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Urteilskopf

120 V 65


9. Urteil vom 4. Januar 1994 in Sachen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt gegen F. und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden

Regeste

Art. 77 Abs. 2 und 3 lit. b UVG, Art. 100 Abs. 1 und 2 UVV.
- Zuständigkeit der Versicherer bei Nichtberufsunfällen: Art. 77 Abs. 2 UVG enthält diesbezüglich keine abschliessende Regel. Vielmehr ist der Bundesrat gemäss Art. 77 Abs. 3 lit. b UVG befugt, die Leistungspflicht und das Zusammenwirken der Versicherer bei einem erneuten Unfall zu ordnen, und zwar nicht nur für die im Gesetz erwähnten Spezialfälle, sondern generell. Insofern sind Art. 100 Abs. 1 und 2 UVV gesetzmässig (Erw. 5b).
- Die beiden Absätze von Art. 100 UVV stehen zueinander im Verhältnis von Grund- (Abs. 1) und Spezialregel (Abs. 2). Das in Abs. 1 aufgestellte Erfordernis "und versichert ist" meint nicht die beim bisherigen (letzten) Unfallversicherer bestehende, sondern die generelle, allenfalls durch die Zugehörigkeit bei einem anderen Versicherer begründete, Versicherteneigenschaft (Erw. 5c).

Sachverhalt ab Seite 66

BGE 120 V 65 S. 66

A.- Der 1968 geborene F. nahm am 28. Juli 1987 eine Aushilfstätigkeit für die A. AG auf und erlitt bereits am ersten Tag einen Arbeitsunfall mit erheblichen Verletzungen. Als Folgen resultierten eine langdauernde Arbeitsunfähigkeit, zahlreiche operative Eingriffe und schliesslich - nachdem er seine Lehre als Sanitärinstallateur nicht beenden konnte - eine Umschulung zum Helikopterpiloten. Da es sich bei der A. AG um eine der SUVA unterstellte Unternehmung handelte, kam die Anstalt für die Folgen dieses Unfalls ohne weiteres auf.
Nach Erwerb des Berufspilotenbrevets arbeitete F. ab 1. Mai 1990 für die - ebenfalls der SUVA unterstellte - S. AG, und zwar zu Beginn mit einem vollen Pensum. Aufgrund der damit verbundenen Belastungen gelangte er jedoch bald an seine Leistungsgrenze, was mit ein Grund dafür gewesen sein mag, dass er auf Ende August 1990 aus diesem Betrieb austrat. In der Folge war F. vom 1. September bis 30. November 1990 im Restaurant D. und vom 15. Dezember 1990 bis 15. Januar 1991 für die I. AG tätig, bevor er aufgrund von Spätfolgen seines Unfalls erneut vollständig arbeitsunfähig wurde und ihm die SUVA ab 16. Januar 1991 wiederum Taggeldzahlungen ausrichtete. Im Verlaufe des Jahres 1991 flog F. zu einem Ansatz von Fr. 2.-- pro Flugminute verschiedene Einsätze für die H. AG, was ihm einen Gesamtverdienst von rund Fr. 8'000.-- einbrachte. Am 19. Mai 1992 erstattete er der SUVA Meldung über einen am 1. desselben Monats erlittenen Nichtberufsunfall: Beim Befestigen eines Drahtes hatte er sich mit der Zange den rechten Eckzahn ausgeschlagen und zwei weitere Zähne gelockert. Die SUVA stellte sich auf den Standpunkt, dass dafür kein Versicherungsschutz bestehe, weshalb sie am 2. September 1992 die Ablehnung von Leistungen verfügte. Zur Begründung führte sie im wesentlichen aus, dass F. nach Wiedererlangung seiner Arbeitsfähigkeit ab
BGE 120 V 65 S. 67
1. September 1990 bis zur erneuten Arbeitsunfähigkeit ab 16. Januar 1991 in keinem ihr unterstellten Betrieb gearbeitet und daher der Versicherungsschutz am 30. September 1990 geendet habe; auch mit der Tätigkeit für die H. AG sei kein Anstellungsverhältnis begründet worden, das geeignet gewesen wäre, den Versicherungsschutz wiederherzustellen.- An dieser Auffassung hielt die SUVA mit Einspracheentscheid vom 19. November 1992 fest.

B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Graubünden, nach Einholung einer ablehnenden Vernehmlassung der SUVA, mit Entscheid vom 26. März 1993 gut.

C.- Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben.
F. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Denselben Antrag stellt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV).

D.- Auf die Begründung des angefochtenen Gerichtsentscheides und der Anträge wird, soweit erforderlich, in den nachstehenden Erwägungen eingegangen.

Erwägungen

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1. a) Nach Art. 3 Abs. 2 UVG endet die obligatorische Unfallversicherung mit dem 30. Tag nach dem Tage, an dem der Anspruch auf mindestens den halben Lohn aufhört. Gemäss Abs. 5 der gleichen Bestimmung regelt der Bundesrat unter anderem die Vergütungen und Ersatzeinkünfte, die als Lohn gelten. Dazu zählen insbesondere die Taggelder der obligatorischen Unfallversicherung und der Invalidenversicherung (Art. 7 Abs. 1 lit. b UVV).
b) Soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, werden die Versicherungsleistungen bei Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und Berufskrankheiten gewährt (Art. 6 Abs. 1 UVG). Art. 7 und 8 UVG umschreiben die Berufs- und Nichtberufsunfälle. Teilzeitbeschäftigte, deren Arbeitsdauer das vom Bundesrat festzusetzende Mindestmass nicht erreicht, sind gegen Nichtberufsunfälle nicht versichert, wohingegen bei ihnen auch die Unfälle auf dem Arbeitsweg als Berufsunfälle gelten (Art. 7 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 UVG). Das Mindestmass der Arbeitsdauer ist in Art. 13 UVV festgehalten. Danach sind teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, deren wöchentliche Arbeitszeit bei einem Arbeitgeber mindestens 12 Stunden
BGE 120 V 65 S. 68
beträgt, auch gegen Nichtberufsunfälle versichert (Art. 13 Abs. 1 UVV). Daraus folgt durch Umkehrschluss, dass keine Versicherung für Nichtberufsunfälle besteht, wenn der Teilzeitbeschäftigte wöchentlich weniger als 12 Stunden für einen Arbeitgeber tätig ist.
c) Bei Berufsunfällen erbringt derjenige Versicherer die Leistungen, bei dem die Versicherung zur Zeit des Unfalls bestanden hat (Art. 77 Abs. 1 Satz 1 UVG). Bei Nichtberufsunfällen erbringt derjenige Versicherer die Leistungen, bei dem der Verunfallte zuletzt auch gegen Berufsunfälle versichert war (Abs. 2). Nach Abs. 3 lit. b (am Anfang) dieser Bestimmung ordnet der Bundesrat insbesondere die Leistungspflicht und das Zusammenwirken der Versicherer bei einem erneuten Unfall. Dazu hat er Art. 100 UVV erlassen, dessen vorliegend bedeutsame Absätze 1 und 2 wie folgt lauten:
"Art. 100 Leistungspflicht bei erneutem Unfall
1 Wenn der Versicherte erneut verunfallt, während er wegen eines
versicherten Unfalls noch behandlungsbedürftig, arbeitsunfähig und
versichert ist, so muss der bisher leistungspflichtige Versicherer auch die
Leistungen für den neuen Unfall erbringen.
2 Verunfallt der Versicherte während der Heilungsdauer eines oder
mehrerer Unfälle, aber nach der Wiederaufnahme einer versicherten
Tätigkeit, erneut und löst der neue Unfall Anspruch auf Taggeld aus, so
erbringt der für den neuen Unfall leistungspflichtige Versicherer auch die
Leistungen für die früheren Unfälle. Die anderen beteiligten Versicherer
vergüten ihm diese Leistungen, ohne Teuerungszulagen, nach Massgabe der
Verursachung; damit ist ihre Leistungspflicht abgegolten. Die beteiligten
Versicherer können untereinander von dieser Regelung abweichende
Vereinbarungen treffen, namentlich wenn der neue Unfall wesentlich
geringere Folgen hat als der frühere."

2. Fest steht unbestrittenermassen, dass der Beschwerdegegner im Zeitpunkt seines neuerlichen Unfalls vom 1. Mai 1992 aufgrund des Anfang Januar 1991 eingetretenen Rückfalls im Genuss von Taggeldern der SUVA stand. Soweit er hingegen im vorliegenden Verfahren erneut dafürzuhalten scheint, dass sich bereits aus diesem Grund eine Leistungspflicht der SUVA auch hinsichtlich der am 1. Mai 1992 erlittenen Zahnverletzungen ergebe, kann ihm - wie Vorinstanz, SUVA und BSV zu Recht erkannt haben - nicht gefolgt werden. Denn es besteht kein Zweifel, dass der, seit Anfang Mai 1990 wiederum voll arbeitsfähige, Beschwerdegegner seine Versicherteneigenschaft 30 Tage nach dem auf Ende August 1990 erfolgten Austritt aus der - der SUVA unterstellten - S. AG verlor, nachdem ihm aus diesem Arbeitsverhältnis
BGE 120 V 65 S. 69
keine weitergehenden Lohnansprüche mehr zustanden. Weder dem Gesetz noch der dazu ergangenen Verordnung lässt sich eine Vorschrift entnehmen, wonach bereits die wegen des Rückfalls am 16. Januar 1991 wieder auflebende Taggeldberechtigung geeignet gewesen wäre, das Versicherungsverhältnis zur SUVA erneut entstehen zu lassen. Ebensowenig vermag der Beschwerdegegner mit seiner Rüge der Ungleichbehandlung durchzudringen, lassen sich doch die Verhältnisse bei ununterbrochenem Taggeldbezug einerseits und neu entstandener Taggeldberechtigung nach Verlust der Versicherteneigenschaft anderseits weder sachlich noch rechtlich miteinander vergleichen: Der Versicherte, dessen Taggeldberechtigung zufolge Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit erlischt, ist in der Lage, sich den Versicherungsschutz durch Ausübung einer versicherungspflichtigen Arbeitnehmertätigkeit, sei es beim bisherigen, sei es bei einem anderen Arbeitgeber, zu wahren oder ihn durch Antritt einer Stelle wieder zu erlangen. Gerade in einem System, das nebst der SUVA noch andere registrierte Versicherer zulässt (Art. 58 und 68 UVG), kann dieser Unterschied nicht unberücksichtigt bleiben.

3. a) Im Rahmen seiner Hauptbegründung hat das kantonale Gericht die nach geleisteten Flugminuten entlöhnte Tätigkeit des Beschwerdegegners für die H. AG als versicherungspflichtige Arbeitnehmertätigkeit im Sinne von Art. 1 UVG qualifiziert, da er vom 19. Januar bis 10. August 1991 während ungefähr 66 Flugstunden mehr oder weniger regelmässig für jenen Betrieb gearbeitet habe. Diese Dauer und Regelmässigkeit zeigten - so die Vorinstanz -, dass es sich bei dieser Tätigkeit nicht um blosse Handreichungen oder kurzfristige Gefälligkeitstätigkeiten gehandelt habe. Vielmehr liege eine unselbständige Erwerbstätigkeit vor, womit der Beschwerdegegner im Januar 1991 automatisch wieder bei der SUVA versichert gewesen sei, welches Versicherungsverhältnis aufgrund der - ohne Unterbruch von mindestens 30 Tagen - erbrachten SUVA-Taggeldleistungen bis zum Unfall vom 1. Mai 1992 fortgedauert habe.
b) In diesem Punkt wirft die SUVA der Vorinstanz zur Hauptsache vor, sie verkenne, dass es sich bei der fraglichen Tätigkeit lediglich um eine - das zeitliche Mindestmass gemäss Art. 7 Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 UVV nicht erfüllende - Teilzeitbeschäftigung gehandelt habe.
Dem ist mit dem BSV beizupflichten. Denn weil der Beschwerdegegner mit den auf mehrere Monate (Januar bis August 1991) verteilten total 66 Stunden fraglos während weniger als 12 Stunden wöchentlich tätig gewesen war,
BGE 120 V 65 S. 70
vermochte er jedenfalls hinsichtlich der Nichtbetriebsunfälle, um die es hier einzig geht, keinen Versicherungsschutz zu erlangen (vgl. Erw. 1b hievor). Daher lässt sich aus dem Umstand der ab 16. Januar 1991 wieder aufgenommenen, bis zum Unfall vom 1. Mai 1992 ununterbrochenen Taggeldausrichtung in Verbindung mit den Einsätzen für die H. AG nichts zugunsten des Beschwerdegegners ableiten.

4. Zu prüfen bleibt schliesslich, wie es sich mit der Zusatzbegründung des angefochtenen Gerichtsentscheides verhält.
a) Die Vorinstanz ist davon ausgegangen, dass der Beschwerdegegner vom 15. Dezember 1990 bis zum 15. Januar 1991 für die der SUVA nicht unterstellte I. AG vollwertig gearbeitet habe. Dadurch und in Verbindung mit der am 16. Januar 1991 wieder einsetzenden Taggeldzahlung zufolge erneuter vollständiger Arbeitsunfähigkeit sei die durch den Eintritt bei der I. AG entstandene Unfallversicherungsdeckung aufrecht geblieben, sofern seither kein Wechsel des Versicherungsträgers wegen neuerlicher Aufnahme einer versicherten Erwerbstätigkeit erfolgte. Falls ein neues versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mit der H. AG zu verneinen sei - welche Auffassung in bezug auf Nichtberufsunfälle nach dem Gesagten (Erw. 3b hievor) die allein richtige ist -, habe das mit der Aufnahme der Arbeit bei der I. AG neu begründete Versicherungsverhältnis mit einem anderen Versicherer (Art. 68 UVG) infolge der anschliessend lückenlos geleisteten UVG-Taggelder der SUVA bis zum Unfall vom 1. Mai 1992 weitergedauert. Der neue Versicherer (der I. AG) hätte jedoch gemäss Art. 100 Abs. 2 UVV nur dann für die Unfallfolgen aufkommen müssen, wenn durch den neuen Unfall vom 1. Mai 1992 ein Anspruch auf Taggeldleistungen ausgelöst worden wäre, was hier nicht zutreffe. Der Zweck jener Bestimmung bestehe unter anderem wohl darin, aus verfahrensökonomischen Gründen bei blossen Bagatellunfällen die Leistungspflicht beim bisherigen Versicherer zu belassen, obwohl grundsätzlich - nach Wiederaufnahme einer versicherten Tätigkeit - ein später hinzugetretener Versicherer für den neuerlichen Unfall zuständig wäre. Ein solcher Bagatellunfall liege hier vor, nachdem der Beschwerdegegner am 1. Mai 1992 einen Zahnschaden erlitten habe, ohne dass er dadurch arbeitsunfähig geworden wäre. Infolgedessen sei die SUVA, die nach wie vor die Leistungen aus dem Unfall von 1987 erbringe, auch für den Unfall vom 1. Mai 1992 leistungspflichtig.
b) Die beschwerdeführende SUVA widersetzt sich dieser Eventualbegründung insoweit nicht, als sie auf der Annahme beruht, es sei durch den Antritt
BGE 120 V 65 S. 71
der Arbeit für die I. AG ein neues und wegen des lückenlosen UVG-Taggeldbezugs bis zum Unfall vom 1. Mai 1992 fortbestehendes Versicherungsverhältnis mit einem anderen zugelassenen Versicherer begründet worden. Hingegen wendet sie sich gegen die vorinstanzliche Auslegung von Art. 100 Abs. 2 UVV, die sich nach ihrem Dafürhalten mit Art. 77 Abs. 2 UVG nicht vereinbaren lasse. Denn die Leistungspflicht der Versicherer sei im Gesetz abschliessend geregelt, indem bei Nichtberufsunfällen derjenige Versicherer die Leistungen erbringe, bei dem der Verunfallte zuletzt auch gegen Berufsunfälle versichert war. Dies sei im vorliegenden Fall der Unfallversicherer der I. AG gewesen, und letztere habe die Prämien sowohl für die Berufs- als auch die Nichtberufsunfallversicherung geleistet.
Zu Art. 100 Abs. 2 UVV führt die SUVA aus, dass darin die Leistungspflicht des neuen Versicherers für den neuen Unfall als Grundprinzip verankert werde. Diese Leistungspflicht gehe so weit, dass der spätere Versicherer auch für die Leistungen aus früheren Unfällen aufzukommen habe, sofern der neue Unfall einen Anspruch auf Taggeldleistungen auslöse, welche Zusatzleistungen ihm von den übrigen beteiligten Versicherern anteilsmässig zurückerstattet würden. Entgegen den vorinstanzlichen Annahmen sei also der Zweck von Art. 100 Abs. 2 UVV nicht in der Entlastung des späteren Versicherers zu suchen, sondern in dessen Zusatzbelastung durch Leistungen aus einem früheren Unfall. Dabei solle vor allem verhindert werden, dass der betroffene Versicherte mit mehreren Versicherungen verhandeln und allenfalls prozessieren müsse. Demgegenüber bringe die vorinstanzliche Auslegung, wonach die Leistungspflicht bei blossen Bagatellunfällen aus verfahrensökonomischen Gründen beim bisherigen Versicherer zu belassen sei, erhebliche Rechtsunsicherheit mit sich. So müsste bei einem Bagatellunfall jeder Arbeitgeber zunächst prüfen, ob eventuell der Versicherte aus einem früheren Unfall noch Leistungen beziehe, was bei bloss teilweiser Arbeitsunfähigkeit häufig vorkomme. In dieser Situation dürfte er nach der vorinstanzlichen Lesart den neuen Bagatellunfall nicht seinem eigenen Unfallversicherer melden, sondern er müsste die frühere Unfallversicherung ausfindig machen und dieser den Schaden anzeigen. Eine solche Regelung liefe dem Gesetzeswortlaut von Art. 77 UVG klar zuwider und wäre in der Praxis unhaltbar.
Die SUVA beschliesst ihre Ausführungen damit, dass sie für den Nichtberufsunfall vom 1. Mai 1992 keine Leistungen zu erbringen habe, die Leistungspflicht vielmehr beim Unfallversicherer der I. AG liege, dem sie
BGE 120 V 65 S. 72
die erforderlichen Akten nach Abschluss des vorliegenden Verfahrens zukommen lassen werde.
c) Das BSV seinerseits pflichtet der vorinstanzlichen Eventualbegründung bei, da sie sich nicht nur vom Wortlaut her, sondern auch aus entstehungsgeschichtlicher Sicht rechtfertigen lasse. Unter anderem wird hervorgehoben, die SUVA selbst habe im Vernehmlassungsverfahren zur UVV auf den Kompromisscharakter der geltenden Lösungsvariante von Art. 100 Abs. 2 UVV hingewiesen und zudem ausdrücklich festgehalten, dass die gesetzliche Grundlage dafür in Art. 77 Abs. 3 UVG zu finden sei. Die von der Anstalt nunmehr beschwerdeweise vorgetragene Ansicht, die gesetzliche Grundlage zu Art. 100 Abs. 2 UVV bestehe in Art. 77 Abs. 2 UVG, welche Bestimmung die Leistungspflicht der Versicherer abschliessend regle, könne daher nicht geteilt werden.

5. a) Vorweg ist festzuhalten, dass der Beschwerdegegner im Zeitpunkt seines Nichtberufsunfalls vom 1. Mai 1992 grundsätzlich obligatorisch unfallversichert war. Dies folgt aus der Arbeitnehmertätigkeit für die I. AG vom 15. Dezember 1990 bis zum 15. Januar 1991 und den im Anschluss von der SUVA ab 16. Januar 1991 erbrachten Taggeldzahlungen. Insoweit besteht auch unter den Verfahrensbeteiligten Einigkeit. In Frage steht einzig, bei welchem Versicherer diese Deckung bestand. Es geht mithin aus unfallversicherungsrechtlicher Sicht nicht um die Versicherteneigenschaft als solche, sondern um die Abgrenzung der leistungsbezogenen Zuständigkeit, und zwar zwischen der SUVA einerseits und dem registrierten Unfallversicherer der I. AG anderseits.
Mit Blick auf die zu klärende Rechtsfrage bestünde an sich Anlass, den Unfallversicherer der I. AG als Mitinteressierten in das vorliegende Verfahren einzubeziehen. Wie sich jedoch aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt, kann von derartigen Weiterungen abgesehen werden.
b) Bei der Beantwortung dieser Frage kann der SUVA zunächst insoweit nicht gefolgt werden, als sie die Abgrenzung der Versicherungszuständigkeit bei Nichtberufsunfällen durch Art. 77 Abs. 2 UVG abschliessend geregelt sehen möchte. Zwar trifft es zu, dass die in Art. 77 Abs. 1 und Abs. 2 UVG aufgestellten formellrechtlichen Grundsätze durch materielles Verordnungsrecht nur in dem Umfang abgeändert werden dürfen, als dazu nach Art. 77 Abs. 3 UVG eine delegationsrechtliche Zuständigkeit eingeräumt wird (vgl. BGE 116 V 53 f.). Soweit die Abgrenzung der Zuständigkeit der SUVA gegenüber anderen registrierten Versicherern in Frage steht
BGE 120 V 65 S. 73
(unveröffentlichtes Urteil K. vom 14. März 1988), darf abweichendes Verordnungsrecht gesetzt werden, sofern dazu in Art. 77 Abs. 3 UVG eine Delegationsgrundlage besteht. Eine solche Grundlage ist im vorliegenden Sachzusammenhang gegeben. Denn gemäss Art. 77 Abs. 3 lit. b UVG ordnet der Bundesrat die Leistungspflicht und das Zusammenwirken der Versicherer unter anderem bei einem erneuten Unfall (erster Satzteil), und zwar - wie dem anschliessenden, durch das Wort "namentlich" eingeleiteten Satzteil zu entnehmen ist - generell, also nicht nur für die im Gesetz besonders erwähnten Spezialfälle (Verlust paariger Organe oder andere Änderungen des Invaliditätsgrades). Insofern halten sich Art. 100 Abs. 1 und 2 UVV sicherlich im gesetzlichen Rahmen.
c) Was im weiteren den Aufbau von Art. 100 UVV, insbesondere das Verhältnis zwischen dessen beiden Absätzen anbelangt, handelt es sich beim zweiten um eine lex specialis zum ersten Absatz: Sofern und soweit der Tatbestand des Abs. 2 entfällt - was hier zutrifft, nachdem der neue Unfall keinen Anspruch auf Taggeld auslöste -, bleibt es bei der Grundregel des Art. 100 Abs. 1 UVV. Dessen Tatbestand ist im vorliegenden Fall, bis auf eine Ausnahme, in allen Punkten ohne weiteres gegeben: So verunfallte der Beschwerdegegner erneut, als ("während") er wegen eines versicherten Unfalls noch behandlungsbedürftig und arbeitsunfähig war. Fraglich bleibt einzig die soeben erwähnte Ausnahme, nämlich was die Verordnung mit der zusätzlich verlangten Versicherteneigenschaft ("und versichert ist") meint. Damit kann diejenige beim bisherigen (letzten) Unfallversicherer angesprochen sein oder aber ganz einfach die (generelle) Versicherteneigenschaft an sich, die allenfalls durch Zugehörigkeit bei einem anderen (registrierten) Versicherer begründet worden ist.
Hinsichtlich der so gestellten Frage erweist sich als bedeutsam, dass sich der Passus "wegen eines versicherten Unfalls" wohl auf das "noch behandlungsbedürftig und arbeitsunfähig", nicht aber auf das "und versichert" beziehen kann. Denn wie sich aus den Darlegungen in Erw. 2 ergibt, gewährleistet der Umstand eines erlittenen versicherten Unfalls als solcher die Weiterdauer der Versicherteneigenschaft und damit des Versicherungsschutzes gerade nicht. Deshalb kann sich das kausale "wegen" notwendigerweise nicht auf das "und versichert ist" beziehen. Aus diesen grammatikalisch-systematischen Überlegungen ergibt sich schlüssig, dass das Erfordernis "und versichert ist" in Art. 100 Abs. 1 UVV generell die blosse unfallversicherungsrechtliche Versicherteneigenschaft meint. Damit erwarb
BGE 120 V 65 S. 74
sich der Beschwerdegegner durch den Antritt der Vollzeitarbeit in der I. AG erneut die Versichertenqualität, weshalb er nach Art. 100 Abs. 1 UVV von der SUVA die Zusprechung der gesetzlichen Leistungen aus dem zweiten Unfall vom 1. Mai 1992 beanspruchen kann. Damit hält der angefochtene Gerichtsentscheid im Ergebnis stand.

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Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4 5

Referenzen

BGE: 116 V 53

Artikel: Art. 100 Abs. 2 UVV, Art. 77 Abs. 2 UVG, Art. 77 Abs. 2 und 3 lit. b UVG, Art. 100 Abs. 1 und 2 UVV mehr...