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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_328/2020  
 
 
Urteil vom 20. Mai 2021  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiberin Unseld. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Sandro Horlacher, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Nichteintreten auf Einsprache; Rückzugsfiktion (Art. 355 Abs. 2 StPO), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, vom 24. Januar 2020 (BES.2019.137). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt sprach A.________ mit Strafbefehl vom 2. April 2019 des mehrfachen versuchten Diebstahls, der einfachen Körperverletzung, der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie der Sachbeschädigung schuldig und verurteilte ihn unter Anrechnung des bereits erstandenen Polizeigewahrsams von zwei Tagen zu einer Freiheitsstrafe von 180 Tagen. Sie verfügte zudem über die beschlagnahmten Gegenstände und auferlegte A.________ Auslagen in der Höhe von Fr. 264.-- sowie eine Abschlussgebühr von Fr. 250.--. A.________ erhob gegen den Strafbefehl rechtzeitig Einsprache. 
 
B.   
In der Folge lud die Staatsanwaltschaft A.________ zwecks Einvernahme für den 30. April 2019 vor. A.________ beantragte anlässlich der Einvernahme einen Anwalt und anstatt der anwesenden Französisch-Dolmetscherin eine Arabisch-Dolmetscherin, weshalb die Einvernahme nicht durchgeführt bzw. abgebrochen wurde. Zur zweiten Einvernahme vom 5. Juni 2019 erschien der Verteidiger von A.________, nicht jedoch dieser selber. Mit Eingabe vom 13. Juli 2019 teilte der Verteidiger der Staatsanwaltschaft mit, A.________ sei am 5. Juni 2019 krank gewesen. Später reichte der Verteidiger ein ärztliches Zeugnis vom 20. Juni 2019 nach, wonach A.________ aus gesundheitlichen Gründen Mühe habe, Termine wahrzunehmen. Mit Verfügung vom 28. Juni 2019 trat die Staatsanwaltschaft auf die Einsprache von A.________ gegen den Strafbefehl vom 2. April 2019 gestützt auf Art. 355 Abs. 2 StPO nicht ein. 
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 24. Januar 2020 ab. 
 
C.   
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Entscheid vom 24. Januar 2020 sei aufzuheben und die Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, auf seine Einsprache einzutreten. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. A.________ ersucht um aufschiebende Wirkung und unentgeltliche Rechtspflege. 
 
D.   
Die Staatsanwaltschaft beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Das Appellationsgericht verzichtete auf eine Stellungnahme. A.________ reichte eine Replik ein. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Staatsanwaltschaft argumentiert in ihrer Stellungnahme, der Beschwerdeführer beschränke sich darauf, seinen Standpunkt zu bekräftigen, den er schon im vorinstanzlichen Verfahren vertreten habe. Er lege einzig dar, dass das angefochtene Urteil mit seiner eigenen Sachverhaltsinterpretation und rechtlichen Würdigung nicht übereinstimme. Damit übe er blosse appellatorische Kritik am angefochtenen Urteil, weshalb auf die Beschwerde nicht einzutreten sei. 
Dem kann nicht gefolgt werden. Die Beschwerde genügt den gesetzlichen Begründungsanforderungen, zumal auch Rechtsfragen zu beurteilen sind, welche das Bundesgericht mit freier Kognition prüft (Art. 106 Abs. 1 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz gehe zu Unrecht davon aus, er und sein Verteidiger hätten am Abend vor dem 5. Juni 2019 miteinander telefoniert. Der Verteidiger des Beschwerdeführers bestreitet dies. Mit Ausnahme der Aktennotiz der Staatsanwaltschaft vom 5. Juni 2019 gebe es dafür keine Hinweise. Die Kommunikation zwischen der Verteidigung und dem Beschuldigten falle ohnehin in den absoluten Geheimbereich.  
 
2.2.  
 
2.2.1. Wird gegen einen Strafbefehl Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind (Art. 355 Abs. 1 StGB). Bleibt eine Einsprache erhebende Person trotz Vorladung einer Einvernahme unentschuldigt fern, so gilt ihre Einsprache als zurückgezogen (Art. 355 Abs. 2 StPO). Die Rückzugsfiktion setzt nach der Rechtsprechung voraus, dass die beschuldigte Person effektiv Kenntnis von der Vorladung und der Pflicht zum persönlichen Erscheinen hat und dass sie hinreichend über die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens in einer ihr verständlichen Weise belehrt wurde (BGE 146 IV 286 E. 2.2, 30 E. 1.1.1; 142 IV 158 E. 3.1; 140 IV 82 E. 2.5 und 2.7). Vorbehalten bleiben Fälle rechtsmissbräuchlichen Verhaltens (BGE 146 IV 30 E. 1.1.1 in fine; 140 IV 82 E. 2.7).  
 
2.2.2. Mitteilungen an Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, werden rechtsgültig an diesen zugestellt (Art. 87 Abs. 3 StPO). Hat eine Partei persönlich zu einer Verhandlung zu erscheinen oder Verfahrenshandlungen selbst vorzunehmen, so wird ihr die Mitteilung direkt zugestellt. Dem Rechtsbeistand wird eine Kopie zugestellt (Art. 87 Abs. 4 StPO). Die blosse Zustellung der Vorladung an den Rechtsanwalt genügt daher nicht. Art. 87 Abs. 4 StPO schränkt die in Art. 87 Abs. 3 StPO statuierte Regel ein (BGE 144 IV 64 E. 2.5). Art. 87 Abs. 3 StPO ist bei Vorladungen mit der Pflicht der Partei zum persönlichen Erscheinen nicht anwendbar (Urteile 6B_673/2015 vom 19. Oktober 2016 E. 1.2; 6B_552/2015 vom 3. August 2016 E. 2.3; STEFAN CHRISTEN, Anwesenheitsrecht im schweizerischen Strafprozessrecht mit einem Exkurs zur Vorladung, 2010, S. 126; SARARARD ARQUINT, in: Basler Kommentar, Strafprozessordnung/Jugendstrafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 5 zu Art. 87 StPO).  
 
2.2.3. Die in Art. 87 Abs. 4 StPO statuierte persönliche Vorladung rechtfertigt sich, weil die vorzuladende Person persönlich zum Erscheinen verpflichtet ist, sie sich mithin nicht vertreten lassen kann, die Säumnisfolgen allein sie treffen und ihr persönlich das Recht auf ein faires Verfahren zusteht (CHRISTEN, a.a.O., S. 126). Dies galt bereits vor Inkrafttreten der StPO (vgl. etwa GÉRARD PIQUEREZ, Traité de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2006, N. 1168 S. 734). Wer verpflichtet ist, einer Vorladung unter Androhung von Säumnisfolgen persönlich Folge zu leisten, hat ein Recht auf persönliche Zustellung der Vorladung. BGE 71 I 1 leitet dieses Recht aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör ab (BGE, a.a.O., E. 2).  
Den Parteien steht es frei, ein Zustelldomizil an einer anderen Adresse als an ihrem Wohnsitz oder ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort zu bestimmen (Art. 87 Abs. 1 StPO). Gibt die beschuldigte Person gegenüber den Strafverfolgungsbehörden als Zustellanschrift die Adresse ihres Verteidigers an, erfolgt die Zustellung der Vorladung rechtsgültig an diese Adresse mit Kopie an den Anwalt selber (Urteil 6B_673/2015 vom 19. Oktober 2016 E. 1). 
 
2.2.4. Der Beweis für die ordnungsgemässe Zustellung der Vorladung obliegt den Behörden (vgl. BGE 144 IV 57 E. 2.3 mit Hinweisen; Urteil 6B_876/2013 vom 6. März 2014 E. 2.3.2 mit Hinweis). Auch wenn den Rechtsbeistand eine Pflicht zur Weiterleitung der Vorladung treffen sollte, bleibt es die Aufgabe der vorladenden Behörde, für eine korrekte Zustellung der Vorladung an die beschuldigte Person und deren Nachweis besorgt zu sein (CHRISTEN, a.a.O., S. 126 f.).  
 
2.2.5. Eine unentschuldigte Abwesenheit im Sinne von Art. 355 Abs. 2 StPO ist zu verneinen, wenn eine Partei nicht ordnungsgemäss vorgeladen wurde (vgl. Urteile 6B_1112/2017 vom 12. März 2018 E. 1.2.1; 6B_672/2015 vom 19. Oktober 2016 E. 1.1; 6B_876/2013 vom 6. März 2014 E. 2.3.1). Dies ist der Fall, wenn die Vorladung der beschuldigten Person entgegen Art. 87 Abs. 4 StPO nicht persönlich, sondern nur ihrem Verteidiger zugestellt wurde (vgl. Urteil 6B_876/2013 vom 6. März 2014 E. 2.4.2). Eine Ausnahme davon gilt nur, wenn der Verteidiger die Vorladung erwiesenermassen an die beschuldigte Person weiterleitete und diese über die Vorladung über ihren Verteidiger in einer Weise in Kenntnis gesetzt wurde, die einer rechtsgültigen Zustellung gleichkommt (vgl. Urteil 6B_294/2009 vom 3. Juli 2009 E. 2.1 für das Abwesenheitsverfahren). Die Rückzugsfiktion kommt ebenfalls nicht zum Tragen, wenn die beschuldigte Person in Verletzung von Art. 202 Abs. 1 lit. b StPO zu kurzfristig zur Verhandlung vorgeladen wurde (Urteil 6B_167/2017 vom 25. Juli 2017 E. 2.4).  
 
2.3. Die Vorinstanz beruft sich im angefochtenen Entscheid auf Art. 87 Abs. 3 StPO. Sie erwägt, die (zweite) Vorladung vom 22. Mai 2019 sei der amtlichen Verteidigung zugestellt worden. Diese sei sodann auch pünktlich zur Einvernahme vom 5. Juni 2019 erschienen. Es dürfe somit davon ausgegangen werden, dass die berufsmässige Vertretung den Beschwerdeführer über die Einvernahme vom 5. Juni 2019 in Kenntnis gesetzt und dieser auch um die Folgen bei einem Nichterscheinen gewusst habe, zumal der Vorladung auch ein Auszug aus der StPO mit dem relevanten Art. 355 Abs. 2 StPO beigelegt gewesen sei. Zudem dürfe auch die Tatsache berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer etliche Vorstrafen aufweise und deshalb als im Strafverfahren nicht unerfahren bezeichnet werden könne (angefochtener Entscheid E. 3.2.1 S. 4). In diesem Zusammenhang erscheine die Bestreitung des Verteidigers, er habe am Abend vor der Einvernahme vom 5. Juni 2019 nicht mit dem Beschwerdeführer telefoniert, unglaubhaft. Dabei müsse er sich neben dem soeben Referierten auch die Notiz der Staatsanwaltschaft vom 5. Juni 2019 entgegenhalten lassen, wonach er anlässlich seines eigenen vergeblichen Eintreffens zur Einvernahme vom 5. Juni 2019 mitgeteilt habe, er habe am Vorabend einen Anruf des Beschwerdeführers erhalten, zumal die übrigen Notizen der Staatsanwaltschaft nicht in Zweifel gezogen würden (angefochtener Entscheid E. 3.2.2 S. 4).  
 
2.4. Der angefochtene Entscheid enthält keine Angaben zur Vorladung des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 87 Abs. 4 StGB. Ebenso wenig stellt die Vorinstanz fest, der Beschwerdeführer habe ein Zustelldomizil an der Adresse seines amtlichen Verteidigers kommuniziert. Die Vorinstanz beruft sich vielmehr auf Art. 87 Abs. 3 StPO und hält fest, die Vorladung sei dem amtlichen Verteidiger zugestellt worden, welcher seinen Klienten informiert und mit diesem am Abend vor der geplanten Einvernahme telefoniert habe. Letzteres wird vom Verteidiger bestritten.  
Damit kann nicht von einer ordnungsgemässen Vorladung im Sinne von Art. 87 Abs. 4 StPO ausgegangen werden. Unerheblich ist, ob der Beschwerdeführer am Tag vor der Verhandlung tatsächlich mit seinem Verteidiger telefonierte und dieser ihn mündlich über die bevorstehende Einvernahme informierte. Die Vorladung hat schriftlich (vgl. Art. 201 Abs. 1 StPO) und unter Einhaltung der gesetzlichen Fristen (Art. 202 Abs. 1 StPO) zu erfolgen. Die beschuldigte Person hat zudem Anspruch darauf, in einer ihr verständlichen Sprache über die Vorladung und die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens informiert zu werden (Art. 68 Abs. 2 StPO). Eine mündliche Information kann mit der gesetzlich vorgesehenen schriftlichen Vorladung insbesondere auch angesichts möglicher Verständigungsprobleme und dem Risiko von Missverständnissen nicht gleichgesetzt werden. Im Übrigen macht die Verteidigung zu Recht geltend, dass die Beweisführung zur Frage, ob der Beschwerdeführer von der Vorladung Kenntnis hatte, im Rahmen einer protokollierten Befragung des Verteidigers zu erfolgen hat (vgl. BGE 145 I 201 E. 4.1; Urteil 6B_144/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.2.3) und nicht in Form von informellen, in Unkenntnis des Anwalts mittels Aktennotiz dokumentierter Gespräche. 
Die nicht rechtskonforme Vorladung zur Einvernahme vom 5. Juni 2019 steht der Rückzugsfiktion im Sinne von Art. 355 Abs. 2 StPO entgegen. Der angefochtene Entscheid verstösst bereits aus diesem Grund gegen Bundesrecht. Damit erübrigt sich eine Behandlung der weiteren Rügen des Beschwerdeführers. 
 
3.   
Die Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Basel-Stadt hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Da dieser um unentgeltliche Rechtspflege ersucht, ist die Parteientschädigung praxisgemäss seinem Rechtsbeistand auszurichten. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gegenstandslos. 
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung wird mit dem Entscheid in der Sache ebenfalls gegenstandslos. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 24. Januar 2020 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Basel-Stadt hat Advokat Sandro Horlacher für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 20. Mai 2021 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Unseld