das geht eindeutig aus einem Vergleich von Art. 55 Abs. 1 mit Art. 87 Abs. 1 EPÜ hervor. Während in der einen Vorschrift von der Einreichung der europäischen Patentanmeldung die Rede ist, wird in der anderen die Wendung "Einreichung der ersten Anmeldung" gebraucht. Beide Zeitpunkte werden somit auch begrifflich klar auseinandergehalten. Ebensowenig bestehen sodann Anhaltspunkte dafür, dass in Art. 89 EPÜ mit dem Verweis auf die Absätze 2 und 3 von Art. 54 EPÜ der Stand der Technik in toto, das heisst insbesondere auch für Art. 55 EPÜ habe definiert werden wollen. Dafür ist der Verweis zu präzis gehalten. Die Argumentation von LOTH (a.a.O., N. 64 zu Art. 55 EPÜ), welcher die gegenteilige Auffassung vertritt, überzeugt deshalb nicht. Sein Hinweis, in Art. 89 werde auch Art. 56 EPÜ nicht erwähnt, ist im übrigen schon darum unbehilflich, weil diese Vorschrift im Gegensatz zu Art. 55 EPÜ keine Zeitbestimmung enthält.
Überlegungen der Zweckmässigkeit mögen zwar nahelegen, Art. 55 Abs. 1 EPÜ durch Auslegung Art. 7b PatG anzugleichen
BGE 117 II 480 S. 490
(vgl. dazu LOTH, a.a.O., N. 65 zu Art. 55 EPÜ; COMTE, a.a.O., S. 63). Dieser Umstand reicht aber für sich allein nicht aus, um eine vom Wortlaut abweichende Auslegung zu rechtfertigen. Es ist allenfalls Aufgabe der Vertragsstaaten, die Übereinkunft entsprechend zu revidieren (ebenso BERNHARDT/KRASSER, a.a.O., S. 148 oben). Für die Auslegung nicht bestimmend, sondern lediglich de lege ferenda beachtenswert sind auch die Bestrebungen der Union de Paris, die nationalen Patenterlasse durch eine allgemeine Neuheitsschonfrist ab Anmelde- oder Prioritätszeitpunkt zu harmonisieren (vgl. dazu La propriété industrielle 1989, S. 68 Art. 201). Schliesslich ist ebenfalls nicht entscheidend, dass Art. 55 Abs. 1 EPÜ in der Botschaft des Bundesrates offenbar im Sinne der Klägerin ausgelegt worden ist. Allein auf das subjektive Verständnis einer Vertragspartei lässt sich eine Auslegung nicht stützen, wenn sämtliche massgebenden Auslegungselemente dagegen sprechen.
c) In Frage kommt somit allein die Anwendung von Art. 55 Abs. 1 lit. a EPÜ. Da diese Bestimmung im erörterten Sinne auszulegen ist, fällt die am 3. August 1977 erfolgte deutsche Anmeldung ausser Betracht. Massgebend ist deshalb die Anmeldung des europäischen Patentes vom 17. Juli 1978. In diesem Zeitpunkt war die am 20. Juni 1977 beginnende Sechsmonatsfrist aber abgelaufen. Damit ist die Klägerin von vornherein vom Einwand ausgeschlossen, dass die Offenbarung der Erfindung gemäss Art. 55 Abs. 1 lit. a EPÜ als unschädlich zu betrachten ist. Das führt zur Abweisung der Berufung.

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