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Urteilskopf

117 IV 170


34. Urteil des Kassationshofes vom 28. Juni 1991 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

1. Art. 252 StGB und Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG; Verhältnis.
Wer ausschliesslich aus fremdenpolizeilichen Motiven ein falsches fremdenpolizeiliches Ausweispapier herstellt oder wissentlich gebraucht, ist einzig nach Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG und nicht (auch) gemäss Art. 252 StGB zu bestrafen; Art. 252 StGB ist nur dann anwendbar, wenn der Täter eine Verwendung des Ausweispapiers im nicht-fremdenpolizeilichen Bereich zumindest in Kauf genommen hat (E. 1 und 2).
2. Aussergesetzlicher Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen.
Wahrung berechtigter Interessen bejaht in einem Fall, in dem ein Staatenloser ohne Schriften unter Vorweisung eines gefälschten ausländischen Passes in die Schweiz einreiste, um hier die Eheschliessung mit einer Schweizerin, der Mutter seiner im Zeitpunkt der Einreise anderthalbjährigen Tochter, vorzubereiten, nachdem verschiedene Anstrengungen, die Bewilligung für die Einreise bzw. die erforderlichen Papiere zu erhalten, erfolglos geblieben waren, bis zur Erreichung dieses Ziels jedenfalls noch einige Zeit verstrichen wäre und dem Täter die Lage hoffnungslos schien (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 171

BGE 117 IV 170 S. 171

A.- Am 9. Februar 1989 reiste B., ein Schriftenloser südafrikanischer Herkunft, mit dem Zug von Österreich herkommend bei Buchs/SG in die Schweiz ein. Er wies sich gegenüber den schweizerischen Zollbeamten mangels gültiger Ausweisschriften und in Kenntnis des Umstandes, dass eine Einreise ohne entsprechende Dokumente erheblich erschwert oder verunmöglicht sein könnte, mit einem von ihm zuvor in Athen gekauften gefälschten, auf seinen Namen lautenden uruguayanischen Reisepass aus. Kurz nach dem Grenzübertritt warf er den Pass im Zug zwischen Buchs und Zürich in die Toilette. Mit Schreiben vom 21. Februar 1989 an die Fremdenpolizei des Kantons Zürich reichte die Rechtsanwältin von B. für diesen ein Gesuch um Aufenthaltsbewilligung für schriftenlose Ausländer bzw. um vorläufige Aufnahme in der Schweiz ein. Sie hatte sich schon zuvor mit verschiedenen Amtsstellen zwecks Klärung des Problems in Verbindung gesetzt. B. wollte die schweizerische Staatsangehörige H., die Mutter seiner am 25. August 1987 geborenen Tochter, heiraten.

B.- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichts Zürich sprach B. am 21. Juli 1989 von der Anschuldigung der
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Fälschung von Ausweisen (Art. 252 StGB) und der Widerhandlung im Sinne von Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG frei. Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich sprach B. in Gutheissung der Berufung der Staatsanwaltschaft am 23. Februar 1990 der Fälschung von Ausweisen im Sinne von Art. 252 Ziff. 1 Abs. 2 StGB und des Vergehens im Sinne von Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG schuldig und bestrafte ihn mit 7 Tagen Gefängnis, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von 2 Jahren.

C.- Der Verurteilte führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, der Entscheid des Zürcher Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen, eventuell sei die Sache zu seiner Schuldigsprechung wegen Widerhandlung im Sinne von Art. 23 Abs. 1 al. 1 und 4 ANAG und zu seiner Bestrafung mit einer Busse im Sinne von Art. 23 Abs. 1 al. 6 letzter Halbsatz ANAG an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Gemäss Art. 252 Ziff. 1 Abs. 2 StGB wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer in der Absicht, sich oder einem andern das Fortkommen zu erleichtern, von einem Dritten gefälschte oder verfälschte Ausweisschriften usw. zur Täuschung gebraucht. Nach Art. 23 Abs. 1 ANAG wird mit Gefängnis bis zu 6 Monaten bestraft, wer falsche fremdenpolizeiliche Ausweispapiere herstellt oder echte verfälscht, und wer solche wissentlich gebraucht oder verschafft (al. 1), sowie wer rechtswidrig das Land betritt oder darin verweilt (al. 4).
Die Vorinstanz vertritt unter Berufung auf BGE 99 IV 125 und auf einen Entscheid des Zürcher Obergerichts (ZR 63 Nr. 17) die Auffassung, dass Art. 252 StGB dem Art. 23 ANAG vorgehe, "sofern der Täter ausser fremdenpolizeilichen Motiven auch die Absicht hat, sich das Fortkommen zu erleichtern". Sie hält unter Hinweis auf bundesgerichtliche Entscheide fest, unter Erleichterung des Fortkommens im Sinne von Art. 252 StGB sei jede Verbesserung der persönlichen Lage zu verstehen (BGE 98 IV 59); dazu gehöre insbesondere auch die Ermöglichung oder Erleichterung des Grenzübertritts (BGE 81 IV 34). Sie führt weiter aus, dass das in Art. 252 StGB enthaltene Tatbestandselement der Erleichterung
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des Fortkommens in Art. 23 Abs. 1 ANAG völlig fehle; daher könne sich die Frage, ob Art. 23 Abs. 1 ANAG gegenüber Art. 252 StGB "eine Spezialnorm mit Vorrang" sei, gar nicht stellen; denn von einer Spezialnorm könne nur dann die Rede sein, wenn sie auch sämtliche Elemente der Generalnorm enthalte.
Der Beschwerdeführer anerkennt, dass er den Tatbestand von Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG erfüllte, indem er ohne gültigen Ausweis die Schweiz betrat und darin verweilte. Er macht geltend, er könne wegen des Gebrauchs des in Athen gekauften gefälschten uruguayanischen Passes beim Grenzübertritt aber nicht gemäss Art. 252 Ziff. 1 Abs. 2 StGB, sondern nur nach Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG verurteilt werden. Zur Begründung führt er aus, Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG habe als Spezialnorm Vorrang vor dem allgemeineren Art. 252 StGB, wenn der gefälschte Ausweis, wie dies vorliegend der Fall sei, einzig und allein aus fremdenpolizeilichen Motiven, nämlich zur Ermöglichung bzw. Erleichterung des Grenzübertritts verwendet worden sei. Wollte man den Täter, der zum rechtswidrigen Betreten der Schweiz gefälschte Ausweispapiere verwendet, nach Art. 252 StGB bestrafen, dann würde sich die Spezialnorm von Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG erübrigen. Der Gesetzgeber habe indessen auf eine Streichung der Tatbestandsvariante des Gebrauchs gefälschter fremdenpolizeilicher Ausweispapiere nach dem Inkrafttreten des StGB verzichtet, obschon er dazu anlässlich der zahlreichen Revisionen des ANAG oft genug Gelegenheit gehabt hätte. Nach den weiteren Ausführungen in der Beschwerde ist für die Abgrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 252 StGB und von Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG, gleich wie für das Verhältnis etwa zwischen Art. 251 StGB und dem Fiskalstrafrecht, entscheidend, mit welcher Absicht der Beschwerdeführer gehandelt hat.

2. a) Der Kassationshof hat sich schon verschiedentlich mit den Fragen des Verhältnisses zwischen den Strafbestimmungen des StGB einerseits und nebenstrafrechtlichen Spezialnormen anderseits befasst, so etwa in den Bereichen des Urkundenstrafrechts (BGE 108 IV 31 /32, 180; BGE 117 IV 182 E. 1 und des Betrugs (BGE 110 IV 24 ff., BGE 112 IV 19 ff.; BGE 117 IV 156 E. 5). Er hat in BGE 108 IV 27 ff. in Änderung seiner früheren Rechtsprechung erkannt, dass derjenige, welcher mit einem Urkundenfälschungsdelikt ausschliesslich Steuervorschriften umgehen will und eine - objektiv mögliche - Verwendung des Dokuments im nicht-fiskalischen Bereich auch nicht in Kauf nimmt, nur nach dem Steuerstrafrecht
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zu verurteilen sei. Weder die objektive Möglichkeit der Verwendung der zwecks Steuerhinterziehung gefälschten Urkunde im nicht-fiskalischen Bereich (vgl. dazu BGE 103 IV 36 ff.), noch das Wissen des Täters um diese objektive Möglichkeit (so BGE 106 IV 38 ff.) reichen nach dem zitierten Entscheid für die Anwendung von Art. 251 StGB aus; Art. 251 StGB ist nur dann neben den in Betracht fallenden Bestimmungen des Steuerstrafrechts anwendbar, wenn der Täter eine Verwendung der Urkunde im nicht-fiskalischen Bereich beabsichtigt oder zumindest in Kauf nimmt. Der Kassationshof hat im Urteil vom 7. Juni 1991 (BGE BGE 117 IV 182 E. 1) entschieden, dass diese zu Art. 251 StGB entwickelten Kriterien grundsätzlich auch für die Erschleichung einer falschen Beurkundung in Sinne von Art. 253 StGB Gültigkeit haben.
b) Diese Grundsätze betreffend die Abgrenzung der Anwendungsbereiche von Art. 251 und 253 StGB einerseits und nebenstrafrechtlichen Spezialnormen anderseits müssen entsprechend auch für das Verhältnis zwischen Art. 252 StGB und Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG gelten. Die Fälschung oder Verfälschung eines fremdenpolizeilichen Ausweispapiers ist demzufolge einzig gemäss Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG und nicht (auch) gemäss Art. 252 Ziff. 1 StGB zu bestrafen, wenn der Täter ausschliesslich aus fremdenpolizeilichen Motiven gehandelt und eine Verwendung des gefälschten Ausweises im nicht-fremdenpolizeilichen Bereich nicht zumindest in Kauf genommen hat. Ob der Fälscher oder Verfälscher, der eine anderweitige Verwendung des fremdenpolizeilichen Ausweispapiers in Kauf genommen hat, nach Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG und nach Art. 252 Ziff. 1 StGB (in Idealkonkurrenz) oder aber einzig nach Art. 252 StGB zu bestrafen sei, kann hier dahingestellt bleiben. Der Gebrauch eines gefälschten fremdenpolizeilichen Ausweispapiers ausschliesslich zu fremdenpolizeilichen Zwecken ist einzig nach Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG und nicht (auch) nach Art. 252 StGB strafbar. Die Frage, ob der Täter, der den Ausweis nicht selber auch gefälscht oder verfälscht hat, im Zeitpunkt des ausschliesslich fremdenpolizeilich motivierten Gebrauchs des Dokuments dessen anderweitige Verwendung in der Zukunft zumindest in Kauf genommen habe, stellt sich nicht, da ja nur der tatsächliche Gebrauch des Dokuments als solcher und nicht schon der Besitz des Ausweises zum späteren Gebrauch nach Art. 23 Abs. 1 ANAG bzw. nach Art. 252 StGB strafbar sein kann.
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Wohl ist nach den insoweit zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil die Ermöglichung bzw. Erleichterung des rechtswidrigen Grenzübertritts unter Verwendung eines gefälschten fremdenpolizeilichen Ausweispapiers als Erleichterung des Fortkommens im Sinne von Art. 252 StGB zu qualifizieren (vgl. auch BGE 81 IV 34); das bedeutet aber nicht ohne weiteres, dass der Täter nach Art. 252 StGB zu bestrafen sei, sondern es bedeutet nur, dass sich eben die Konkurrenzfrage stellt. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG im Unterschied zu Art. 252 StGB nicht ausdrücklich eine bestimmte Absicht des Täters voraussetzt, und ist Art. 252 StGB nach seinem Wortlaut somit insoweit enger als Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG. Das ist indessen entgegen den Andeutungen im angefochtenen Urteil nicht entscheidend. Jedes vorsätzliche menschliche Verhalten ist nach der allgemeinen Lebenserfahrung zweckgerichtet. Das gilt insbesondere auch für den vorsätzlichen Gebrauch eines falschen fremdenpolizeilichen Ausweispapiers; eine solche Tat kann gar nicht absichtslos verübt werden. Die in Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG implizite vorausgesetzte Absicht der Umgehung fremdenpolizeilicher Vorschriften ist enger als die in Art. 252 StGB vorausgesetzte Absicht der Erleichterung des Fortkommens. Wenn der Täter einen von einem Dritten gefälschten oder verfälschten ausländischen Pass, der unstreitig ein fremdenpolizeiliches Ausweispapier ist (vgl. BGE 99 IV 125 E. 2), ausschliesslich aus fremdenpolizeilichen Motiven, also nicht zugleich auch zu andern Zwecken gebraucht, dann kann er nur gemäss Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG, der das ganze Unrecht dieser Tat erfasst, bestraft werden. Ob diese sich aus der gesetzlichen Regelung ergebende Privilegierung des ausschliesslich aus fremdenpolizeilichen Motiven handelnden Täters (Höchststrafe 6 Monate statt 3 Jahre Gefängnis) sachlich gerechtfertigt sei, hat der Richter nicht zu beurteilen. Vielmehr muss er Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG, der insoweit lex specialis gegenüber Art. 252 StGB ist, anwenden, solange diese Vorschrift besteht, zumal Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG für den Täter günstiger als Art. 252 StGB ist. Zwar ist das StGB und damit dessen Art. 252 nach dem ANAG in Kraft getreten (vgl. dazu BGE 99 IV 126). Dennoch kann Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG insoweit, als er sich mit Art. 252 StGB deckt, entgegen der Meinung einzelner Autoren (HAFTER, Strafrecht Besonderer Teil, S. 608, LOGOZ, Commentaire, art. 252 CP, note 2) nicht als aufgehoben gelten. Denn der Gesetzgeber hat anlässlich der Teilrevision des ANAG durch
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Bundesgesetz vom 8. Oktober 1948, in Kraft seit 21. März 1949, die auch Art. 23 ANAG berührte, die schon im Gesetz vom 26. März 1931 enthaltene Tatbestandsvariante der Fälschung und Verfälschung fremdenpolizeilicher Ausweispapiere und des wissentlichen Gebrauchs solcher Papiere (vgl. AS 1933 279 ff., 286) unverändert belassen.
c) Der Beschwerdeführer brauchte den auf seinen Namen lautenden gefälschten uruguayanischen Pass, den er in Athen gekauft hatte, einzig zum Zweck des Grenzübertritts in die Schweiz. Er verfügte als Staatenloser über keine Ausweispapiere. Er hatte sich durch verschiedene Vorkehrungen während einiger Zeit um gültige Ausweispapiere, die ihm das Betreten der Schweiz erlaubten, bemüht. Als dies ohne Erfolg blieb, beschaffte er sich den fraglichen Pass, um mit diesem Dokument in die Schweiz einzureisen. Gemäss seinen eigenen Angaben, auf welche die erste Instanz in Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" abstellte und welche im angefochtenen Entscheid nicht widerlegt werden, warf er den Pass unmittelbar nach dem Grenzübertritt im Zug in eine Toilette. Seine Rechtsanwältin kontaktierte verschiedene Behörden zwecks Regelung seiner Anwesenheit. Der Beschwerdeführer hat damit den gefälschten uruguayanischen Pass offensichtlich einzig aus fremdenpolizeilichen Motiven, nämlich zum Zweck der Umgehung der für den Grenzübertritt geltenden fremdenpolizeilichen Vorschriften, gebraucht. Die Vorinstanz legt mit keinem Wort dar und es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern der Gebrauch des fraglichen Ausweispapiers unter diesen Umständen nicht ausschliesslich aus fremdenpolizeilichen Gründen erfolgt sei; sie stellt auch nicht fest und nichts deutet darauf hin, dass der Beschwerdeführer das gefälschte Dokument in der Schweiz auch noch zu andern Zwecken gebraucht habe. Dass die Ermöglichung bzw. Erleichterung des Grenzübertritts mittels des gefälschten Passes unter Umgehung der relativ strengen fremdenpolizeilichen Vorschriften nach der insoweit zutreffenden Auffassung der Vorinstanz als Erleichterung des Fortkommens im Sinne von Art. 252 StGB qualifiziert werden kann, ändert nichts daran, dass der Beschwerdeführer das fragliche Dokument in der Schweiz ausschliesslich aus fremdenpolizeilichen Motiven, nämlich zur Umgehung der fremdenpolizeilichen Vorschriften bei der Einreise in die Schweiz, verwendet hat.
Die Verurteilung des Beschwerdeführers gemäss Art. 252 StGB verletzt demnach Bundesrecht. Der Beschwerdeführer machte sich
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dadurch, dass er beim Grenzübertritt von Österreich in die Schweiz den schweizerischen Zollbeamten einen gefälschten Pass vorwies, nicht des täuschenden Gebrauchs einer gefälschten Ausweisschrift im Sinne von Art. 252 Ziff. 1 Abs. 2 StGB schuldig, sondern erfüllte den Tatbestand des Gebrauchs eines gefälschten fremdenpolizeilichen Ausweispapiers im Sinne von Art. 23 Abs. 1 al. 1 ANAG. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist daher in diesem Punkt gutzuheissen.

3. Der Beschwerdeführer beruft sich wie bereits im kantonalen Verfahren auf den aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen. Die Vorinstanz hat im Unterschied zur ersten Instanz diesen Rechtfertigungsgrund vorliegend als nicht gegeben erachtet.
a) Der Beschwerdeführer ist am 1. Februar 1957 in Johannesburg (Südafrika) als Sohn einer ägyptischen Mutter und eines englischen Vaters geboren worden. Die Mutter starb bei seiner Geburt. Bis zu seinem 9. Lebensjahr wuchs er bei seinem Vater in Südafrika auf. Als dieser starb, wurde der Beschwerdeführer von einem Bekannten nach Kairo in eine Pflegefamilie gebracht, die für die Betreuung bis zu seinem 19. Lebensjahr Geld erhielt. Der Beschwerdeführer ist Staatenloser und verfügte im Zeitpunkt der inkriminierten Taten über keinerlei Ausweispapiere. Er lernte im September 1985 in Griechenland die Schweizer Staatsangehörige H. kennen und lebte dort mit ihr zusammen. H. wurde gegen Ende 1986 schwanger; im 6. Monat ihrer Schwangerschaft beschloss sie, für die Geburt des Kindes in die Schweiz zurückzukehren, mit der Überlegung, dass sie für den Fall, dass sie in eine Notlage geraten würde, nur hier Sozialhilfe erhielte. Am 25. August 1987 gebar sie eine Tochter. Der Beschwerdeführer ist der Vater dieses Kindes; seine Vaterschaft wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Zürich vom 23. Juni 1988 infolge Anerkennung festgestellt, und der Beschwerdeführer wurde zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen von Fr. 500.-- an das Kind verpflichtet. H. bemühte sich seit ihrer Rückkehr in die Schweiz darum, dem Beschwerdeführer, der sich weiterhin in Griechenland aufhielt und weder Ausweispapiere noch eine Arbeitsbewilligung besass, eine legale Einreise in die Schweiz zu ermöglichen und hier die Heirat vorzubereiten. Von den Behörden erhielt sie den Bescheid, dass eine Heirat in der Schweiz nur möglich sei, wenn sich der Bräutigam in der Schweiz aufhalte; eine Einreise für einen Mann ohne Papiere werde jedoch nicht bewilligt, selbst wenn er der Vater eines in der Schweiz
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lebenden Kindes einer Schweizerin sei. Ein Gesuch des Beschwerdeführers um Bewilligung der Einreise zur Vorbereitung der Heirat mit H. wurde von der Fremdenpolizei des Kantons Zürich mit Verfügung vom 19. Oktober 1987 abgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Gesuchsteller nicht über ein gültiges Ausweispapier verfüge; dass die Voraussetzungen zur Erteilung der gewünschten Einreisebewilligung zwecks Vorbereitung der Heirat nicht erfüllt seien; dass die kantonale Verkündbewilligung nicht vorliege und somit nicht feststehe, dass eine Heirat möglich sei; dass zudem der Nachweis über ausreichende finanzielle Mittel nicht erbracht sei. H. reichte im November 1988 bei der südafrikanischen Botschaft in Bern für den Beschwerdeführer ein Passgesuch ein; die Anwältin von H. erhielt im Frühling 1989 von einer Angestellten der Botschaft auf Anfrage hin die Auskunft, dass es bis zur Behandlung des Gesuchs noch mindestens ein Jahr dauern würde. Das englische Generalkonsulat in Zürich, welches um Hilfe bei der Suche nach Verwandten des Beschwerdeführers angegangen wurde, verwies diesen an die südafrikanische Botschaft in London. Der Beschwerdeführer hatte seinerseits schon zu Beginn der 80er Jahre auf verschiedenen Wegen versucht, Informationen über seine Herkunft zu erhalten.
b) Der aussergesetzliche Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen ist gegeben, wenn die Tat ein zur Erreichung des berechtigten Ziels notwendiges und angemessenes Mittel ist, sie insoweit den einzig möglichen Weg darstellt und offenkundig weniger schwer wiegt als die Interessen, die der Täter zu wahren sucht (BGE 113 IV 7 mit Hinweisen; STRATENWERTH, Strafrecht Allgemeiner Teil I, § 10 N 76).
Wie dieser Rechtfertigungsgrund im Einzelfall zu konkretisieren ist, hängt unter anderem davon ab, wie weit man den Rechtfertigungsgrund des Notstandes, insbesondere das Erfordernis der unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr, versteht.
In BGE 113 IV 7 wurde die Rechtfertigung für das Verhalten eines Motorradfahrers, der als offizieller Begleiter für die Sicherheit der Teilnehmer eines Radrennens zu sorgen hatte und dabei namentlich die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritt, bejaht, soweit dies zur Erfüllung seines Auftrages geboten war.
In einem unveröffentlichten Urteil vom 22. August 1990 hat der Kassationshof angenommen, dass sich ein Mieter nicht unter Rückgriff auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen gegen seine Exmission wehren könne. Denn die Lösung
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des Interessenkonflikts zwischen dem Mieter und dem Vermieter ergebe sich in erster Linie aus dem Mietrecht (Art. 253 OR). Hier fänden sich sowohl die materiellen Grundsätze als auch die verfahrensrechtlichen Prinzipien, nach denen der Konflikt zu lösen ist. Wenn es in Anwendung dieser Regeln in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu einem rechtskräftigen vollstreckbaren richterlichen Ausweisungsbefehl gekommen sei, der Interessenkonflikt also zu Gunsten des Vermieters entschieden und damit das vom Mieter behauptete Recht rechtskräftig verneint worden sei, könne sich der Mieter zur Durchsetzung bzw. Verteidigung seines behaupteten Rechts nicht auf die Wahrung berechtigter Interessen berufen. Ein Rechtfertigungsgrund könnte höchstens dann in Erwägung gezogen werden, wenn sich nach dem rechtskräftigen Abschluss des Exmissionsverfahrens wesentliche Umstände verändert hätten. Die Leistung von Widerstand könne unter Umständen angesichts der Art und Weise und insbesondere des Zeitpunkts des Vollzugs der Ausweisungsverfügung gerechtfertigt sein, also etwa dann, wenn der Mieter zum Zeitpunkt des Vollzugs schwer erkrankt ist.
c) Die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten - Gebrauch eines gefälschten uruguayanischen Passes einzig beim Grenzübertritt sowie kurzfristiger unberechtigter Aufenthalt in der Schweiz - erscheinen nicht als gravierend. Der Beschwerdeführer verfolgte das Ziel, die in der Schweiz lebende Mutter seiner Tochter, die Schweizerin ist, zu heiraten und dem im Zeitpunkt der inkriminierten Taten schon anderthalbjährigen Kind den Vater als Bezugsperson zu verschaffen. Dieses Ziel ist, wie sich aus den Wertentscheidungen der Rechtsordnung (Art. 8 und 12 EMRK) ergibt, offensichtlich wesentlich höherwertig als das staatliche Interesse an der Beachtung von fremdenpolizeilichen Verwaltungsvorschriften, deren Verletzung mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Busse bestraft wird. Erste Voraussetzung zur Erreichung des angestrebten Ziels war die Anwesenheit des Beschwerdeführers in der Schweiz.
Allerdings stellt sich die Frage, ob die inkriminierten Taten als notwendiges, angemessenes und einzig mögliches Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels betrachtet werden können. Der Beschwerdeführer und insbesondere seine Freundin H. hatten sich während längerer Zeit durch eine ganze Reihe von Vorkehrungen um Papiere bemüht, welche dem Beschwerdeführer die legale Einreise in die Schweiz ermöglichen sollten. Alle diese Bemühungen waren erfolglos. Sie wären vielleicht erfolgreich gewesen, wenn der
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Beschwerdeführer bzw. seine Freundin, die lange Zeit nicht anwaltlich vertreten waren, die Gesuche unter rechtskundiger Beratung gestellt hätten. Auch kann nicht ohne weiteres gesagt werden, dass das Ziel der Einreise in die Schweiz auf legalem Wege unmöglich zu erreichen war (vgl. dazu auch Art. 2 Abs. 9 ANAV sowie die Verordnung über Reisepapiere für schriftenlose Ausländer, SR 143.5). Es ist indessen zu beachten, dass die Realisierung dieses Ziels auf legalem Wege einige Zeit in Anspruch genommen hätte. Der Zeitfaktor spielte aber gerade vorliegend eine wesentliche Rolle, wo es darum ging, endlich die Familie zu vereinigen. Der Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen kann in einem Fall der vorliegenden Art, in dem der Zeitfaktor eine grosse Rolle spielte, auch dann bejaht werden, wenn das angestrebte, hochwertige Ziel innert vernünftiger Frist auf legalem Wege nicht erreicht werden kann. Davon ist vorliegend auszugehen. Dafür spricht unter anderem, dass die Behörden nicht in der Lage waren, dem Beschwerdeführer während der vergleichsweise langen Zeit seit der Geburt der Tochter die Einreise in die Schweiz unter anderem zur Vorbereitung der Heirat mit H. zu ermöglichen.
Das Vorliegen des aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrundes der Wahrung berechtigter Interessen kann entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch nicht mit den - im übrigen weitgehend spekulativen - Erwägungen verneint werden, dass es H. notfalls möglich und zumutbar gewesen wäre, für die Dauer des gegebenenfalls langen Verfahrens betreffend die Beschaffung der für die Einreise des Beschwerdeführers in die Schweiz erforderlichen Papiere nach Griechenland zum Beschwerdeführer zurückzukehren und eventuell sogar zu versuchen, dort die Ehe zu schliessen. Denn wenn es um die Beurteilung des Beschwerdeführers geht, ist es unzulässig, auf die Möglichkeit abzustellen, dass eine andere Person sich anders hätte verhalten können.
Selbst wenn man aber annehmen wollte, dass objektiv die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes der Wahrung berechtigter Interessen nicht gegeben seien, wäre dem Beschwerdeführer zuzubilligen, dass er unter den gegebenen Umständen das von ihm gewählte Vorgehen als den einzig möglichen Weg angesehen hat und in guten Treuen ansehen durfte. Das schliesst aber zumindest einen subjektiven Unrechts- und Schuldvorwurf aus.
d) Die Verurteilung des Beschwerdeführers verletzt somit Bundesrecht. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist daher auch in diesem Punkt gutzuheissen.

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