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Chapeau

107 Ia 292


59. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 22. Dezember 1981 i.S. Nyffeler gegen Einwohnergemeinde Graben und Regierungsrat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Liberté d'opinion, liberté de réunion, liberté de presse; règlement de la commune de Graben sur l'utilisation du domaine public pour des manifestations.
Point de vue déterminant lors de l'examen de la constitutionnalité d'une telle réglementation (consid. 2b, c).
Les dispositions attaquées sont - à l'exception de l'une d'entre elles - compatibles avec la constitution (consid. 3, 5-8).
La règle qui oblige les organisateurs à indiquer les noms des orateurs éventuels, lors d'une demande d'autorisation pour une manifestation, constitue une atteinte inadmissible à la liberté d'opinion (consid. 4).

Faits à partir de page 293

BGE 107 Ia 292 S. 293
Am 20. Dezember 1978 erliess die Gemeindeversammlung von Graben ein Reglement über die Benutzung des öffentlichen Grundes für Veranstaltungen. Die Polizeidirektion des Kantons Bern genehmigte das Reglement mit Beschluss vom 19. September 1979 unter Streichung zweier Bestimmungen. Rudolf Nyffeler, ein Einwohner der Gemeinde Graben, zog den Entscheid an den Regierungsrat weiter. Dieser hiess am 30. Juni 1981 die Beschwerde teilweise gut und formulierte demgemäss eine Bestimmung neu, nämlich diejenige betreffend das Verbot von Veranstaltungen auf öffentlichem Grund an Feiertagen (Art. 4 des Reglementes); im übrigen wurde die Beschwerde abgewiesen.
Rudolf Nyffeler führt gegen den Entscheid des Regierungsrates staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Meinungsäusserungs- und der Versammlungsfreiheit, der persönlichen Freiheit, der Pressefreiheit und des Art. 4 BV. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Considérants

Aus den Erwägungen:

2. a) Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass die Kantone die über den Gemeingebrauch hinausgehende Benützung des öffentlichen Grundes zu politischen Zwecken einer Bewilligungspflicht unterstellen dürfen. Auch wird nicht geltend gemacht, dem angefochtenen Reglement fehle eine ausreichende gesetzliche Grundlage. Die Beschwerde richtet sich vielmehr gegen einzelne Bestimmungen, die als eine unzulässige Einschränkung der Meinungsäusserungs- und der Versammlungsfreiheit (in einem Falle auch der Pressefreiheit) betrachtet werden. Der Rüge der Verletzung von Art. 4 BV im Sinne einer Missachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit kommt daneben keine selbständige Bedeutung zu. Dasselbe gilt für den Vorwurf der Verletzung des ungeschriebenen verfassungsmässigen Rechtes der persönlichen Freiheit, das seinen Anwendungsbereich ausschliesslich dort findet, wo die in der Bundesverfassung ausdrücklich gewährleisteten Grundrechte nicht ausreichen (BGE 104 Ia 39 /40).
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b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts, welche in der vorliegenden Beschwerde nicht in Frage gestellt wird, besteht nach schweizerischem Verfassungsrecht keine unbeschränkte Demonstrationsfreiheit in dem Sinne, dass öffentlicher Grund vorbehaltlos zu politischen Zwecken zur Verfügung gestellt werden müsste. Einschränkende Bestimmungen der Kantone und der Gemeinden sind zulässig, soweit sie Polizeigüter wie namentlich die Sicherheit und das Ruhebedürfnis der Einwohner und den öffentlichen Verkehr zu schützen bestimmt sind. Auch andere öffentliche Interessen, wie beispielsweise eine zweckmässige Nutzung der öffentlichen Anlagen zugunsten der Allgemeinheit, dürfen berücksichtigt werden. Doch ist die Behörde bei der Beurteilung solcher Fragen nicht nur an das Willkürverbot und an den Grundsatz der Rechtsgleichheit gebunden. Sie hat darüber hinaus den besonderen ideellen Gehalt der Freiheitsrechte, um deren Ausübung es geht, in die Interessenabwägung einzubeziehen. Insoweit entfalten die Meinungsäusserungs- und die Versammlungsfreiheit ihre Wirkungen auch bei Betätigungsformen, die mit gesteigertem Gemeingebrauch verbunden sind. Die Behörde hat demnach die sich entgegenstehenden Interessen nach objektiven Gesichtspunkten gegeneinander abzuwägen und dabei dem legitimen Bedürfnis, Veranstaltungen mit Appellwirkung an die Öffentlichkeit durchführen zu können, angemessen Rechnung zu tragen. Das Bundesgericht prüft grundsätzlich frei, ob ein angefochtener Erlass oder Entscheid mit diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen vereinbar sei. Es setzt jedoch nicht sein Ermessen an die Stelle desjenigen der zuständigen kantonalen und kommunalen Behörden, und es übt Zurückhaltung, wo es um die Würdigung der besonderen örtlichen Verhältnisse geht (BGE 107 Ia 66 f.; BGE 105 Ia 21 E. 4, 94 E. 3; BGE 103 Ia 312 E. 3b; BGE 102 Ia 53 f. E. 3; BGE 100 Ia 402 f. E. 5 mit weiteren Hinweisen).
c) Im vorliegenden Fall geht es nicht um einschränkende Anordnungen in einer Verfügung, sondern um solche in einem Erlass. In derartigen Fällen gelten hinsichtlich der Überprüfung durch das Bundesgericht zunächst die nämlichen Gesichtspunkte (BGE 102 Ia 53). Indessen kommt es im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle einzig darauf an, ob der betreffenden Norm nach anerkannten Auslegungsregeln ein Sinn beigemessen werden kann, der sie als mit den angerufenen Verfassungsgarantien vereinbar erscheinen lässt. Das Bundesgericht hebt die angefochtene Vorschrift grundsätzlich nur dann auf, wenn sie sich jeder
BGE 107 Ia 292 S. 295
verfassungskonformen Auslegung entzieht, nicht jedoch, wenn sie einer solchen in vertretbarer Weise zugänglich ist (BGE 106 Ia 137 E. 3a; BGE 104 Ia 99 f. E. 9, 249 f. E. 4c mit Hinweisen).
Der Beschwerdeführer will diese Auslegungsregel hier nicht oder doch nicht uneingeschränkt gelten lassen. Er glaubt, gerade in einer kleinen Landgemeinde, deren Verwaltung keine juristisch gebildeten Mitarbeiter zur Verfügung stünden, bestehe die Gefahr, dass Vorschriften, die der Behörde eine erhebliche Entscheidungsfreiheit lassen, verfassungswidrig interpretiert werden könnten. An ein Reglement für die 297 Einwohner zählende Gemeinde Graben seien daher hinsichtlich der Genauigkeit der einzelnen Bestimmungen höhere Anforderungen zu stellen als etwa an ein solches der Stadt Zürich über den gleichen Gegenstand. Der Beschwerdeführer beruft sich in diesem Zusammenhang auf das in BGE 106 Ia 136 ff. publizierte Urteil, in welchem ausgeführt wurde, es sei die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung nicht nur abstrakt zu untersuchen, sondern in die Würdigung sei auch die Wahrscheinlichkeit verfassungstreuer Auslegung miteinzubeziehen. Es lasse sich nicht rechtfertigen, eine Norm bestehen zu lassen, wenn anzunehmen sei, dass sie in der vorliegenden Fassung zu Verfassungsverletzungen führen werde.
Das angeführte Urteil bezog sich auf ein Gefängnisreglement. Es ging um Einschränkungen der Gefangenen in der persönlichen Freiheit, bei denen das Bundesgericht einen besonders strengen Massstab anzulegen hatte. Ausserdem war zu berücksichtigen, dass das Reglement durch Gefängnispersonal anzuwenden war, dem eine selbständige Beurteilung rechtlicher Fragen kaum zuzumuten war. Indessen ginge es nicht an, für andere Vorschriften, insbesondere für solche betreffend die Ortspolizei, bei der Überprüfung durch das Bundesgericht einen grundsätzlichen Unterschied zu machen, je nachdem, ob es sich um die Verordnung einer Landgemeinde oder um diejenige einer Stadt handelt. Die Gemeindeautonomie hat - abgesehen von den Unterschieden, die sich aus dem kantonalen Verfassungsrecht ergeben und die hier nicht von Bedeutung sind - in beiden Fällen grundsätzlich dieselbe Tragweite. Es steht dem Verfassungsrichter nicht zu, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob der eine Gemeinderat zu verfassungsmässiger Anwendung geltender Vorschriften besser imstande sei als der andere. Die Erfahrung zeigt denn auch, dass Entscheide der Behörden von Landgemeinden nicht notwendigerweise zu mehr Beanstandungen Anlass geben als solche der Behörden von Städten,
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die über einen Stab von Juristen und Verwaltungsfachleuten verfügen.
Dazu kommt ein weiteres. Während ein Gefängnisbetrieb ohne reglementarische Umschreibung der Rechte und Pflichten der Insassen nicht denkbar ist (vgl. BGE 99 Ia 268 E. 4), trifft dasselbe für die Benützung des öffentlichen Grundes für Sonderzwecke nicht zu. Es besteht keine Vorschrift des Bundesrechts, welche den Erlass entsprechender Verordnungen oder Reglemente geböte, und es wird auch nicht dargetan, dass die bernischen Gemeinden aufgrund kantonalen Rechtes hierzu verpflichtet wären. Wird kein Reglement erlassen, so haben die Gemeinden im Einzelfalle in Anwendung der allgemeinen Grundsätze des eidgenössischen Verfassungsrechtes und des kantonalen Rechtes, jedoch ohne weitere Bindung, über Gesuche um Bewilligung zur Benützung öffentlichen Grundes zu Sonderzwecken, namentlich zu politischen Demonstrationen, zu entscheiden. Kann aber der Erlass eines Reglementes für dieses Sachgebiet überhaupt nicht verlangt werden, so geht es auch nicht an, an die Genauigkeit eines solchen besonders hohe Anforderungen zu stellen. So lange ein Reglement nicht gegen übergeordnetes Recht verstösst, kann es deswegen, weil es der Gemeindebehörde für den Einzelfall einen beträchtlichen Beurteilungsspielraum belässt, nicht als verfassungswidrig erklärt werden. Die Rechtsprechung, wonach eine Norm im bundesgerichtlichen Kontrollverfahren nur dann aufgehoben werden darf, wenn sie sich einer verfassungskonformen Auslegung entzieht, muss demnach in einem Fall der vorliegenden Art, wo die Rechtsanwendung nicht in die Zuständigkeit untergeordneter Beamter, sondern der Gemeindebehörde selbst fällt, volle Geltung haben.
Es ist unter dem Gesichtspunkt der dargelegten Grundsätze zu prüfen, ob die beanstandeten Bestimmungen des Reglementes vor der Verfassung standhalten.

3. Der Beschwerdeführer kritisiert zunächst die in Art. 2 des Reglementes enthaltene Anordnung, dass Gesuche betreffend die Benützung öffentlichen Grundes für Veranstaltungen "grundsätzlich spätestens 72 Stunden vor Beginn der bewilligungspflichtigen Veranstaltung" einzureichen sind. Er macht geltend, eine so lange Frist sei durch das öffentliche Interesse nicht gerechtfertigt und daher unverhältnismässig. Spontane Demonstrationen als Reaktion auf aktuelle Ereignisse würden dadurch verunmöglicht. Dem hält der Regierungsrat des Kantons Bern entgegen, in der Regel bestehe nicht nur für den Ordnungsdienst, sondern auch für die
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Veranstalter das Bedürfnis, mehrere Tage vor der geplanten Veranstaltung Vorbereitungen zu treffen. Die Wendung "grundsätzlich" lasse für begründete Ausnahmen durchaus Raum. Die Gemeinde Graben bemerkt zu diesem Punkt, schon das geringe Platzangebot auf Gemeindeboden erfordere von seiten der Behörden eine umsichtige Planung und Vorbereitung, für die eine Frist von drei Tagen ein Minimum darstelle.
Dem Regierungsrat und der Einwohnergemeinde Graben ist darin beizupflichten, dass den Behörden für die im Interesse der Aufrechterhaltung des Verkehrs und der öffentlichen Ordnung im allgemeinen zu treffenden Massnahmen eine gewisse, nicht zu kurz bemessene Frist zur Verfügung stehen muss. Der Beschwerdeführer anerkennt denn auch selbst, dass im Rahmen dieser Vorbereitungen jeweils unter sorgfältiger Interessenabwägung individuell-konkrete Anordnungen zu treffen sind. Zieht man in Betracht, dass es nicht möglich ist, den Gemeinderat zu jeder beliebigen Stunde zu versammeln, und berücksichtigt man weiter, dass in der Gemeinde Graben der Ordnungsdienst nur in Zusammenarbeit mit den zuständigen kantonalen Instanzen (Regierungsstatthalter und Kantonspolizei) gesichert werden kann, so erscheint die hier für den Regelfall festgesetzte Frist von 72 Stunden nicht als übersetzt. Im übrigen ist das Reglement, wie der Regierungsrat zutreffend ausführt, in diesem Punkt nicht absolut formuliert, sondern es lässt Raum für die Bewilligung von Veranstaltungen auf kürzere Frist. Das nötige Urteilsvermögen dafür, ob eine solche mehr oder weniger improvisierte Veranstaltung noch ohne Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durchgeführt werden kann oder nicht, darf der Gemeindebehörde durchaus zugetraut werden. Dafür, dass der Gemeinderat grundsätzlich nicht gewillt wäre, ausnahmsweise kleinere Veranstaltungen, die keine aufwendigen Vorbereitungen erfordern, innert kürzerer Frist zu bewilligen, fehlen konkrete Anhaltspunkte; für Grossveranstaltungen ist eine mindestens dreitägige Vorbereitungsfrist ohnehin unumgänglich. Die Regelung, wonach Bewilligungsgesuche grundsätzlich spätestens 72 Stunden vor Beginn der bewilligungspflichtigen Veranstaltung einzureichen sind, kann somit nicht als verfassungswidrig bezeichnet werden.

4. Im nämlichen Artikel 2 ist vorgesehen, es müssten im Bewilligungsgesuch nicht nur die Namen der verantwortlichen Organisatoren und Leiter, sondern auch diejenigen allfälliger Redner bekanntgegeben werden. Der Regierungsrat macht geltend,
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diese Vorschrift diene nicht der Kontrolle der Meinung dieser Redner, sondern sie sei zusammen mit den übrigen geforderten Angaben dazu bestimmt, den Behörden einen Überblick über den Charakter der Veranstaltung, die zu erwartende Belastung des öffentlichen Grundes und die mögliche Gefährdung von Ruhe und Sicherheit zu geben. Es bestehe ein wesentlicher Unterschied, ob ein national oder international bekannter Redner zu erwarten sei oder ob sich nur wenig bekannte Personen äusserten, die kaum eine grosse Anzahl Teilnehmer anzuziehen vermöchten. Im übrigen schränke die angefochtene Bestimmung die Freiheit der Veranstalter nur in geringem Masse ein, da die Redner spätestens an der Veranstaltung selbst aus der Anonymität heraustreten müssten. Die Gemeinde Graben schliesst sich diesen Ausführungen an. Der Beschwerdeführer dagegen sieht in der Pflicht zur Nennung der Namen allfälliger Redner eine Art Vorzensur, und er macht geltend, die erwähnte Bestimmung führe zum Ausschluss spontaner Reden, da die Veranstalter sonst mit Busse zu rechnen hätten.
Dem Beschwerdeführer ist darin zuzustimmen, dass sich die Pflicht zur Bezeichnung der Redner bereits im Bewilligungsgesuch unter Umständen wie eine Vorzensur auswirken kann. Das Reglement enthält keine Vorschrift, wonach der Entscheid über die Bewilligung einer Veranstaltung nicht von den als Redner genannten Persönlichkeiten abhängig gemacht werden dürfte; eine solche Vorschrift wäre auch kaum durchsetzbar. Die angefochtene Bestimmung lässt sich daher nur aufrechterhalten, wenn sie als unumgänglich erscheint, um den Behörden ein Urteil über den im konkreten Fall angemessenen Ordnungsdienst zu ermöglichen. Dies kann indes nicht gesagt werden. Wohl mag der Name eines Redners einen gewissen zusätzlichen Personenkreis anziehen; doch sind andere Tatsachen weit eher geeignet, den Behörden eine Schätzung der zu erwartenden Teilnehmerzahl zu ermöglichen, so in erster Linie die Sache, um welche es bei der geplanten Veranstaltung geht, dann der für die Veranstaltung vorgesehene Wochentag, die Zeit des Beginns und die Art der öffentlichen Bekanntmachung, z.B. Angaben über vorgesehene Extrazüge. Die Vorschrift, wonach allfällige Redner schon im Bewilligungsgesuch bekanntzugeben sind, verunmöglicht - jedenfalls wenn sie ihrem Wortlaut entsprechend ausgelegt wird - jedem nicht auf der Rednerliste figurierenden Veranstaltungsteilnehmer, spontan das Wort zu ergreifen. Eine solche Lösung bedeutet einen unverhältnismässigen
BGE 107 Ia 292 S. 299
Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit. Wie es sich verhielte, wenn jeweils nur die Hauptredner genannt werden müssten, ist nicht zu prüfen, da weder der Regierungsrat noch der Gemeinderat von Graben sich dahin geäussert haben, dass die angefochtene Bestimmung entgegen ihrem Wortlaut in diesem Sinne einschränkend zu interpretieren sei. Auch dann wären wohl nicht alle Bedenken behoben, dürfte es doch in der Praxis schwierig sein, zwischen Hauptrednern und blossen Votanten zu unterscheiden. Die beanstandete Bestimmung entzieht sich in ihrer jetzigen Formulierung einer verfassungskonformen Auslegung. Die Beschwerde ist daher in diesem Punkt gutzuheissen, und der Genehmigungsbeschluss des Regierungsrates ist aufzuheben, soweit er sich auf die in Art. 2 des Reglementes vorgesehene Pflicht zur Bekanntgabe allfälliger Redner bezieht.

5. In Art. 3 Abs. 1 des Reglementes ist vorgesehen, dass die Bewilligung zur Benützung des öffentlichen Grundes "aus verkehrspolizeilichen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit verweigert oder mit entsprechenden Auflagen" versehen werden kann. Der Beschwerdeführer beanstandet diese Bestimmung als unverhältnismässig. Er glaubt, die Ortsbehörden würden dazu neigen, gestützt auf diesen Text die Versammlungs- und die Meinungsäusserungsfreiheit weitgehend zu beschränken.
Die angefochtene Bestimmung enthält im wesentlichen nichts anderes als eine Zusammenfassung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung über die in Fällen der vorliegenden Art zulässigen Eingriffe, wie sie vorn wiedergegeben worden ist (vgl. Erw. 2b). Es ist nicht ersichtlich, weshalb eine solche Vorschrift verfassungswidrig sein sollte. Dass dem Gemeinderat von Graben bei der Beurteilung konkreter Gesuche ein ebenso grosser Ermessensspielraum einzuräumen ist wie den Behörden grösserer Ortschaften, ist bereits dargelegt worden. Der Umstand, dass sich der Gemeindepräsident von Graben einmal im Fernsehen kritisch gegenüber Grosskundgebungen in der Gemeinde geäussert haben soll, bedeutet nicht, dass der Gemeinderat als Gesamtbehörde nicht in der Lage wäre, allfällige Gesuche objektiv und sachgemäss zu beurteilen. Die Tatsache, dass nach den Angaben der Gemeinde in Graben nur zwei öffentliche Plätze vorhanden sind, von denen der eine etwa für 300 und der andere höchstens für etwa 500 Personen Platz bietet, zwingt zu sorgfältiger Prüfung jedes einzelnen Gesuches, wobei die örtlichen Verhältnisse von ausschlaggebender
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Bedeutung sind. Die angefochtene Bestimmung als solche verstösst somit nicht gegen den vom Bundesgericht aufgestellten Satz, wonach die Freiheit die Regel und die Beschränkung die Ausnahme bilde (BGE 103 Ia 312). Er bedeutet nicht, dass ein Anspruch darauf bestünde, Veranstaltungen auch an ungeeigneten Orten und zu ungeeigneten Zeiten durchführen zu dürfen. Art. 3 Abs. 1 des Reglementes hält nach dem Gesagten vor der Verfassung stand.

6. Nach Art. 3 Abs. 2 des Reglementes können Veranstaltungen in einem Raum oder im Freien "wegen mit Bestimmtheit oder hoher Wahrscheinlichkeit vorauszusehender Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" verboten werden. Es ist unbestritten, dass diese Bestimmung Veranstaltungen auf privatem Grund betrifft. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorschrift enthalte eine Kodifizierung der allgemeinen Polizeiklausel, wobei aber die von der Rechtsprechung entwickelten Anwendungskriterien beiseite gelassen worden seien.
Die angefochtene Bestimmung passt nicht ohne weiteres in ein "Reglement über die Benützung des öffentlichen Grundes". Dies bedeutet jedoch noch nicht, dass sie verfassungswidrig wäre. Zwar trifft es zu, dass nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Veranstaltungen in privaten Lokalen nur aus besonders schwerwiegenden Gründen untersagt werden dürfen (BGE 103 Ia 312). Die hier in Frage stehende Bestimmung hält sich in diesem Rahmen und damit auch in demjenigen der allgemeinen Polizeiklausel, wie sie in Art. 39 der Verfassung des Kantons Bern umschrieben ist (vgl. dazu Entscheid der Commission européenne des droits de l'homme im Fall Moutier, veröffentlicht in: Décisions et rapports 1980, Heft 17, S. 104 ff.). Entscheidend ist, dass für solche Veranstaltungen eine vorgängige Bewilligung nicht eingeholt werden muss und dass ein Verbot nur bei einer konkreten Gefahr für die öffentliche Ordnung ergehen darf. Dies kommt im angeführten Satz mit hinlänglicher Deutlichkeit zum Ausdruck. Dem Einwand des Beschwerdeführers, in Moutier hätten um die fragliche Zeit besonders kritische, geradezu bürgerkriegsähnliche Zustände geherrscht, ist entgegenzuhalten, dass die Behörden kein Vorwurf trifft, wenn sie in einem neuen Reglement auch eine jedenfalls theoretisch denkbare Verschärfung der Situation in Graben im Zusammenhang mit weiteren Entscheiden über das Projekt einer Kernkraftanlage mit in Rechnung stellen. Dass der Gemeinderat die umstrittene Bestimmung in einer mit den verfassungsmässigen
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Grundsätzen unvereinbaren Art zur Anwendung bringen werde, darf nicht unterstellt werden. Es kann hier auf bereits Gesagtes verwiesen werden (vgl. Erw. 2c und 5).

7. In Art. 4 des Reglementes geht es um die Zeit, zu der Veranstaltungen auf öffentlichem Grund durchgeführt werden dürfen. Auf Grund der Änderungen, welche die Polizeidirektion und der Regierungsrat des Kantons Bern an dieser Bestimmung vorgenommen haben, sind solche Veranstaltungen noch untersagt an den hohen Festtagen sowie an den übrigen Tagen in der Zeit zwischen 22.00 und 7.00 Uhr. Der Gemeinderat kann aus triftigen Gründen Ausnahmen bewilligen. Der Beschwerdeführer sieht auch in dieser Bestimmung eine unzulässige Beschränkung der Versammlungs- und der Meinungsäusserungsfreiheit. Er glaubt, dass gerade im Falle von Graben vor allem ein Pfingstmarsch und allenfalls ein sogenanntes "Grabenfest" in Betracht kommen; solche Veranstaltungen würden durch die erwähnten zeitlichen Einschränkungen empfindlich beeinträchtigt, ja sogar faktisch verunmöglicht.
Das Bundesgericht hat in BGE 102 Ia 54 ff. entsprechende Vorschriften der Stadt Zürich, die hinsichtlich der Sonntagsruhe sogar weiter gingen als diejenigen von Graben, als mit der Verfassung vereinbar erklärt. Sowohl für die Ruhetage als auch für die Nachtstunden wurde ausgeführt, es lasse sich mit guten Gründen vertreten, das Bedürfnis der Bürger nach Sonntags- und Nachtruhe höher einzustufen als das Interesse der politischen Gruppen, Veranstaltungen auf öffentlichem Grund auch an Sonntagen und an den übrigen Tagen während der Nachtstunden durchführen zu können. Hieran ist festzuhalten mit dem Bemerken, dass die für Graben geltende Regelung, welche politische Veranstaltungen auf öffentlichem Grund nur an den sechs höchsten Feiertagen des Jahres verbietet (vgl. das bernische Gesetz über die öffentlichen Feiertage und die Sonntagsruhe vom 6. Dezember 1964, Art. 2), als eher grosszügig erscheint. Wenn der Beschwerdeführer die Unterschiede zwischen einer Landgemeinde wie Graben und der Stadt Zürich betont, so verkennt er, dass das Bedürfnis nach Feiertagsruhe auf dem Land nicht geringer veranschlagt werden darf als in der Stadt. Dass in Graben derartige Veranstaltungen weniger häufig durchgeführt werden als etwa in Zürich, ist unter diesem Gesichtswinkel nicht entscheidend. Insbesondere ist nicht einzusehen, weshalb ein Anspruch gerade auf eine Veranstaltung an Pfingsten bestehen sollte. Zwar leuchtet es ein, dass für eine
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grössere Veranstaltung unter Berücksichtigung der Hin- und Wegreise der Teilnehmer vielleicht mehr als ein Tag zur Verfügung stehen sollte; doch kommen hiefür sämtliche nicht mit hohen Feiertagen zusammenfallenden Wochenenden in Frage, so dass der Wegfall des Pfingstsonntags nicht als unerträgliche Einschränkung der Versammlungsfreiheit betrachtet werden kann. Im übrigen handelt es sich bei der Gewichtung der Feiertage um eine Frage, die mit einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse verknüpft ist, weshalb sich das Bundesgericht bei der Überprüfung der gewählten Lösung Zurückhaltung aufzuerlegen hat. Dass die Nachtruhe der Bevölkerung vor lärmigen öffentlichen Veranstaltungen geschützt werden darf, erscheint als derart selbstverständlich, dass sich weitere Ausführungen hierzu erübrigen. Den Beginn der Ruhezeit auf 22.00 Uhr festzusetzen, ist gerade in ländlichen Verhältnissen, wo die tägliche Arbeit früh morgens beginnt, jedenfalls vertretbar, wobei ergänzend darauf hinzuweisen ist, dass des Nachts auch die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, deren Notwendigkeit unbestritten ist, erheblich erschwert ist. Schliesslich bleibt festzustellen, dass das Reglement es ermöglicht, in einem Sonderfall ausnahmsweise den abendlichen Schluss der Veranstaltung auf eine spätere Zeit zu verschieben. Art. 4 des Reglementes in der vom Regierungsrat abgeänderten Fassung ist somit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

8. Schliesslich kritisiert der Beschwerdeführer Art. 7 des Reglementes, der wie folgt lautet:
"Drucksachen, Schriften, Bilder und dergleichen, welche zu nicht bewilligten Veranstaltungen aufrufen oder die im Widerspruch zu Auflagen der Bewilligung verteilt oder mitgeführt werden, sind durch die Polizei einzuziehen."
Der Beschwerdeführer leitet aus der zweiten der hier genannten Voraussetzungen der Beschlagnahmung ("im Widerspruch zu Auflagen der Bewilligung" stehende Schriften usw.) ab, dass der Gemeinderat in einer Auflage die Verteilung von Druckschriften verbieten könne. Dies verstosse gegen die Meinungsäusserungs- und die Pressefreiheit, wie sie ausser in der Bundesverfassung noch speziell in Art. 77 Abs. 3 der bernischen Kantonsverfassung gewährleistet sei; er verweist in diesem Zusammenhang auf BGE 96 I 219. Der Regierungsrat anerkennt, dass Art. 7 des Reglementes wenig klar formuliert sei. Er führt aus, diese Bestimmung müsse in Verbindung mit Art. 5 des Reglementes verstanden werden, wonach "Flugblätter politischen Inhalts und Einladungen zu
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bewilligten politischen Veranstaltungen auf dem öffentlichen Grund sowie zu politischen Veranstaltungen auf Privatgrund" unter Vorbehalt von Art. 322 Ziff. 1 StGB (Angabe von Verleger und Drucker) jederzeit ohne besondere Erlaubnis verteilt werden dürften. Der Regierungsrat glaubt, aufgrund dieser Bestimmung sei keine Auflage denkbar, welche das Verteilen oder Mitführen entsprechender Flugblätter verbieten würde. Dem hält der Beschwerdeführer entgegen, die Umschreibung der allenfalls der Konfiskation unterliegenden Gegenstände in Art. 7 sei weiter als diejenige der bewilligungsfreien Drucksachen gemäss Art. 5. Er erklärt, gegen eine Formulierung, wonach (nur) Drucksachen, Schriften, Bilder und dergleichen einzuziehen seien, die eine verbotene Aufforderung oder Ankündigung enthalten, wäre nichts einzuwenden.
Liest man die Art. 5 und 7 des Reglementes im Zusammenhang, so erscheint die Auffassung des Regierungsrates als einleuchtend, wonach sich auf Art. 7 keine Vorzensur stützen liesse. Dass in dieser Bestimmung neben den Drucksachen und Schriften auch Bilder erwähnt sind, ist vielleicht nicht absolut logisch, ändert aber am Verhältnis der beiden Bestimmungen zueinander in grundsätzlicher Hinsicht nichts; denn eine Vorzensur von Bildern, die nicht in Flugblättern oder diesen gleichzuachtenden Druckschriften enthalten sind, ist ohnehin kaum denkbar. Die Erwägungen des Regierungsrates sind im übrigen durch einen Hinweis auf die neueste, BGE 96 I 219 präzisierende Rechtsprechung des Bundesgerichts zu ergänzen. In BGE 105 Ia 21 f. wurde im Zusammenhang mit der Verteilung eines Aufrufs zur Besetzung des Kernkraftwerks Gösgen ausgeführt, die Behörden seien nicht verpflichtet, öffentlichen Grund zur Verfügung zu stellen, um einen Aufruf zu rechtswidrigen und vielleicht sogar strafbaren Handlungen zu erleichtern. Es ist demnach zulässig, mit einer Bewilligung im Sinne des Reglements die Auflage zu verknüpfen, es dürften bei der Veranstaltung keine Aufforderungen zu rechtswidrigen Handlungen verteilt oder mitgeführt werden, ohne dass deswegen die Flugblätter, Schriften, Bilder usw. der Behörde zur Vorzensur unterbreitet werden müssten. Man gelangt so zum Ergebnis, dass Art. 7 des Reglements, wie bereits der Regierungsrat festgestellt hat, zwar unglücklich formuliert ist, indem in den beiden Satzteilen praktisch dasselbe gesagt wird; von einer Verfassungsverletzung kann jedoch deswegen nicht gesprochen werden.

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 2 3 4 5 6 7 8

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