Urteilskopf
110 Ib 38
7. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. Februar 1984 i.S. Besmer und Mitbet. gegen Präsident der Eidg. Schätzungskommission, Kreis 9 (aufsichtsrechtliches Verfahren)
Regeste
Art. 48 EntG, Art. 24 und 27 Verordnung für die eidg. Schätzungskommissionen (VESchK); Durchführung der Einigungsverhandlung.
Zweck der Einigungsverhandlung ist der Einigungsversuch, nicht die Instruktion der Einsprachen oder der Entschädigungsbegehren (E. 2a, 3a).
Dass jeder Enteignete an den Einigungsverhandlungen jeder Gruppe teilnehmen kann, bedeutet nicht, dass der einzelne berechtigt sei, auch in den Fällen, in denen er nicht Partei ist, das Wort zu ergreifen (E. 2a).
Ob und welche Erhebungen im Sinne von Art. 27 VESchK zu treffen seien, steht weitgehend im Ermessen des Schätzungskommissions-Präsidenten (E. 3b).
Im Enteignungsverfahren für den Waffenplatz Rothenthurm haben insgesamt 163 Enteignete und weitere Interessierte (im folgenden kurz "Enteignete" genannt) Einsprachen und Forderungen im Sinne von Art. 35 und 36 des Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG) erhoben. Der Präsident der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 9, teilte die Enteigneten in elf Gruppen auf und lud sie zur Einigungsverhandlung auf sechs verschiedene Daten vor, und zwar mit Besammlungsort Hof Nesseli (Gruppe I), vor der Gemeindekanzlei Oberägeri (Gruppen II-IV) bzw. vor der Gemeindekanzlei Rothenthurm (Gruppen V-X). Hierauf wandte sich die Aktiengesellschaft für Rechtsschutz in Enteignungssachen an den Präsidenten der Schätzungskommission und verlangte, dass die Einigungsverhandlungen im Sinne von Art. 27 der Verordnung für die eidgenössischen Schätzungskommissionen (VESchK) ausgesetzt und zunächst die nötigen Erhebungen getroffen, insbesondere weitere Pläne sowie Gutachten beschafft würden; erst anschliessend sei die Einigungsverhandlung in zwei Phasen durchzuführen, deren erste einer Gesamtbesprechung und die zweite den Gruppen- bzw. Einzelgesprächen dienen solle. Der Präsident teilte der Aktiengesellschaft für Rechtsschutz in Enteignungssachen mit, der Enteigner sei angewiesen worden, sämtliche Unterlagen, soweit vorhanden und Dritten zugänglich, an die Einigungsverhandlung mitzubringen. Im übrigen werde an den Verhandlungen festgehalten; sollte der vorgesehene Zeitplan für die Behandlung der einzelnen Fälle nicht ausreichen, so bestünde die Möglichkeit, nach Bedarf weitere Einigungsverhandlungen anzusetzen.
Adolf Besmer und 15 weitere Enteignete haben, vertreten durch die Aktiengesellschaft für Rechtsschutz in Enteignungssachen, gegen den Präsidenten der Schätzungskommission Aufsichtsbeschwerde eingereicht. Das Bundesgericht hat dieser keine Folge gegeben in
Erwägung:
1. Die Geschäftsführung der Schätzungskommission und ihres Präsidenten steht unter der Aufsicht des Bundesgerichtes
BGE 110 Ib 38 S. 40
(
Art. 63 EntG). Die Aufsichtsbehörde ist indessen nach Lehre und Rechtsprechung zur Aufhebung einer Verfügung oder Anordnung kraft Aufsichtsrecht allgemein nur befugt, wenn klares Recht, wesentliche Verfahrensvorschriften oder öffentliche Interessen offensichtlich missachtet worden sind (
BGE 97 I 10,
BGE 100 Ib 98, mit Hinweisen; für Enteignungen vgl.
BGE 104 Ib 343, nicht publ. Entscheid i.S. Besmer vom 3. Juni 1983, E. 2b).
Zu einem aufsichtsrechtlichen Einschreiten hat das Bundesgericht entgegen der Meinung der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall keinen Anlass.
2. Die Beschwerdeführer bringen vor, schon durch die Modalitäten der vom Schätzungskommissions-Präsidenten erlassenen Vorladungen werde der in
Art. 48 EntG umschriebene Zweck der Einigungsverhandlung zum voraus vereitelt. Diese Rüge erweist sich als haltlos.
a) Zunächst ist festzuhalten, dass der Präsident bei der Vorladung der Haupt- und Nebenparteien den Bestimmungen von
Art. 45 und 47 EntG in vollem Umfang nachgekommen ist; als zweckmässig erscheint insbesondere, dass angesichts der grossen Zahl von Einsprechern - die die Zahl jener, die Land abzutreten haben, um ein Vielfaches übersteigt - verschiedene Gruppen gebildet worden sind (vgl.
Art. 45 Abs. 2 EntG). Die Einheitlichkeit der Verhandlung wird dadurch nicht in Frage gestellt, ist doch - wie in der Vorladung ausdrücklich erwähnt wird - jeder Enteignete berechtigt, an den Einigungsverhandlungen sämtlicher Gruppen teilzunehmen (Art. 24 Abs. 2 VESchK). Klarzustellen ist in diesem Zusammenhang, dass durch die Zulassung aller Enteigneter eine gewisse Öffentlichkeit der Einigungsverhandlung gewahrt und den Befürchtungen, einzelne würden bevorzugt, entgegengetreten werden soll (Hess, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 11 zu
Art. 45 EntG). Die Möglichkeit der Teilnahme berechtigt indessen den einzelnen nicht, auch in den Fällen, in denen er nicht Partei ist, das Wort zu ergreifen. (Der französische und der italienische Gesetzestext, die von "assister" bzw. "assistere" sprechen, sind in diesem Punkte präziser.) Die Anhörung jedes Einsprechers in jedem Falle würde das Verfahren nur unnütz erschweren und verzögern. Dass der Kreis der Einspracheberechtigten heute, nach der Revision der Legitimationsbestimmungen, grösser ist als jener der Enteigneten (vgl.
BGE 108 Ib 245), ist kein Grund, um vom ursprünglichen Zweck der Einigungsverhandlungen, sich über die Abtretung der für das Werk beanspruchten Rechte gütlich zu
BGE 110 Ib 38 S. 41
einigen, abzuweichen. Eine Ausdehnung der Verhandlung über den Rahmen eines Einigungsversuches hinaus würde übrigens dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers widersprechen, der mit der Novelle vom 18. März 1971 (in Kraft seit 1. August 1972) eine Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens anstrebte. In diesem Sinne ist die Verpflichtung des Präsidenten, eine zweite Einigungsverhandlung durchzuführen, wenn Enteignete zur ersten nicht erschienen sind, bei der Neufassung des
Art. 45 Abs. 3 EntG fallengelassen worden (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 20. Mai 1970, BBl 1970 S. 1013). Auch HESS hebt zu Recht hervor, dass sich das Einigungsverfahren in vernünftigen Grenzen halten muss und das Enteignungsverfahren nicht über Gebühr verlängern darf (a.a.O., Vorbemerkungen zu Abschnitt IV/Art. 45). Übrigens fällt, wie erwähnt, die Einigungsverhandlung in der Regel dahin, wenn die Enteigneten ausbleiben (
Art. 45 Abs. 2 EntG, Art. 25 Abs. 1 VESchK), und sie ist als gescheitert zu betrachten, wenn der Enteigner auf die zweite Vorladung nicht erscheint (Art. 25 Abs. 2 VESchK); auch das ein Hinweis auf die beschränkte Bedeutung dieses Verfahrens.
b) Der Entscheid des Schätzungskommissions-Präsidenten, die Gruppen auf dem Hof Nesseli bzw. vor den Gemeindekanzleien Rothenthurm und Oberägeri zu besammeln, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Nach Art. 45 Abs. 2 EntG hat die Verhandlung in der Regel an Ort und Stelle stattzufinden, was es - sofern nötig - erlaubt, sie mit einem Augenschein zu verbinden (HESS, a.a.O., N. 12 zu Art. 45 EntG). Im weiteren räumen die Beschwerdeführer selbst ein, der Präsident habe ihnen erklärt, nach der Besammlung könne ein geeignetes Lokal bezogen werden, falls auf Augenscheine verzichtet werde.
Es ist daher nicht einzusehen, inwiefern die Vorladungen des Präsidenten den gesetzlichen Vorschriften zuwiderliefen oder für die Enteigneten zu Unzulänglichkeiten führen müssten; dies gilt auch für den Zeitplan, auf den noch zurückzukommen sein wird (E. 3 lit. c). Dass der Präsident offenbar entschlossen ist, alle Vorkehren zu treffen, um einen geordneten und reibungslosen Ablauf der Verhandlungen zu gewährleisten, kann ihm sicher nicht zum Vorwurf gereichen.
3. Die Beschwerdeführer werfen dem Präsidenten weiter vor, er habe es unterlassen, die notwendigen Abklärungen zu treffen und danach den Enteigneten die Akten zur Einsichtnahme zuzustellen; dadurch sei gegen
Art. 48 EntG und insbesondere gegen
BGE 110 Ib 38 S. 42
Art. 27 VESchK verstossen worden, nach welchem die "nötigen Erhebungen soweit möglich schon vor der Einigungsverhandlung" angeordnet werden müssten. Ausserdem sei die Zeit, die für die Verhandlungen mit den einzelnen Einsprechern nach Zeitplan zur Verfügung stehe, zu kurz. - Auch diese Vorwürfe sind unbegründet.
a) Die Beschwerdeführer messen der Einigungsverhandlung eine Bedeutung zu, die ihr nach dem ganzen Verfahrensaufbau des Gesetzes offensichtlich nicht zukommen kann. Die Einigungsverhandlung dient wohl - immer mit dem Ziel einer gütlichen Verständigung - der "Abklärung streitiger oder zweifelhafter Punkte" (
Art. 48 EntG), worunter in erster Linie die Erläuterung unklarer Begehren zu verstehen ist (HESS, a.a.O., N. 2 zu
Art. 48 EntG), doch kann sie keineswegs die Instruktion ersetzen, die dem Entscheid über die Einsprachen vorausgehen muss und dem zuständigen Departement obliegt, noch hat sie an die Stelle der Abklärungen zu treten, die dem Schätzungsverfahren vorbehalten sind. Wenn die Beschwerdeführer verlangen, die Einigungsverhandlung müsse als eigentliche Instruktionsverhandlung mit einlässlicher Besprechung der eingereichten Einsprachen ausgestaltet werden, so entgeht ihnen offenbar, dass dem Schätzungskommissions-Präsidenten in diesem Bereich keine Entscheidungsgewalt zusteht; ist eine Einigung nicht möglich, so beschränkt sich seine Aufgabe darauf, die Einsprachen und Begehren nach
Art. 7-10 EntG, allenfalls mit seinem Gutachten (
BGE 99 Ib 112), dem Departement zu übermitteln. Erweisen sich grössere Abklärungen als sofort notwendig, so ist gegebenenfalls die Einigungsverhandlung auszusetzen (Art. 27 VESchK). Die Verhandlung selbst soll sich auf ihren eigentlichen Zweck, den Einigungsversuch, beschränken und darf nicht zu einer Verfahrensverschleppung führen, was - wie bereits ausgeführt - dem Grundgedanken der Gesetzesrevision vom Jahre 1971 zuwiderlaufen würde (vgl. BBl 1970 S. 1010, 1013 Ziff. 2.2). In diesem Sinne hat denn auch das Bundesgericht in seinem Zirkularschreiben den Präsidenten der Schätzungskommissionen empfohlen, von der ihnen nach
Art. 51 EntG zustehenden Möglichkeit, die Einigungsverhandlung bis zur Erledigung der Einsprache auszusetzen, äusserst zurückhaltend Gebrauch zu machen (
BGE 101 Ib 173).
b) Beim Entscheid darüber, ob und welche Erhebungen im Sinne von Art. 27 VESchK anzuordnen seien, steht dem Präsidenten der Schätzungskommission - wie bei der Beweiserhebung
BGE 110 Ib 38 S. 43
allgemein - ein breiter Spielraum des Ermessens zu. Ein Einschreiten der Aufsichtsbehörde rechtfertigte sich nur dann, wenn dieses Ermessen offensichtlich missbraucht worden wäre. Von Ermessensüberschreitung kann indessen keine Rede sein, wenn der Präsident nicht zu den von den Enteigneten verlangten Erhebungen geschritten ist, die ihrer Art und dem Umfang nach über das Ziel der Einigungsverhandlung hinausschiessen.
c) Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass der für die Verhandlungen aufgestellte Zeitplan zu Unrecht beanstandet wird, zumal noch die Möglichkeit der Wiederaufnahme der Einigungsverhandlung besteht.
d) Schliesslich ist auch der Vorwurf, die Einigungsverhandlung werde zu einer formellen Farce degradiert, als haltlos zurückzuweisen. Die vom Präsidenten getroffenen Anordnungen geben keinen Anlass zu solcher Befürchtung, und die von ihm erarbeiteten Zusammenstellungen, die der Aufsichtsbehörde zur Kenntnis gebracht worden sind, zeugen von einer seriösen Vorbereitung der Verhandlungen.
Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich, die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens den Beschwerdeführern aufzuerlegen.