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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_441/2022  
 
 
Urteil vom 13. September 2022  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichterin Jametti, Bundesrichter Merz, 
Gerichtsschreiber Baur. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Silvio Oscar Mayer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg, 
Riburgerstrasse 4, Postfach, 4310 Rheinfelden. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Anordnung von Untersuchungshaft, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 22. August 2022 (SBK.2022.278 / MA). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg führt eine Strafuntersuchung gegen A.________ wegen Verdachts auf Drohung sowie Drohung gegen Behörden und Beamte. Sie wirft ihm vor, an einer Verhandlung vor dem Bezirksgericht Bremgarten am 18. August 2022 Drohungen gegen Leib und Leben ausgestossen zu haben. 
A.________ wurde am 18. August 2022 vorläufig festgenommen. Am 20. August 2022 wies das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung von Untersuchungshaft bis zum 18. November 2022 ab, da keine Ausführungsgefahr bestehe, und ordnete die unverzügliche Haftentlassung an. Gegen diesen Entscheid gelangte die Staatsanwaltschaft an das Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen. Mit Verfügung vom 22. August 2022 erteilte die Verfahrensleiterin der Beschwerdekammer dem Rechtsmittel auf Gesuch der Staatsanwaltschaft hin die "aufschiebende Wirkung" und ordnete für die Dauer des Beschwerdeverfahrens die Weiterführung der Haft an. 
 
B.  
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 22. August 2022 an das Bundesgericht beantragt A.________, die Verfügung der Verfahrensleiterin der Beschwerdekammer in Strafsachen aufzuheben und diese anzuweisen, ihn umgehend aus der Haft zu entlassen. Weiter sei festzustellen, dass er sich seit dem 20. August 2022 unrechtmässig in Haft befinde und die angefochtene Verfügung nichtig sei. 
Die Staatsanwaltschaft und die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. Letztere hat dabei auf die Ausführungen in der angefochtenen Verfügung sowie ihren am 24. August 2022 ergangenen Beschwerdeentscheid verwiesen, mit dem sie das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft abgewiesen und die unverzügliche Haftentlassung angeordnet hat. A.________ hat sich nicht mehr geäussert. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Fristgerecht (vgl. Art. 100 Abs. 1 BGG) angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, mit dem für die Dauer des Beschwerdeverfahrens gegen einen Haftentlassungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts die Weiterführung der Haft angeordnet worden ist. Gegen den Entscheid steht die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht grundsätzlich offen (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG). Es handelt sich um einen Zwischenentscheid, der nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG angefochten werden kann, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil (rechtlicher Natur; BGE 144 IV 127 E. 1.3.1) bewirken kann. Dies ist bei der Fortführung der Haft ohne Weiteres der Fall.  
 
1.2. Gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in Strafsachen berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b), insbesondere die beschuldigte Person (lit. b Ziff. 1). Das Interesse an der Behandlung der Beschwerde muss aktuell und praktisch sein (BGE 140 IV 74 E. 1.3.1; 136 I 274 E. 1.3). Gemäss der Rechtsprechung fehlt es nach Beendigung der Haft an einem solchen Interesse (BGE 136 IV 274 E. 1.3). Das Bundesgericht verzichtet unter gewissen Umständen aber auf dieses Erfordernis (vgl. dazu BGE 140 IV 74 E. 1.3.3; 136 IV 274 E. 1.3).  
Der Beschwerdeführer befindet sich, soweit ersichtlich, nicht mehr in Haft. Die Beschwerdekammer des Obergerichts hat mit dem Beschwerdeentscheid vom 24. August 2022 seine unverzügliche Entlassung aus der Haft angeordnet. Damit mangelt es ihm an einem aktuellen praktischen Interesse an der Behandlung seiner Beschwerde. Ob diese ausnahmsweise trotzdem materiell zu prüfen wäre, ist nicht weiter zu erörtern, erweist sie sich doch, wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt, ohnehin als offensichtlich unbegründet (Art. 109 Abs. 2 lit. a BGG). Aus dem gleichen Grund ist auch nicht darauf einzugehen, ob sonstige Gesichtspunkte einer materiellen Prüfung der Beschwerde entgegenstünden (vgl. Urteil 1B_180/2013 vom 30. Mai 2013 E. 2; VIKTOR LIEBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2020, N. 5b zu Art. 388 StPO). 
 
1.3. Mit der Beschwerde in Strafsachen kann insbesondere die Verletzung von Bundesrecht und Völkerrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a und b BGG). Art. 98 BGG gelangt bei strafprozessualen Zwangsmassnahmen nicht zur Anwendung (BGE 143 IV 330 E. 2.1 mit Hinweisen). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft die bei ihm angefochtenen Entscheide aber grundsätzlich nur auf Rechtsverletzungen hin, welche die beschwerdeführende Partei geltend macht und begründet, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE 144 V 388 E. 2). Erhöhte Anforderungen an die Begründung gelten namentlich, soweit die Verletzung von Grundrechten gerügt wird (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 143 I 1 E. 1.4; 142 I 99 E. 1.7.2; 139 I 229 E. 2.2).  
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, gegen die Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts sei die Beschwerde zulässig in den in der Strafprozessordnung vorgesehen Fällen (Art. 393 Abs. 1 lit. c StPO; ebenso Art. 20 Abs. 1 lit. c StPO). Nach Art. 222 StPO könne die verhaftete Person Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten. Nach der Rechtsprechung sei ebenso die Staatsanwaltschaft zur Beschwerde gegen Entscheide befugt, mit denen die Untersuchungs- oder Sicherheitshaft nicht angeordnet, nicht verlängert oder aufgehoben werde. Daran habe das Bundesgericht trotz Kritik mehrmals festgehalten. Das Parlament habe nun jedoch bei der Revision der Strafprozessordnung ausdrücklich darauf verzichtet, die Beschwerdebefugnis der Staatsanwaltschaft ins Gesetz aufzunehmen. Damit habe es "eo ipso den Status de lege lata" wiederhergestellt. Gemäss Art. 222 StPO - de lege lata und nach dem nunmehr klaren Willen des Gesetzgebers - sei die Staatsanwaltschaft nicht zur Beschwerde gegen eine Haftentlassung legitimiert. Die Vorinstanz hätte daher nicht auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg gegen den Haftentlassungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts eintreten und die Haft mit dem angefochtenen Entscheid aufrechterhalten dürfen. Indem sie dies trotz fehlender Zuständigkeit dennoch getan habe, habe sie ihm das Recht auf sofortige Haftentlassung nach Art. 226 Abs. 5 StPO bzw. die nach dieser Bestimmung sowie nach dem Recht der EMRK garantierte Haftentlassung durch ein Zwangsmassnahmengericht verweigert.  
 
2.2. Im Rahmen der Änderung der Strafprozessordnung vom 17. Juni 2022 (BBl 2022 1560), bezüglich welcher noch bis zum 6. Oktober 2022 die Referendumsfrist läuft, hat die Bundesversammlung auch Art. 222 StPO neu gefasst. Gemäss der geänderten Bestimmung kanneinzig die verhaftete Person Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten. Mit dieser Regelung hat sich die Bundesversammlung bewusst gegen den Vorschlag des Bundesrats gestellt, der Art. 222 StPO um einen neuen Absatz ergänzen wollte, wonach die Staatsanwaltschaft Entscheide über die Nichtanordnung, die Nichtverlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten kann (BBl 2019 6794). Dieser neue Absatz sollte der vom Beschwerdeführer erwähnten, mehrfach bestätigten Rechtsprechung des Bundesgerichts Rechnung tragen (vgl. BBl 2019 6744 f.), gemäss welcher die Staatsanwaltschaft nach dem geltenden Art. 222 StPO ein entsprechendes Beschwerderecht hat (vgl. BGE 137 IV 22; 137 IV 87 E. 2 f.; 137 IV 230 E. 1; 137 IV 237 E. 1.2; 138 IV 92 E. 3.2; 138 IV 148 E. 3.1; 139 IV 314 E. 2.2; 147 IV 123 E. 2.2).  
Zwar soll somit nach dem Willen des Gesetzgebers die Staatsanwaltschaft die genannten Haftentscheide nicht mehr bei der Beschwerdeinstanz anfechten können. Daraus wäre indessen selbst dann nichts zugunsten des Beschwerdeführers abzuleiten, wenn die Gesetzesänderung mit ihm als Korrektur der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aufgefasst würde. Neue Rechtsnormen gelten erst ab Inkraftsetzung und entfalten grundsätzlich keine Vorwirkung (vgl. BGE 136 I 142 E. 3.2; 129 V 455 E. 3; 125 II 278 E. 3c; je mit Hinweisen). Gründe, wieso von diesem Grundsatz hinsichtlich des noch nicht in Kraft gesetzten geänderten Art. 222 StPO abzuweichen wäre, nennt der Beschwerdeführer keine und sind nicht ersichtlich. Ebenso wenig folgt aus dem Entscheid des Gesetzgebers, dass der geltende Art. 222 StPO nunmehr entgegen den in der Rechtsprechung des Bundesgerichts für die bisherige Auslegung angeführten Gründen im Sinne des geänderten Art. 222 StPO auszulegen wäre. Auch sonst besteht aufgrund der Vorbringen des Beschwerdeführers kein Anlass, auf diese Rechtsprechung zurückzukommen. 
Damit bleibt es im vorliegenden Fall beim geltenden Art. 222 StPO und bei der dazu ergangenen Rechtsprechung. Dementsprechend war die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg zur Beschwerde gegen den Haftentlassungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts berechtigt. Ebenso war die Vorinstanz für die Behandlung der Beschwerde zuständig und durfte sie auf das prozessuale Gesuch der Staatsanwaltschaft hin ungeachtet der Regelung von Art. 226 Abs. 5 StPO bzw. des grundrechtlichen Anspruchs auf unverzügliche Freilassung der beschuldigten Person gestützt auf Art. 387 und 388 StPO für die Dauer des Beschwerdeverfahrens grundsätzlich die Weiterführung der Haft anordnen. Soweit der Beschwerdeführer unter Hinweis auf die erwähnte Gesetzesänderung Gegenteiliges vorbringt, erweist sich dies nach dem Gesagten als offensichtlich unbegründet. Weitere Rügen erhebt er nicht; ebenso wenig weist der angefochtene Entscheid offensichtliche rechtliche Mängel auf (vgl. vorne E. 1.3). 
 
3.  
Demnach ist die Beschwerde abzuweisen. 
Bei diesem Verfahrensausgang ist der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Zwar ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege; seine Beschwerde war jedoch aussichtslos, weshalb dem Gesuch nicht stattgegeben werden kann (Art. 64 BGG). Parteientschädigungen sind keine zuzusprechen (Art. 68 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 13. September 2022 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Der Gerichtsschreiber: Baur