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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
4A_179/2021  
 
 
Urteil vom 20. Mai 2022  
 
I. zivilrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Kiss, Niquille, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichterin May Canellas, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Stadt A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältinnen Barbara Klett und Dominique Müller, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
B.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Eisenbahnhaftpflicht; Unterbrechung des Kausalzusammenhangs, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, vom 9. Februar 2021 (NP200020-O/U). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
B.________ (Beschwerdegegner) wurde am 20. Februar 2019 bei einer Kollision mit einem Tram der Verkehrsbetriebe der Stadt A.________ (Beschwerdeführerin) schwer verletzt. 
 
B.  
Mit Teilklage beantragte B.________ am 8. Oktober 2019 beim Bezirksgericht Zürich, die Stadt A.________ sei zu verpflichten, ihm aus dem Unfall vom 20. Februar 2019 eine Genugtuung von Fr. 30'000.-- nebst Zins zu bezahlen. 
B.________ begründete seine Forderung mit der Gefährdungshaftung gemäss Art. 40b Abs. 1 des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 1957 (EBG; SR 742.101). Die Stadt A.________ beantragte die Abweisung der Teilklage unter Berufung auf die Entlastungsgründe gemäss Art. 40c EBG
Das Bezirksgericht beschränkte das Verfahren auf die Frage der Haftung. Am 2. Juni 2020 erklärte es, dass die Stadt A.________ aus dem Unfall vom 20. Februar 2019 im Grundsatz haftet. Es war zum Schluss gelangt, dass sich das mit dem Betrieb eines Trams verbundene charakteristische Risiko verwirklicht habe und eine Entlastung der Stadt A.________ ausgeschlossen sei. 
 
C.  
Die dagegen gerichtete Berufung der Stadt A.________ wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 9. Februar 2021 ab. 
 
D.  
Die Stadt A.________ beantragt mit Beschwerde in Zivilsachen, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Teilklage sei unter Kosten- und Entschädigungsfolge abzuweisen. Eventualiter sei das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an dieses zurückzuweisen. 
B.________ trägt auf Abweisung der Beschwerde an, soweit darauf einzutreten sei. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung. 
Die Parteien replizierten und duplizierten, wobei sich B.________ nach seiner Duplik ein weiteres Mal äusserte. 
Das Obergericht verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit dem angefochtenen Urteil bejahte die Vorinstanz die Haftung der Beschwerdeführerin dem Grundsatz nach. Dieses Urteil über eine Vorfrage schliesst das Verfahren nicht ab, sondern stellt einen Zwischenentscheid dar (vgl. dazu BGE 135 III 329 E. 1.2; 134 II 124 E. 1.3). 
Gegen einen Zwischenentscheid, der nicht die Zuständigkeit oder den Ausstand betrifft, ist die Beschwerde unter anderem zulässig, wenn deren Gutheissung sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG). Die beschwerdeführende Partei hat im Einzelnen darzulegen, inwiefern die Voraussetzungen nach Art. 93 Abs. 1 BGG erfüllt sind, ansonsten auf die Beschwerde mangels hinreichender Begründung nicht einzutreten ist (BGE 137 III 324 E. 1.1 mit Hinweisen). Das Bundesgericht prüft nach freiem Ermessen, ob die Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG erfüllt sind. Auf eine Beschwerde ist von vornherein nicht einzutreten, wenn die beschwerdeführende Partei überhaupt nicht dartut, weshalb die Voraussetzung erfüllt sei und die Eintretensfrage schlechthin ignoriert. Macht sie aber geltend, die Voraussetzung des Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG sei erfüllt, ist zu differenzieren: Geht bereits aus dem angefochtenen Urteil oder der Natur der Sache hervor, dass ein bedeutender Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren erforderlich sein wird, darf auf lange Ausführungen verzichtet werden. Andernfalls hat die beschwerdeführende Partei im Einzelnen darzutun, welche Tatfragen offen sind und welche weitläufigen Beweiserhebungen in welchem zeitmässigen und kostenmässigen Umfang erforderlich sind (BGE 133 IV 288 E. 3.2; Urteile 4A_203/2019 vom 11. Mai 2020 E. 1.3.1, nicht publ. in: BGE 146 III 254; 4A_247/2012 vom 18. September 2012 E. 1.2). 
Vorliegend ist die erste Voraussetzung von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG erfüllt. Sollte das Bundesgericht die Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin teilen und die Haftung verneinen, würde es die Teilklage abweisen und damit einen verfahrensabschliessenden Endentscheid fällen. Die Beschwerdeführerin legt überdies substanziiert dar, dass mit einem Endentscheid ein bedeutender Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren erspart werden könnte. Der Beschwerdegegner wendet sich nicht gegen diese Ausführungen. 
Bei dieser Sachlage sind die Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG erfüllt, so dass der angefochtene Zwischenentscheid selbständig der Beschwerde unterliegt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde grundsätzlich einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG; vgl. dazu BGE 133 III 545 E. 2.2; 133 II 249 E. 1.4.1). Allerdings prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungsanforderungen (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Die Beschwerde ist hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht eingetreten. Unerlässlich ist im Hinblick auf Art. 42 Abs. 2 BGG, dass die Beschwerde auf die Begründung des angefochtenen Entscheids eingeht und im Einzelnen aufzeigt, worin eine Verletzung von Bundesrecht liegt. Die beschwerdeführende Partei soll in der Beschwerdeschrift nicht bloss die Rechtsstandpunkte, die sie im kantonalen Verfahren eingenommen hat, erneut bekräftigen, sondern mit ihrer Kritik an den als rechtsfehlerhaft erachteten Erwägungen der Vorinstanz ansetzen (vgl. BGE 140 III 86 E. 2, 115 E. 2). Die Begründung hat ferner in der Beschwerdeschrift selbst zu erfolgen. Der blosse Verweis auf Ausführungen in anderen Rechtsschriften oder auf die Akten reicht nicht aus (BGE 140 III 115 E. 2; 133 II 396 E. 3.2 mit Hinweisen).  
 
2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Dazu gehören sowohl die Feststellungen über den Lebenssachverhalt, der dem Streitgegenstand zugrunde liegt, als auch jene über den Ablauf des vor- und erstinstanzlichen Verfahrens, also die Feststellungen über den Prozesssachverhalt. Zum Prozesssachverhalt gehören namentlich die Anträge der Parteien, ihre Tatsachenbehauptungen, rechtlichen Erörterungen, Prozesserklärungen und Beweisvorbringen (BGE 140 III 16 E. 1.3.1 mit Hinweisen). Das Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig bedeutet dabei willkürlich (BGE 140 III 115 E. 2, 264 E. 2.3). Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein können (Art. 97 Abs. 1 BGG).  
Die Partei, welche die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz anfechten will, muss klar und substanziiert aufzeigen, inwiefern die gerügten Feststellungen offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (vgl. BGE 140 III 16 E. 1.3.1 mit Hinweisen). Soweit die beschwerdeführende Partei den Sachverhalt ergänzen will, hat sie zudem mit Aktenhinweisen darzulegen, dass sie entsprechende rechtsrelevante Tatsachen und taugliche Beweismittel bereits bei den Vorinstanzen prozesskonform eingebracht hat (BGE 140 III 86 E. 2). Genügt die Kritik diesen Anforderungen nicht, können Vorbringen mit Bezug auf einen Sachverhalt, der vom angefochtenen Entscheid abweicht, nicht berücksichtigt werden (BGE 140 III 16 E. 1.3.1). 
 
3.  
 
3.1. Nach Art. 40b Abs. 1 EBG haftet der Inhaber eines Eisenbahnunternehmens für den Schaden, wenn die charakteristischen Risiken, die mit dem Betrieb der Eisenbahn verbunden sind, dazu führen, dass ein Mensch getötet oder verletzt wird oder ein Sachschaden entsteht. Nach Art. 40c EBG wird er allerdings von der Haftpflicht entlastet, wenn ein Sachverhalt, der ihm nicht zugerechnet werden kann, so sehr zur Entstehung des Schadens beigetragen hat, dass er als dessen Hauptursache anzusehen ist (Abs. 1), wie höhere Gewalt (Abs. 2 lit. a), die hier keine Rolle spielt, oder grobes Verschulden der geschädigten oder einer dritten Person (Abs. 2 lit. b).  
Strittig ist, ob sich die Beschwerdeführerin mit Blick auf ein grobes Verschulden des Beschwerdegegners ihrer Haftpflicht entschlagen kann. 
 
3.2. Das Bundesgericht interpretiert Art. 40c EBG im Wesentlichen gemäss seiner Rechtsprechung zur Unterbrechung des Kausalzusammenhangs (BGE 143 II 661 E. 7.1; 130 III 182 E. 5.4; 116 II 519 E. 4b), indem das Drittverhalten nur eine Hauptursache im Sinne der Bestimmung darstellt, wenn es einen derart hohen Wirkungsgrad aufweist, dermassen ausserhalb des normalen Geschehens liegt, dass die vom Haftpflichtigen gesetzte Ursache nach wertender Betrachtungsweise für die eingetretene Schädigung als rechtlich nicht mehr beachtlich erscheint. Das Verhalten einer Drittperson vermag den Kausalzusammenhang nur zu unterbrechen, wenn diese Zusatzursache derart ausserhalb des normalen Geschehens liegt, dass damit nicht zu rechnen war (Urteile 4A_131/2021 vom 11. Februar 2022 E. 1.1; 4A_602/2018 vom 28. Mai 2019 E. 3.3.3 mit Hinweisen). Die Verwirklichung der Betriebsgefahr muss im Verhältnis zum hinzukommenden Sachverhalt von derart untergeordneter Bedeutung sein, dass sie nur noch als eine zufällige, unbedeutende Teilursache des Schadens erscheint (zit. Urteil 4A_602/2018 E. 3.3.3.3 mit Hinweisen). Dabei wird nicht auf die subjektive Zurechenbarkeit abgestellt. Zur Beurteilung, ob ein Sachverhalt vorliegt, der den adäquaten Kausalzusammenhang unterbricht, soll vielmehr ausschliesslich das objektive Verhalten der Drittperson in Beziehung gesetzt werden zum Einfluss der charakteristischen Betriebsgefahr der Eisenbahn (zit. Urteil 4A_602/2018 E. 3.3.4 mit Hinweis).  
 
3.3. Die Sorgfaltswidrigkeit ergibt sich allgemein aus dem Vergleich des tatsächlichen Verhaltens des Handelnden mit dem hypothetischen Verhalten eines durchschnittlich sorgfältigen Menschen (BGE 137 III 539 E. 5.2 mit Hinweisen), wobei das Verschulden umso schwerer wiegt, je grösser das Ausmass der Abweichung vom Durchschnittsverhalten ist (BGE 116 Ia 162 E. 2c mit Hinweisen).  
 
3.4. Die Strassenbahn ist gegenüber dem Fussgänger grundsätzlich vortrittsberechtigt (Art. 38 Abs. 1 SVG), gemäss Art. 47 Abs. 2 Satz 1 VRV selbst auf Fussgängerstreifen. Solange der Strassenbahnführer keine Signalisation oder Verkehrsregelung verletzt und kein technisches Versagen vorliegt, ist dem Fussgänger bei einer Kollision grundsätzlich ein Selbstverschulden anzulasten (MARC HÜRZELER, Fussgänger im Strassenverkehr - Grundlagen und neuere Entwicklungen, in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2011, S. 111 ff., S. 136). Ein grobes Selbstverschulden liegt vor, wenn eine geschädigte Person elementare Sorgfaltsregeln ausser Acht lässt, die eine vernünftige Person in der gleichen Lage beachtet hätte (ROGER KÖNIG, Die Gefährdungshaftung nach Eisenbahngesetz, 2012, S. 92 Rz. 203, vgl. auch S. 99 Rz. 217). Dabei ist grundsätzlich das Verhalten eines Durchschnittsmenschen in der gleichen Situation massgebend. Die geschädigte Person muss jene elementaren Vorsichtsgebote unbeachtet gelassen haben, die jeder verständige Mensch in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen befolgt hätte (MIRINA GROSZ, in: Fischer/ Luterbacher [Hrsg.], Haftpflichtkommentar, 2016, N. 7 zu Art. 40c EBG). Auf städtischem Gebiet ist jene Aufmerksamkeit aufzuwenden, die im Stadtverkehr notwendig ist. Handelt die geschädigte Person unter Würdigung der Gesamtumstände nicht nur unaufmerksam, sondern "äusserst unvorsichtig" (BGE 88 II 448 E. 2b), dann ist von grobem Selbstverschulden auszugehen (vgl. auch KÖNIG, a.a.O., S. 99 Rz. 217).  
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin bestreitet zu Recht nicht, dass sich die charakteristischen Risiken verwirklicht haben, die mit dem Betrieb von Trams verbunden sind. Nach den Feststellungen der Vorinstanz stand der Beschwerdegegner an der Tramhaltestelle mit dem Rücken zum einfahrenden Tram. Er richtete seinen Blick auf das Mobiltelefon, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne dabei nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Dann wurde er vom Tram erfasst. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner durch die Kollision einen schweren Personenschaden erlitt und dass zwischen dem Unfall und den schweren Verletzungen des Beschwerdegegners ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Die Beschwerdeführerin beruft sich nicht auf ihr fehlendes Verschulden, sondern auf den Entlastungstatbestand des Art. 40c EBG. Sie bringt vor, Hauptursache für die Verletzungen des Beschwerdegegners sei dessen Selbstverschulden.  
 
4.2.  
 
4.2.1. Die Vorinstanz stellte unter Verweis auf die Erwägungen der Erstinstanz fest, dass der Beschwerdegegner am 20. Februar 2019 bei einer Tramhaltestelle mit einem Tram der Beschwerdeführerin kollidierte und sich schwer verletzte. Es lägen keine Hinweise auf Hindernisse vor, welche die Sicht behindert hätten. Die drei Augenzeugen sowie die Tramführerin hätten übereinstimmend ausgesagt, dass der Beschwerdegegner bei der Kollision und unmittelbar davor abgelenkt gewesen sei, da er sich mit seinem Mobiltelefon beschäftigt habe. Es sei erstellt, dass er sich unvermittelt in den Gleisbereich begab, ohne das einfahrende Tram wahrzunehmen. Gemäss einem Zeugen habe der Beschwerdegegner vor der Kollision kurz nach rechts auf ein anderes Tram geschaut. Ob dies zutreffe, könne offenbleiben. Denn auch der betreffende Zeuge habe klar ausgesagt, dass der Beschwerdegegner unmittelbar vor der Kollision mit seinem Mobiltelefon beschäftigt gewesen sei. Vor diesem Hintergrund bleibe kein Raum für die Vermutung des Beschwerdegegners, wonach er das Mobiltelefon im Zeitpunkt der Kollision bereits wieder verstaut hatte.  
 
4.2.2. Die Vorinstanz erwog, der Beschwerdegegner habe sich von seinem Mobiltelefon ablenken lassen, als er die Tramgeleise betreten habe. Allerdings stehe nicht fest, wie lange und weshalb diese Ablenkung erfolgt sei. Dem Beschwerdegegner könne nicht vorgeworfen werden, er habe sich längere Zeit mit seinem Mobiltelefon beschäftigt. Aus der Gegenrichtung sei praktisch zeitgleich ein anderes Tram in die Haltestelle eingefahren. Daher sei erhöhte Aufmerksamkeit gefordert gewesen vom Beschwerdegegner, der beabsichtigt habe, nach dem Fussgängerstreifen auch die Tramgeleise zu überqueren. Der Beschwerdegegner habe gegen die Verkehrsregeln verstossen, indem er sich seinem Mobiltelefon gewidmet und dem anderen Tram zugewandt habe. Denn er habe nicht nach links geschaut. Sein Verschulden wiege erheblich, aber nicht so schwer, dass die Betriebsgefahr, die vom Trambetrieb ausgeht, gänzlich in den Hintergrund gerückt würde. Ob dies auch dann der Fall wäre, wenn der Beschwerdegegner sich längere Zeit mit Blick auf das Mobiltelefon im Stadtverkehr bewegt hätte, brauche nicht entschieden zu werden.  
Die Erstinstanz hatte erwogen, heutzutage gehöre der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum städtischen Strassenbild. Das Mobiltelefon sei die Ablenkung unserer Zeit schlechthin. Solange sich ein Fussgänger mit Mobiltelefon auf dem Trottoir oder einer Traminsel bewege, bleibe dies in aller Regel unproblematisch. Anders verhalte es sich, wenn er sein Augenmerk beim Betreten der Fahrbahn weiterhin auf sein Mobiltelefon richte. Ein solches Verhalten sei unaufmerksam. Jedoch sei heutzutage damit zu rechnen, dass über ihr Mobiltelefon gebeugte Fussgänger achtlos die Strasse beträten. Dieses Verhalten weiche nicht massgeblich vom zu erwartenden normalen Geschehen ab. Der adäquate Kausalzusammenhang werde deshalb nicht unterbrochen. Das Verhalten des Beschwerdegegners sei nur bei der Schadensbemessung als Selbstverschulden zu berücksichtigen. 
 
4.3. Die vorinstanzliche Beurteilung des Selbstverschuldens des Beschwerdegegners überzeugt nicht.  
 
4.3.1. Das Bundesgericht beschäftigte sich nicht oft mit Kollisionen zwischen Fussgängern und Trams. Zu erwähnen ist ein Urteil vom 3. November 1927, zu dem ein Fussgänger Anlass gab, der das Geleise einer Strassenbahn betreten hatte, ohne vorher Umschau zu halten, und von einem Tram erfasst wurde. Gemäss Bundesgericht missachtete dieses Verhalten die elementarsten Vorsichtsmassregeln und erschien damit als grobe Fahrlässigkeit. Dass das Bundesgericht nicht auf eine vollständige Entlastung der Strassenbahn, sondern auf eine Haftungsquote von 40 Prozent erkannte, war auf die verminderte Urteilsfähigkeit des Fussgängers infolge Psychopathie zurückzuführen (BGE 53 II 433).  
Sodann beurteilte das Bundesgericht am 17. Dezember 1931 das Verhalten einer Fussgängerin, die mit ihrer Freundin in ein Gespräch vertieft war und auf die Geleise trat. Sie wurde von einem Tram erfasst, dessen Führer mehrmals Glockensignale gab und die Geschwindigkeit verminderte. Das Bundesgericht machte eine Sorglosigkeit aus, neben der auch die besondere Betriebsgefahr des Trams nicht mehr als Mitursache des Unfalls gewertet werden kann. Es erklärte, es gehöre zum Minimum der erforderlichen Sorgfalt, dass man nicht einen Bahnkörper betritt, ohne sich vorher durch Ausschau nach links und rechts überzeugt zu haben, dass von keinem heranfahrenden Zug Gefahr drohe. Wer an einer Stelle, wo der Bahnkörper gut zu übersehen sei, auch diese einfachste Vorsichtsmassnahme unterlasse, könne sich nachher nicht auf die besondere Gefährlichkeit des Trams berufen, wenn sich ein Unfall ereigne (BGE 57 II 585). 
In einem unpublizierten Urteil aus dem Jahr 2005 erachtete das Bundesgericht eine Haftungsquote von 25 Prozent zu Lasten der Trambetreiberin als gerechtfertigt, als eine Fussgängerin plötzlich und grundlos auf den Schienen anhielt, ohne zu überprüfen, ob sich ein Tram näherte (Urteile 5C.142/2005 und 5P.219/2005 vom 30. September 2005). 
 
4.3.2. In anderem Zusammenhang entschied das Bundesgericht unlängst einen Fall, in dem ein Mann und eine Frau einen Katamaran auf einem Wagen mit Blick in Gehrichtung über einen Bahnübergang zogen. Der Mast des Katamarans traf die Fahrleitung, die mit 15'000 Volt unter Hochspannung stand. Die Frau wurde meterweit wegkatapultiert und erlitt massive Brandverletzungen und Knochenbrüche. Das Bundesgericht verwarf den Einwand, jedem anderen verständigen Menschen in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen hätte dasselbe passieren können. Es gehe nicht um den moralischen Vorwurf, der dem fahrlässig Handelnden gemacht werden kann, sondern um die Frage, wie weit dem Kausalhaftenden die Folgen seiner gefährlichen Tätigkeit noch zugerechnet werden können. Gemäss Bundesgericht lag es nicht am Bahnunternehmen, grosse Warnschilder aufzustellen oder parallele Schutzseile vor die Fahrleitungen zu spannen. Vielmehr hätten der Mann und die Frau den Gefahren des überlangen Masts Rechnung tragen müssen. Der Mann und die Frau seien ein nicht nachvollziehbares unnötiges Risiko eingegangen. Hauptursache des Unfalls sei ihr grobfahrlässiges Verhalten. Die Voraussetzungen für eine Entlastung von der Haftpflicht nach Art. 40c EBG seien erfüllt (Urteil 4A_131/2021 vom 11. Februar 2022 Sachverhalt E. 2).  
 
4.3.3. Indem der Beschwerdegegner das Tramtrassee betrat, ohne sich zu vergewissern, dass auch von links kein Tram nahte, verstiess er gegen die oben erwähnten Verkehrsregeln (vgl. E. 3.4 hiervor).  
Bei Fehlverhalten im Strassenverkehr ist grobe Fahrlässigkeit in der Regel dann anzunehmen, wenn in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfall eine elementare Verkehrsvorschrift oder mehrere wichtige Verkehrsregeln schwerwiegend verletzt wurden. Der Begriff der groben Fahrlässigkeit ist in diesen Fällen weiter zu fassen als derjenige der groben Verletzung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 2 SVG, welcher ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten voraussetzt (vgl. Urteil 8C_263/2013 vom 19. August 2013 E. 4.2 mit Hinweis auf BGE 118 V 305 E. 2b). 
 
4.3.4. Der Beschwerdegegner stand an der Tramhaltestelle mit dem Rücken zum einfahrenden Tram. Er richtete seinen Blick auf das Mobiltelefon, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Dann kam es zur verhängnisvollen Kollision. Der Unfall ereignete sich bei schöner Witterung und trockener Strasse auf einer geraden Strecke bei übersichtlichen Verhältnissen. Der Strassenverlauf erlaubte es den Fussgängern, herannahende Trams auch bei erhöhtem Verkehrsaufkommen von Weitem zu erkennen. Mehrere Augenzeugen bestätigten übereinstimmend, dass der Beschwerdegegner bei der Kollision und unmittelbar davor abgelenkt war, weil er sich mit seinem Mobiltelefon beschäftigte. Er begab sich unvermittelt in den Gleisbereich, ohne das einfahrende Tram wahrzunehmen. Selbst wenn er kurz nach rechts auf ein anderes Tram geblickt haben sollte, steht fest, dass er vom Mobiltelefon abgelenkt war und das von links kommende Tram nicht beachtete.  
Es ist nicht entscheidend, ob sich der Beschwerdegegner während längerer Zeit mit seinem Mobiltelefon beschäftigte, als er sich im Stadtverkehr fortbewegte. Es kann auch nicht ausschlaggebend sein, dass praktisch gleichzeitig ein Tram aus der Gegenrichtung in die Haltestelle einfuhr. Im Gegenteil hätte gerade dieser Umstand erhöhte Aufmerksamkeit vom Beschwerdegegner gefordert, was auch die Vorinstanz bemerkt hatte. Umso mehr hätte er den Blick vom Mobiltelefon abwenden und nach allen Seiten richten müssen. 
 
4.3.5. Daran ändert nichts, dass der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum gewohnten, alltäglichen städtischen Strassenbild gehören mag. Auch die Vorinstanzen anerkennen die Problematik, wenn sich ein solcher Fussgänger von einem Trottoir oder einer Traminsel entfernt, eine Fahrbahn betritt und weiterhin auf sein Mobiltelefon blickt.  
Der Beschwerdegegner war unbestritten ortskundig. Die Gefahrensituation war ihm ohne weiteres bewusst. Er wohnte nur 600 Meter von der Tramhaltestelle entfernt. Es kann nicht gesagt werden, dass jedem anderen verständigen Menschen in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen dasselbe hätte passieren können. Auch hier geht es nicht um den moralischen Vorwurf, der dem Beschwerdegegner gemacht werden kann, sondern um die Frage, wie weit der Beschwerdeführerin die Folgen ihrer gefährlichen Tätigkeit noch zugerechnet werden können. Der Beschwerdegegner schuf die Gefahr völlig unnötig, indem er seinen Blick auf das Mobiltelefon richtete, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne dabei nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz hätte der Beschwerdegegner das herannahende Tram auch bei erhöhtem Verkehrsaufkommen von Weitem erkennen können. Doch er war von seinem Mobiltelefon abgelenkt. 
Es lag nicht an der Beschwerdeführerin, die Tramhaltestelle besser zu sichern. Vielmehr hätte der Beschwerdegegner ein Mindestmass an Sorgfalt walten lassen und zumindest kurz nach links blicken müssen, bevor er das Tramtrassee betrat. 
Der Beschwerdegegner weist zutreffend darauf hin, dass es einen Unterschied gibt zwischen einem Bahnhof, bei dem das Betreten der Geleise verboten ist, und einer Tramhaltestelle, wo das Betreten der Geleise notwendige Voraussetzung für den öffentlichen Verkehr ist. Doch ändert dies nichts daran, dass er grobfahrlässig handelte, indem er das Tramtrassee betrat, ohne nach links zu blicken und sich stattdessen seinem Mobiltelefon widmete. 
 
4.3.6. In der Lehre wird kritisiert, dass das Selbstverschulden von Fussgängern bei unbesehenem Betreten der Geleise von Strassenbahnen derart schwer gewichtet wird, dass es an einer Adäquanz der Betriebsgefahr mangelt oder dass Haftungsquoten von weniger als einem Drittel resultieren. Das heutige Verkehrsaufkommen in den Städten erfordere von Fussgängern zum Teil eine sehr hohe Aufmerksamkeit und könne gerade in komplexen Verkehrssituationen zu Fehleinschätzungen des Tramverkehrs führen. Oft lasse das dichte und verzweigte Schienennetz gerade dem ortsunkundigen Fussgänger nur wenig Bedenkzeit, in welche Richtung er sich bewegen könne und welche Fahrtrichtung das Tram aufnehme. Insofern erscheine es angezeigt, grobes Selbstverschulden nur bei völlig unbedachtem und unbesehenem Betreten der Geleise anzunehmen. Selbst in solchen Fällen sei zu bedenken, dass die Betriebsgefahr des Trams nur ausnahmsweise als Ursache des Unfalls komplett in den Hintergrund tritt (HÜRZELER, a.a.O., S. 137 f.).  
Was von dieser Lehrmeinung zu halten ist, kann offenbleiben. Denn im vorliegenden Fall hilft sie dem Beschwerdegegner ohnehin nicht. Er war zweifellos ortskundig. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz ereignete sich der Unfall bei schöner Witterung und trockenem Strassenzustand auf einer geraden Strecke bei übersichtlichen Verhältnissen. Der Strassenverlauf erlaubte dem Beschwerdegegner, die Trams von Weitem zu erkennen, selbst wenn gleichzeitig ein Bus hielt. Es gab keine Hindernisse, welche die Sicht behinderten. Somit lag keine komplexe Verkehrssituation vor, die zu einer Fehleinschätzung des Tramverkehrs führte. 
Vielmehr begab sich der Beschwerdegegner unvermittelt in den Gleisbereich. Er nahm das einfahrende Tram nicht wahr, weil er durch sein Mobiltelefon abgelenkt war und nicht nach links schaute. Damit liegt ein völlig unbedachtes und unbesehenes Betreten der Geleise vor. Weshalb auch in solchen Fällen die Betriebsgefahr des Trams als Ursache des Unfalls nur ausnahmsweise komplett in den Hintergrund treten soll, begründet der betreffende Autor nicht. 
 
4.4. Nach dem Gesagten erscheint das verkehrsregelwidrige Verhalten des Beschwerdegegners als Hauptursache des Unfalls. Die Voraussetzungen für eine Entlastung von der Haftpflicht nach Art. 40c EBG sind erfüllt.  
 
5.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Teilklage des Beschwerdegegners ist in Anwendung von Art. 107 Abs. 2 BGG abzuweisen. Die Sache ist zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen (vgl. Art. 67 und 68 Abs. 5 BGG). 
Ausgangsgemäss wären die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Indessen ist sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung mit Blick auf die zu seinen Gunsten lautenden Urteile der Vorinstanzen gutzuheissen, zumal er im Verfahren vor Bundesgericht als Beschwerdegegner auftritt (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Der Rechtsvertreter des Beschwerdegegners ist aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen (Art. 64 Abs. 2 BGG). Hingegen entbindet die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege den Beschwerdegegner nicht von der Ausrichtung einer Parteientschädigung an die obsiegende Beschwerdeführerin (Art. 64 Abs. 1, Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, vom 9. Februar 2021 (NP200020-O/U) wird aufgehoben. Die Teilklage des Beschwerdegegners wird abgewiesen. Die Sache wird zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens an das Obergericht zurückgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung wird gutgeheissen. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Der Beschwerdegegner hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'500.-- zu entschädigen. 
 
5.  
Der Rechtsvertreter des Beschwerdegegners, Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana, wird mit Fr. 2'500.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt. 
 
6.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 20. Mai 2022 
 
Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Hohl 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt