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Urteilskopf

114 II 318


58. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 9. Juni 1988 i.S. Erens gegen Thalmann (Berufung)

Regeste

Ausserordentliche Ersitzung einer Grunddienstbarkeit (Art. 731 Abs. 3 ZGB).
Zu Lasten eines im provisorischen Grundbuch des Kantons Thurgau eingetragenen Grundstücks kann eine Dienstbarkeit seit dem 1. Januar 1912 (d.h. dem Inkrafttreten des Schweizerischen Zivilgesetzbuches) nicht mehr durch ausserordentliche Ersitzung begründet werden (Änderung der Rechtsprechung gemäss BGE 105 II 329 ff. und Rückkehr zu der in BGE 104 II 302 ff. vertretenen Auffassung).

Sachverhalt ab Seite 319

BGE 114 II 318 S. 319
Richard Erens ist seit Ende 1984 Eigentümer der Parzelle Nr. 21, Elsbeth Thalmann seit Mitte 1985 Eigentümerin der benachbarten Parzelle Nr. 20 in Güttingen (Kanton Thurgau). Früher gehörten die beiden Grundstücke zusammen. Im Zuge einer Neuparzellierung wurden die Gebäulichkeiten längs der neuen Grundstücksgrenze aufgeteilt; die gesamten Kellerräumlichkeiten kamen dabei auf das Grundstück von Elsbeth Thalmann zu liegen.
Richard Erens vertritt die Ansicht, einen Teil des Kellers aufgrund eines ersessenen Überbaurechts nutzen zu dürfen. Nachdem sich die beiden Eigentümer über diese Frage nicht hatten einigen können, reichte Richard Erens mit Eingabe vom 9. Mai 1986 beim Bezirksgericht Kreuzlingen gegen Elsbeth Thalmann Klage ein mit den Rechtsbegehren:
"1. Es sei gerichtlich festzustellen, dass dem jeweiligen Eigentümer von
Parzelle Nr. 21, ..., im Grundbuch Güttingen, an der Liegenschaft
Parzelle Nr. 20, im Grundbuch Güttingen, ein dingliches Recht auf
Überbau im Sinne von Art. 674 ZGB im folgenden Umfang zusteht:
...
Und es sei das Grundbuchamt Altnau anzuweisen, diesen Überbau
im angeführten Umfang ins Grundbuch einzutragen.
2. Eventuell sei gerichtlich festzustellen, dass dem jeweiligen
Eigentümer von Parzelle Nr. 21 im Grundbuch Güttingen zulasten der
Parzelle Nr. 20 im Grundbuch Güttingen eine Grunddienstbarkeit
BGE 114 II 318 S. 320
auf alleinige Nutzung des nordwestlichen Kellerraumes der Parzelle
Nr. 20 zusteht, einschliesslich von dessen Begehung über den
Kellerabgang aus dem Innern der Liegenschaft Parzelle Nr. 21 und über
den strassenseitigen Kellerabgang auf Parzelle Nr. 20.
Und es sei das Grundbuchamt anzuweisen, diese Grunddienstbarkeit ins
Grundbuch einzutragen."
Das Bezirksgericht Kreuzlingen und das Obergericht des Kantons Thurgau wiesen die Klage durch Urteile vom 14. Januar 1987 bzw. 14. Juli 1987 ab.
Der Kläger hat gegen den obergerichtlichen Entscheid beim Bundesgericht Berufung erhoben.
Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Ob das vom Kläger beanspruchte Überbaurecht schon vor dem Inkrafttreten des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (1. Januar 1912), d.h. gestützt auf das thurgauische Privatrecht, ersessen worden sei, hat die Vorinstanz aus prozessualen Gründen nicht näher abgeklärt. Sie weist darauf hin, dass der Kläger vor erster Instanz hierzu nichts ausreichend Substantiiertes vorgebracht habe und die Ausführungen im Berufungsverfahren den vom Novenrecht gestellten Anforderungen offensichtlich nicht genügen würden. Das Obergericht hat die Klage in Anlehnung an seine Praxis, die in BGE 104 II 302 ff. geschützt worden sei, deshalb abgewiesen, weil der für die Gemeinde Güttingen bestehenden Publizitätseinrichtung des kantonalen Rechts im Sinne von Art. 48 SchlTZGB eine Grundbuchwirkung zukomme, die Extratabularersitzungen von Dienstbarkeiten ausschliesse. In der Tatsache, dass das Bundesgericht in BGE 105 II 329 ff. seine Meinung geändert hat, sieht die Vorinstanz keinen Grund, von der erwähnten Praxis abzuweichen.

3. a) In dem von der Vorinstanz angeführten Bundesgerichtsurteil 104 II 302 ff. war es um die Frage der Ersitzung eines Fuss- und Fahrwegrechts zu Lasten eines Grundstücks gegangen, das - wie dasjenige der Beklagten - in dem mit Wirkung ab 1. Januar 1912 angelegten provisorischen Grundbuch des Kantons Thurgau eingetragen war. Das Bundesgericht wies darauf hin, dass gemäss § 132 des thurgauischen Gesetzes betreffend die Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (EGzZGB) jedes Grundstück von Amtes wegen in das - neben einem Eigentümerverzeichnis unter anderem ein Manual und Protokoll über die
BGE 114 II 318 S. 321
Dienstbarkeiten und Grundlasten umfassende - provisorische Grundbuch aufzunehmen sei und dass nach § 128 Abs. 4 EGzZGB den Eintragungen in das Manual bezüglich Entstehung, Übertragung, Änderung und Untergang der dinglichen Rechte Grundbuchwirkung zukomme. Aufgrund dieser Ausgestaltung des provisorischen Grundbuches ergebe sich, dass im Kanton Thurgau Dienstbarkeiten, für die das Bundeszivilrecht die Eintragung im Grundbuch verlange, seit dem 1. Januar 1912 nur durch den Eintrag in das provisorische Grundbuch entstehen könnten und dass die kantonale Publizitätseinrichtung somit lückenlos über diese unter der Herrschaft des Zivilgesetzbuches begründeten beschränkten dinglichen Rechte Aufschluss gebe. In diesem Umfang sei im Sinne von Art. 48 Abs. 1 und 2 SchlTZGB dem provisorischen Grundbuch des Kantons Thurgau die gleiche Wirkung zuzuerkennen, wie sie dem eidgenössischen Grundbuch zukomme. Das Bundesgericht mass der kantonalen Publizitätseinrichtung mit andern Worten die sogenannte negative Rechtskraft bei, die besagt, dass Grunddienstbarkeiten nur durch Registereintrag rechtsgültig entstehen können (vgl. TUOR/SCHNYDER, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 10. Aufl., S. 602; DESCHENAUX, Le registre foncier, in: Traité de droit privé suisse, Bd. V/II, 2, S. 7 f.; LIVER, in: ZBGR 60/1979, S. 40).
b) In seiner in ZBJV 116/1980, S. 142 ff., veröffentlichten Besprechung von BGE 104 II 302 ff. hielt LIVER fest, dass ein provisorisches Grundbuch des kantonalen Rechts wohl insofern negative Rechtskraft entfalte, als seit dem 1. Januar 1912 Dienstbarkeiten, für deren Entstehung die Eintragung vorgeschrieben sei, nur noch durch Eintrag in dieses Grundbuch begründet werden könnten; die genannte Wirkung erstrecke sich aber nicht auf altrechtliche Dienstbarkeiten und ebensowenig auf solche, die auch unter der Herrschaft des Schweizerischen Zivilgesetzbuches aussergrundbuchlich entstehen könnten; zu diesen gehörten Dienstbarkeiten, die durch Ersitzung erworben würden. An der gleichen Stelle vertrat der erwähnte Autor die Ansicht, dass einem kantonalen provisorischen Grundbuch erst dann die volle (d.h. eine ausserordentliche Ersitzung ausschliessende) negative Rechtskraft zukommen könne, wenn eine Bereinigung der altrechtlichen dinglichen Rechte durchgeführt und rechtskräftig abgeschlossen worden sei (a.a.O. S. 144 f.).
c) Im Entscheid 105 II 329 ff. (der einen Fall aus dem Kanton Freiburg betraf) schloss sich das Bundesgericht der Meinung
BGE 114 II 318 S. 322
LIVERS an. Es wies darauf hin, dass der Publizitätseinrichtung des Kantons Freiburg - wie auch derjenigen im Kanton Thurgau - nur insofern negative Rechtskraft zukomme, als für die rechtsgeschäftliche Begründung neuer Dienstbarkeiten die Eintragung Gültigkeitserfordernis sei, und dass einem kantonalen Übergangsregister keine volle Grundbuchwirkung im Sinne des Zivilgesetzbuches zukommen könne, solange keine umfassende Bereinigung der (altrechtlichen, d.h. vor 1912 begründeten) Dienstbarkeiten stattgefunden habe. Vorher könne sich ein Dritter nicht darauf verlassen, dass neben den eingetragenen nicht noch andere Dienstbarkeiten bestünden; solange dies aber nicht der Fall sei, müsse eine ausserordentliche Ersitzung einer Dienstbarkeit in gleicher Weise zugelassen werden wie die Ersitzung von Eigentum in Fällen, da aus dem Grundbuch nicht eindeutig hervorgehe, wer Eigentümer eines bestimmten Grundstücks sei (a.a.O. S. 333 f.).

4. a) Allgemein anerkannt ist, dass für die ausserordentliche Ersitzung einer Dienstbarkeit nur noch im Rahmen der Bestimmungen von Art. 731 Abs. 3 und 662 ZGB Raum bleibt (vgl. BGE 105 II 331; BGE 104 II 304 f. E. 3; LIVER, N. 120 zu Art. 731 ZGB; LIVER, in: ZBJV 116/1980, S. 143; TUOR/SCHNYDER, a.a.O. S. 705). Die ausserordentliche Ersitzung einer Dienstbarkeit ist somit von vornherein nur denkbar, wenn ein Grundstück überhaupt nicht im Grundbuch aufgenommen worden ist, wenn es zwar im Grundbuch aufgenommen ist, jedoch aus dem Eintrag keine Angaben über den Eigentümer ersichtlich sind, oder wenn schliesslich der eingetragene Eigentümer seit Beginn der Ersitzungsfrist tot oder als verschollen erklärt ist (REY, N. 218 zu Art. 731 ZGB). Umstritten ist dagegen, unter welchen Voraussetzungen in Kantonen, wo das eidgenössische Grundbuch noch nicht eingeführt ist, ein Grundstück als im erwähnten Sinne im Grundbuch aufgenommen zu gelten hat. Die Antwort hierauf hängt von der Ausgestaltung des kantonalen Übergangsregisters bzw. von den Wirkungen ab, die diesem beizumessen sind.
b) Das hier in Frage stehende Grundstück ist im provisorischen Grundbuch des Kantons Thurgau (das mit Wirkung ab 1. Januar 1912 angelegt wurde) eingetragen. Dieses umfasst unter anderem ein Manual und Protokoll über die Dienstbarkeiten und Grundlasten, in das die Rechtsgeschäfte, durch welche die genannten beschränkten dinglichen Rechte errichtet werden, einzutragen sind (§ 128 Abs. 1 lit. b EGzZGB). Soweit für die Entstehung einer Dienstbarkeit die Eintragung Gültigkeitserfordernis ist, ist die
BGE 114 II 318 S. 323
Rechtslage im Kanton Thurgau somit seit 1. Januar 1912 die gleiche, wie wenn das eidgenössische Grundbuch eingeführt wäre (in diesem Sinne auch LIVER, in: ZBJV 116/1980, S. 144 und 145; HUBER, in: ZBGR 62/1981, S. 214).
Es trifft freilich zu, dass eine Bereinigung der dinglichen Rechte, deren Entstehung in die Zeit vor Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches fiel, im Kanton Thurgau noch nicht stattgefunden hat, und es ist deshalb nicht bekannt, ob neben den eingetragenen nicht allenfalls noch - unter dem alten Recht begründete - weitere Dienstbarkeiten bestehen. Bezüglich der Rechte aus der Zeit vor 1912 hat das provisorische Grundbuch demnach sicher nicht die Grundbuchwirkung zu Gunsten gutgläubiger Dritter, von der in Art. 48 Abs. 3 SchlTZGB die Rede ist. Dieser Umstand muss jedoch entgegen der vom Bundesgericht in BGE 105 II 334 im Anschluss an LIVER vertretenen Auffassung keineswegs zwangsläufig zum Schluss führen, dem kantonalen Übergangsregister könne - ab 1912 - nicht die Wirkung zukommen, welche die ausserordentliche Ersitzung einer Dienstbarkeit nach Massgabe des Schweizerischen Zivilgesetzbuches ausschliesse.
Das Gesetz sieht vor, dass die Kantone bis zur Einführung des eidgenössischen Grundbuches einzelne Wirkungen auch den kantonalen Publizitätseinrichtungen zuerkennen können (vgl. Art. 48 SchlTZGB). Die Zielsetzung des Übergangsrechts spricht somit für das in BGE 104 II 302 ff. gefundene Ergebnis, d.h. dafür, das provisorische Grundbuch - trotz fehlender Bereinigung der altrechtlichen Verhältnisse - für die Zeit seit 1. Januar 1912 hinsichtlich der hier massgebenden Wirkung dem eidgenössischen Grundbuch gleichzustellen. Die in BGE BGE 105 II 329 ff. geäusserte Betrachtungsweise führt dazu, dass bei einem in die Zeit nach dem 1. Januar 1912 fallenden Ersitzungstatbestand die Rechtsstellung der betroffenen Grundeigentümer davon abhängt, ob das in Frage stehende Grundstück im eidgenössischen Grundbuch oder in einem kantonalen Übergangsregister mit gewissen Grundbuchwirkungen im Sinne von Art. 48 SchlTZGB eingetragen ist (dazu auch REY, N. 257 zu Art. 731 ZGB). Eine unterschiedliche Behandlung der beiden Fälle lässt sich indessen durch keine sachlichen Gründe rechtfertigen. Insbesondere sind auch nicht etwa schutzwürdige Interessen Dritter ersichtlich. Es werden die vor 1912 entstandenen beschränkten dinglichen Rechte von der negativen Rechtskraft, die einem provisorischen Grundbuch für die Zeit darnach beigemessen wird, nicht berührt: Gemäss Art. 21 SchlTZGB bleiben sie
BGE 114 II 318 S. 324
in ihrem Bestand grundsätzlich auch nach der Einführung des eidgenössischen Grundbuches und ohne Eintragung bestehen.
c) Aus dem Gesagten erhellt, dass an der in BGE 105 II 329 ff. eingeleiteten Änderung der Rechtsprechung nicht festzuhalten ist. Die Abweisung der Klage durch die Vorinstanz verstösst demnach nicht gegen Bundesrecht. Bei dieser Sachlage braucht nicht erörtert zu werden, ob die Voraussetzungen für ein Überbaurecht, wie es vom Kläger beansprucht wird, überhaupt gegeben wären.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 2 3 4

Referenzen

BGE: 105 II 329, 104 II 302, 105 II 331, 104 II 304 mehr...

Artikel: Art. 731 ZGB, Art. 731 Abs. 3 ZGB, Art. 674 ZGB, Art. 731 Abs. 3 und 662 ZGB