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Urteilskopf

117 Ia 141


25. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 27. März 1991 i.S. S. gegen Gemeinde Sils i. E. und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 22ter BV; Beschränkung des Zweitwohnungsbaus.
1. Die Regelung der Gemeinde Sils i. E., wonach Zweitwohnungen nur zulässig sind, wenn pro Parzelle mindestens 25% der Bruttogeschossfläche als Erstwohnungsanteil zur Verfügung gestellt werden und dieser Anteil mindestens 80 m2 ausmacht, liegt im öffentlichen Interesse und verletzt die Eigentumsgarantie nicht (E. 2).
2. Im vorliegenden Fall erlaubt das geringe Ausmass der Parzelle lediglich den Bau einer Erstwohnung. Es ist nicht unverhältnismässig, eine Ausnahmebewilligung für den Bau einer Zweitwohnung zu verweigern (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 142

BGE 117 Ia 141 S. 142
Auf seiner Parzelle von rund 800 m2 darf S. Wohnraum mit einer Bruttogeschossfläche von 94,43 m2 verwirklichen. Das Grundstück unterliegt nach Art. 62 des Gemeindebaugesetzes vom 17./20. Februar 1989 folgenden "Allgemeinen Nutzungsvorschriften":
"Förderung Erstwohnungsbau/Einschränkung Zweitwohnungsbau
Bei der Schaffung von neuem Wohnraum in der Dorfkernzone und den Wohnzonen ist pro Parzelle mind. 25% der Bruttogeschossfläche als sogenannter Erstwohnungsanteil zur Verfügung zu stellen; der Rest darf als Zweitwohnungsanteil beansprucht werden. Bauten, welche lediglich eine einzelne Wohnung aufweisen, sind 100%ig als Erstwohnung auszugestalten. Der Erstwohnungsanteil muss, sofern soviel Bruttogeschossfläche vorhanden ist, mindestens eine Wohnung mit einer Bruttogeschossfläche von 80 m2 ergeben:
(...)
Als Erstwohnungen gelten die der ortsansässigen Bevölkerung zur Verfügung gestellten Wohnungen, deren Zweckbestimmung grundbuchlich sichergestellt ist. Zweitwohnungen sind alle nicht zu den Erstwohnungen zählenden Wohnungen mit Ausnahme von Wohneinheiten in gastwirtschaftlich genutzten Betrieben, welche bei der Errechnung des Verhältnisses gemäss Abs. 1 ausser Betracht fallen."
S. beabsichtigt, auf dem Grundstück ein Haus mit zwei Wohnungen zu bauen. Die Bruttogeschossfläche von 94,43 m2 möchte er für eine Einzimmerwohnung von 30,57 m2 (25% der verfügbaren Bruttogeschossfläche) und eine Zweizimmerwohnung von 60,64 m2 (75% der verfügbaren Bruttogeschossfläche) verwenden. Die Einzimmerwohnung will er als Erstwohnung an den Kurverein vermieten, die Zweizimmerwohnung einstweilen als Zweitwohnung vermieten und zwei Wochen pro Jahr selbst bewohnen.
Der Gemeindevorstand von Sils i. E. wies das entsprechende Baugesuch von S. am 6. August 1990 ab, weil der Erstwohnungsanteil nicht mindestens 80 m2 der Bruttogeschossfläche betrage und deshalb Art. 62 des Gemeindebaugesetzes verletzt sei. Eine dagegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden am 25. Oktober 1990 ab.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 3. Dezember 1990 beantragt S. im wesentlichen, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
BGE 117 Ia 141 S. 143

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass die Gemeinde den Zweitwohnungsbau durch Vorschriften über minimale Erstwohnungsanteile beschränken darf. Er behauptet jedoch, es sei verfassungswidrig, dabei generell - ungeachtet der Parzellengrösse - eine Minimalgrösse von 80 m2 Bruttogeschossfläche zu verlangen.
a) Die streitige Vorschrift über die Mindestgrösse der Erstwohnungen stellt eine öffentlichrechtliche Eigentumsbeschränkung dar. Sie ist mit der Eigentumsgarantie nur vereinbar, sofern sie auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist (Art. 22ter BV; BGE 115 Ia 351). Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorhandensein der gesetzlichen Grundlage nicht. Zu prüfen ist lediglich, ob die fragliche Eigentumsbeschränkung durch ein hinreichendes öffentliches Interesse gedeckt ist, das die entgegenstehenden Privatinteressen überwiegt. Diese Frage prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei; es auferlegt sich jedoch Zurückhaltung, soweit die Beurteilung von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, welche die kantonalen Behörden besser überblicken als das Bundesgericht, und soweit sich ausgesprochene Ermessensfragen stellen, deren Beantwortung den primär für die Ortsplanung verantwortlichen Behörden überlassen bleiben muss (Art. 2 Abs. 3 RPG; BGE 115 Ia 352 E. a).
b) Mit dem fraglichen Art. 62 des Gemeindebaugesetzes soll der Erstwohnungsbau gefördert und der Zweitwohnungsbau beschränkt werden. Das Bundesgericht hat schon mehrfach festgehalten, dass solche siedlungspolitische Vorschriften grundsätzlich mit der Eigentumsgarantie (Art. 22ter BV) vereinbar sind, sofern sie im Zielbereich der verfassungsrechtlichen Raumplanungsaufgabe (Art. 22quater BV) liegen (BGE 112 Ia 66 E. 3b mit Hinweisen). Die Raumplanung soll der geordneten Besiedlung des Landes dienen (Art. 22quater Abs. 1 BV), beinhaltet somit auch Gesichtspunkte der Siedlungspolitik, was sich auch aus den gesetzlichen Zielen und Grundsätzen der Raumplanung ergibt (vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. b und c, Art. 3 Abs. 3 RPG). Insbesondere gilt es, wohnliche Siedlungen zu schaffen und zu erhalten sowie das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben in den einzelnen Landesteilen zu fördern und auf eine angemessene Dezentralisation der Besiedlung hinzuwirken (Art. 1 Abs. 2 lit. b und c RPG).
BGE 117 Ia 141 S. 144
Das Bundesgericht hat denn auch mehrmals die Verfassungsmässigkeit von Massnahmen zur Bekämpfung des Wohnungsmangels bejaht (vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 22. März 1989 i.S. Stadt Zürich, publiziert in: ZBl 90/1989 S. 456 E. b, mit zahlreichen Hinweisen). Im speziellen hat es das Bestehen eines erheblichen öffentlichen Interesses an einem Abbruch- bzw. Zweckänderungsverbot für Wohnhäuser in Basel-Stadt zur Erhaltung billiger Wohnungen bejaht (BGE 99 Ia 35 ff.) und dieses als taugliches Mittel zur Bekämpfung der Wohnungsnot anerkannt (BGE 99 Ia 40). Ebenso hat es grundsätzlich ein gewichtiges öffentliches Interesse am stadt-zürcherischen Wohnanteilplan (WAP), mit welchem minimale Wohnflächenanteile in den Wohnzonen und in der Kernzone festgelegt werden (BGE 112 Ia 270 E. 2b; BGE 111 Ia 98 E. 2b), und an der Unterstellung der Stadt Zürich unter das Gesetz über die Erhaltung von Wohnungen für Familien (WEG), welches eine Bewilligungspflicht für den Abbruch, Umbau und die Zweckänderung von Familienwohnungen unabhängig von ihrer Zonenzugehörigkeit statuiert, erblickt. Darüberhinaus hat das Bundesgericht die gleichzeitige Geltung von WEG und WAP in der Stadt Zürich als mit der Eigentumsgarantie vereinbar erklärt (Urteil des Bundesgerichts vom 22. März 1989 i.S. Stadt Zürich, in: ZBl 91/1990 S. 456, E. 5b). In weiteren Entscheiden hat es die Hauptwohnungsanteilregelung von Bever als grundsätzlich im öffentlichen Interesse liegend und zwecktauglich betrachtet (BGE 112 Ia 65 ff.) sowie dargelegt, unter welchen Voraussetzungen eine Bewilligungspflicht für die Veräusserung von Wohnungen, an welchen auf dem Genfer Wohnungsmarkt Mangel herrscht, mit der Eigentumsgarantie vereinbar ist (BGE 113 Ia 132 ff. E. 6 und 7).
c) Die Gemeinde legt dar, dass ein starkes Interesse der einheimischen Bevölkerung an Wohnraum bestehe; es gelte daher, den Erstwohnungsbau zu fördern. Da in der Gemeinde wie im ganzen Oberengadin vor allem Familienwohnungen sehr rar und sehr teuer seien, müssten diese Erstwohnungen eine Fläche aufweisen, welche Familien mit Kindern genügend Raum böten. Diese raumplanerisch-sozialpolitischen Gründe und das Interesse an einem funktionierenden Boden- und Wohnungsmarkt hat das Bundesgericht bereits als im öffentlichen Interesse liegend anerkannt (BGE 112 Ia 71). Vor allem darf sich eine Gemeinde bemühen, über den grössten Teil des Jahres hinweg leerstehende Häuser und Quartiere sowie den Bau von überproportionierten, häufig unterbeanspruchten Infrastrukturanlagen zu vermeiden (vgl. BLAISE KNAPP,
BGE 117 Ia 141 S. 145
La limitation des résidences secondaires, in: Repertorio di giurisprudenza patria 118/1985, S. 1 ff.). Die Förderung des Erstwohnungsanteils muss sich zudem nicht mit der Forderung begnügen, bei jedem Neubau sei eine Erstwohnung einzurichten. Vielmehr kann es im öffentlichen Interesse liegen, bei Wohnungen gewisse Qualitätsanforderungen wie beispielsweise Mindestgrössen zu stellen (vgl. BGE 103 Ia 421). So hat das Bundesgericht eine kommunale Vorschrift, welche eine Minimalfläche von 85 m2 für Erstwohnungen vorschrieb, als verfassungsmässig erklärt, insbesondere auch, weil sie den Bau von Zweitwohnungen nicht generell verunmöglichte, sondern nur beschränkte (Urteil des Bundesgerichts vom 23. Dezember 1983 i.S. Erlenbach E. 3b, publiziert in: BVR 1984 S. 134).
d) Der Beschwerdeführer möchte auf seiner Parzelle von rund 800 m2 zwei Wohnungen bauen, wofür ihm aber bloss eine Bruttogeschossfläche von gut 90 m2 zur Verfügung steht. Die kritisierte Vorschrift bewirkt, dass er an die Erstwohnung 80 m2 statt der beabsichtigten gut 30 m2 abgeben muss und ihm für die Zweitwohnung statt gut 60 m2 nur noch gut 14 m2 verbleiben. Dadurch wird im geplanten Gebäude der Erstwohnungsanteil von gesetzlich mindestens 25% auf rund 85% der Bruttogeschossfläche vergrössert. Die praktische Folge der streitigen Bestimmung ist, dass - nach der Berechnung des Beschwerdeführers - für die Zweitwohnung unter Berücksichtigung von Dusche, WC, Lavabo, Küchenmöbeln, Innen- und Aussenwandgrundflächen sowie Windfang nur noch knapp 4 m2 Nettowohnfläche verbleiben. Im Ergebnis bedeutet das, dass der Beschwerdeführer bloss eine einzige Wohnung von gut 90 m2 erstellen darf und kann, die zudem als Erstwohnung dienen muss.
e) Das private Interesse des Beschwerdeführers, auf seiner Parzelle zwei Wohnungen bauen zu können, vermag gegen die in Frage stehenden öffentlichen Interessen an der streitigen Regelung nicht aufzukommen. Zu Recht stellt der Beschwerdeführer selbst nicht grundsätzlich in Frage, dass Dörfer wie die Gemeinde Sils i. E. auf Familien mit Kindern angewiesen sind, um lebensfähig bleiben zu können. Unzutreffend ist sein Einwand, aufgrund der fraglichen Vorschrift müssten in der Gemeinde nun alle Wohnungen mindestens 80 m2 gross sein; die Regelung ist erst vor kurzem in Kraft getreten und kann lediglich der Korrektur des Angebots für die Zukunft dienen. In dem Masse, als die Anzahl der gewünschten Wohnungen zunehmen sollte, werden diese wohl
BGE 117 Ia 141 S. 146
auch billiger. Keinesfall begründet ist es, von unrationeller Nutzung zu sprechen, wenn Raum für Familien angeboten wird. Die Pflicht, einen bestimmten Anteil der Bruttogeschossfläche als Erstwohnung mit einer gesetzlich fixierten Minimalfläche zur Verfügung zu stellen, wirkt für einen Bauherrn gleich wie andere bau- und planungsrechtliche Vorschriften. Auch die gesetzliche Begrenzung auf eine bestimmte Anzahl von Stockwerken oder die Pflicht zur Erstellung von Parkplätzen, Erschliessungsstrassen, Kinderspielplätzen oder Gemeinschafts- und Zivilschutzräumen beschränkt den Bauherrn in seiner Baufreiheit. Will er bauen, hat er sich daran zu halten. Kann oder will er dies nicht tun, darf die Baubehörde die von ihm beabsichtigte Baute nicht bewilligen. Dass der Beschwerdeführer faktisch lediglich eine einzige Wohnung bauen kann und diese als Erstwohnung genutzt werden muss, hat er in Kauf zu nehmen. Sein Interesse, jährlich zwei Wochen Ferien in einer Zweitwohnung verbringen zu können, ist klein; zudem erwog er ohnehin, allenfalls auch die Zweitwohnung als Erstwohnung zu vermieten. Es ist dem Beschwerdeführer ferner nicht verwehrt, die einzige, zulässige Wohnung zur Zeit - nach seinen Angaben für sechs Jahre - zu vermieten und sie dannzumal, wenn er nach Sils i. E. umziehen will, selber als Erstwohnung zu beziehen. Die Beschwerde erweist sich demnach insoweit als unbegründet.

4. Nach bündnerischem Recht darf eine Gemeinde, wenn die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen eine unverhältnismässige Härte bedeutet, Ausnahmen von einzelnen Vorschriften gewähren, wenn dadurch keine öffentlichen Interessen verletzt werden (Art. 9 Abs. 1 des Raumplanungsgesetzes für den Kanton Graubünden vom 20. Mai 1973; Art. 4 BauG). Der Beschwerdeführer beansprucht eine derartige Ausnahme mit der Begründung, die ihm verbleibende Nettofläche von 3,82 m2 sei zu klein für eine Kleinwohnung. Die Verweigerung einer Ausnahmebewilligung missachte das Verhältnismässigkeitsprinzip in grober Weise.
Eine Ausnahmebewilligung, wie sie der Beschwerdeführer verlangt, bezweckt, im Einzelfall Härten und offensichtliche Unzweckmässigkeiten, d.h. offensichtlich ungewollte Wirkungen zu beseitigen, die mit dem Erlass der Regel nicht beabsichtigt waren. Sie darf dagegen nicht eingesetzt werden, um generelle Gründe zu berücksichtigen, die sich praktisch immer anführen liessen, weil auf diesem Wege das Gesetz selber abgeändert würde (BGE 107 Ia 216; vgl. BGE 112 Ib 53 E. 5). Diesen Weg aber beschritte die
BGE 117 Ia 141 S. 147
Baubehörde, wenn sie im vorliegenden Fall eine Härte anerkennen würde. Sie öffnete Tür und Tor, um Parzellen im erwähnten Sinne zu unterteilen und damit die Minimalvorschrift zu unterlaufen. Zudem ergibt sich aus Art. 62 des Gemeindebaugesetzes selber, dass die Grundeigentümer in Kauf nehmen müssen, wegen der Vorschrift nur eine einzige Wohnung bauen zu dürfen. Von einer Härtesituation kann im vorliegenden Fall somit keine Rede sein.

Inhalt

Ganzes Dokument:
Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 2 4

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