137 II 242
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Urteilskopf
137 II 242
19. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Kanton Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_510/2010 vom 24. März 2011
Regeste
Art. 11 Abs. 3 aOHG; Art. 2 FZA; Art. 9 Abs. 2 Anhang I FZA; Opferhilfe; anspruchsberechtigte Personen; soziale Vergünstigungen.
Die Opferhilfe bei Straftaten im Ausland setzt nach altem Opferhilfegesetz das Schweizer Bürgerrecht voraus (E. 3.1).
Gleichstellung der Angehörigen der Vertragsstaaten des Freizügigkeitsabkommens mit Schweizer Staatsangehörigen (E. 3.2).
A. X. ist Staatsangehörige der Republiken Österreich und Philippinen. Seit dem Jahr 2001 wohnte sie in der Schweiz. Am 22. Januar 2005 wurde sie Opfer eines Raubüberfalls in Manila (Philippinen). Dabei erlitt sie eine Schussverletzung am Unterkiefer. Am 17. April 2008 stellte X. bei der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich ein Gesuch um Entschädigung und Genugtuung. Die kantonale Opferhilfestelle wies das Gesuch mit Verfügung vom 5. Februar 2009 ab.
BGE 137 II 242 S. 243
B. Dagegen führte X. Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich. Mit Urteil vom 16. September 2010 wies es die Beschwerde ab (...).
C. X. erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Aufhebung des Urteils des Sozialversicherungsgerichts. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:
3.1 Wird eine Person, die das Schweizer Bürgerrecht und Wohnsitz in der Schweiz hat, im Ausland Opfer einer Straftat, so kann sie gemäss Art. 11 Abs. 3 aOHG (AS 1992 2468) im Kanton ihres Wohnsitzes eine Entschädigung oder eine Genugtuung verlangen, wenn sie nicht von einem ausländischen Staat eine genügende Leistung erhält.
Die Beschwerdeführerin hatte im Zeitpunkt der Straftat Wohnsitz in der Schweiz (vgl. zur Voraussetzung des Wohnsitzes BGE 128 II 107 E. 2.1 S. 109; BGE 137 II 122 E. 3.5). Das Schweizer Bürgerrecht besitzt sie nicht. Sie erfüllt deshalb die Voraussetzungen von Art. 11 Abs. 3 aOHG an sich nicht.
3.2.1 Am 1. Juni 2002 ist das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen, FZA; SR 0.142.112.681) in Kraft getreten. Die Freizügigkeit der Personen im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsstaaten ist wesentlicher Bestandteil einer harmonischen Entwicklung ihrer Beziehungen. Das Freizügigkeitsabkommen bezweckt, diese Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen (vgl. die Präambel des Freizügigkeitsabkommens). Gemäss Art. 2 FZA werden die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmässig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, bei der Anwendung dieses Abkommens gemäss den Anhängen I, II und III nicht auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert (Nichtdiskriminierung). Nach Art. 9 Abs. 2 Anhang I FZA geniesst ein Arbeitnehmer im Hoheitsgebiet der anderen
BGE 137 II 242 S. 244
Vertragsstaaten die gleichen (steuerlichen und) sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer (Gleichbehandlung). Soweit das Diskriminierungsverbot gilt, ist es den Vertragsstaaten verwehrt, die Gewährung eines Rechts an eine Person, die sich in einer durch das Freizügigkeitsabkommen geregelten Situation befindet, von der Staatsangehörigkeit des betreffenden Staates abhängig zu machen.Der Begriff der sozialen Vergünstigungen ist ein Begriff des Gemeinschaftsrechts. Zu seiner Bestimmung ist grundsätzlich die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung (des Freizügigkeitsabkommens) zu berücksichtigen (Art. 16 Abs. 2 FZA). Der Begriff der sozialen Vergünstigung lehnt sich an Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer an (ABl. L 257 vom 19. Oktober 1968 S. 2; vgl. dazu auch KAHIL-WOLFF/MOSTERS, Das Abkommen über die Freizügigkeit EG - Schweiz, in: Europaïsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht [EuZW] 2001 S. 8). Nach der Rechtsprechung desEuGH deckt der Begriff "soziale Vergünstigung" alle Vergünstigungen ab, die - ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht - den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres gewöhnlichen Wohnsitzes im Inland gewährt werden und deren Erstreckung auf Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten deshalb geeignet erscheint, ihre Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern (Urteil 2P.142/2003 vom 7. November 2003 E. 3.4; Urteil des EuGH vom 12. Mai 1998 C-85/96 Martinez Sala, Slg. 1998 I-2691 Randnr. 25; Urteil des EuGH vom 10. September 2009 C-269/07 Bundesrepublik Deutschland Randnr. 39, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EuGH; HEINZ-DIETRICH STEINMEYER, in: Europäisches Sozialrecht, 5. Aufl. 2010, Teil 3 Rz. 3; WINFRIED BRECHMANN, in: EUV/EGV Kommentar, 3. Aufl., München 2007, N. 67 ff. zu Art. 39 EGV). Der Begriff der sozialen Vergünstigungen ist nach der Rechtsprechung des EuGH extensiv auszulegen (Urteil 2P.142/2003 vom 7. November 2003 E. 3.4 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EuGH). Im Fall Cowan hat der EuGH in Anwendung des allgemeinen Diskriminierungsverbots (Art. 7 EWG-Vertrag) entschieden, die Gewährung der staatlichen Entschädigung des Schadens infolge einer Gewalttat dürfe nicht davon abhängig gemacht werden, dass die Person, der das Gemeinschaftsrecht insbesondere die Einreise
BGE 137 II 242 S. 245
als Dienstleistungsempfänger garantiere, Inhaber einer Fremdenkarte oder Angehörige eines Staates sei, der ein Gegenseitigkeitsabkommen mit diesem Mitgliedstaat geschlossen hat (Urteil des EuGH vom 2. Februar 1989 186/87 Cowan, Slg. 1989 195 Randnr. 20; zit. in: HAVERKATE/HUSTER, Europäisches Sozialrecht, Baden-Baden 1999, N. 370).
3.2.2 Die Opferhilfe soll den Opfern von Straftaten wirksame Hilfe leisten und ihre Rechtsstellung verbessern (Art. 1 Abs. 1 aOHG; AS 1992 2465). Sie soll dem Opfer, das durch die Straftat und deren Folgen an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden droht, helfen, sich in der Gesellschaft wiedereinzugliedern, möglichst rasch sein Selbstvertrauen wiederzufinden und sein Schicksal zu meistern. Die Hilfe soll eingestellt werden, sobald das Opfer wieder auf eigenen Füssen stehen kann (DOMINIK ZEHNTNER, in: Kommentar zum Opferhilfegesetz, 2005, N. 8 zu Art. 1 aOHG).
Die Opferhilfe ist geeignet, die Mobilität innerhalb der Gemeinschaft im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zu erleichtern. Sie stellt demnach eine soziale Vergünstigung nach Art. 9 Abs. 2 Anhang I FZA dar. Es gilt das Diskriminierungsverbot nach Art. 2 FZA. Für das Recht auf Opferhilfe folgt daraus, dass kein Unterschied zwischen Schweizer Staatsangehörigen und den Angehörigen der Vertragsstaaten gemacht werden darf (vgl. auch HAVERKATE/HUSTER, a.a.O., N. 370). Im Anwendungsbereich des Freizügigkeitsabkommens sind hinsichtlich der Opferhilfe Angehörige der Vertragsstaaten Schweizer Staatsangehörigen gleichzustellen. Die Beschwerdeführerin kann demnach, soweit die weiteren spezifischen opferhilferechtlichen Voraussetzungen gegeben sind, Opferhilfe beanspruchen.
Referenzen
BGE: 128 II 107, 137 II 122
Artikel: Art. 2 FZA, Art. 9 Abs. 2 Anhang I FZA, Art. 16 Abs. 2 FZA