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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_749/2020  
 
 
Urteil vom 9. Januar 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Beusch, Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Schweizerische Ausgleichskasse SAK, Avenue Edmond-Vaucher 18, 1203 Genf, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Oktober 2020 (C-4101/2019). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Verfügung vom 22. Februar 2019 resp. Einspracheentscheid vom 17. Juli 2019 hob die Schweizerische Ausgleichskasse SAK (nachfolgend: Ausgleichskasse) die Witwerrente des A.________ auf Ende Dezember 2018 auf, weil sein jüngstes Kind in diesem Monat das 18. Altersjahr vollendet hatte. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 14. Oktober 2020 ab. 
 
C.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten die weitere und lückenlose Ausrichtung der Witwerrente über den 31. Dezember 2018 hinaus. 
Das Verfahren wurde bis zum Erlass des Urteils 78630/12 der Grossen Kammer des EGMR vom 11. Oktober 2022 ausgesetzt (Verfügungen vom 12. April 2021 und vom 2. November 2022). 
Die Ausgleichskasse beantragt, die Beschwerde sei als gegenstandslos abzuschreiben, und reicht gleichzeitig eine Verfügung vom 28. November 2022 ein, mit der sie A.________ eine Witwerrente ab dem 1. Januar 2019 zuspricht und den Nachzahlungsbetrag festsetzt. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren) Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 145 V 57 E. 1; 144 V 280 E. 1).  
 
1.2. Der Antrag der Ausgleichskasse auf Abschreibung des Verfahrens ist rein prozessualer Natur und daher zulässig (vgl. JOHANNA DORMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 59 zu Art. 99 BGG). Die dazu neu eingereichte Verfügung vom 18. November 2022 ist im Lichte von Art. 99 Abs. 1 BGG ebenfalls zulässig (vgl. BGE 137 III 614 E. 3.2.1; SVR 2020 KV Nr. 18 S. 79, 9C_749/2019 E. 1.1; Urteil 5A_505/2021 vom 29. August 2022 E. 2.3.1).  
 
1.3. Die Beschwerde an das kantonale Sozialversicherungsgericht (BGE 136 V 2 E. 2.5; Urteil 8C_133/2022 vom 7. September 2022 E. 5.1) resp. an das Bundesverwaltungsgericht (vgl. Art. 61 VwVG [SR 172.021] i.V.m. Art. 85bis Abs. 1 Satz 1 AHVG und Art. 37 VGG [SR 173.32]) und jene in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht (BGE 138 II 169 E. 3.3; Urteil 8F_7/2022 vom 9. September 2022 E. 1.1) sind devolutive und grundsätzlich reformatorische Rechtsmittel. Mit der Beschwerde gegen eine Verfügung resp. einen (an deren Stelle getretenen; vgl. BGE 133 V 50 E. 4.2.2; Urteil 9C_719/2020 vom 4. Januar 2022 E. 3.2) Einspracheentscheid verliert der Versicherungsträger grundsätzlich die Herrschaft über den Streitgegenstand (Devolutiveffekt). Eingeschränkt wird der Devolutiveffekt indessen durch Art. 53 Abs. 3 ATSG resp. durch Art. 58 VwVG (gegebenenfalls i.V.m. Art. 55 Abs. 1 ATSG), wonach der Versicherungsträger eine angefochtene Verfügung resp. einen Einspracheentscheid so lange wiedererwägen kann, bis er gegenüber der Beschwerdebehörde Stellung nimmt (vgl. Urteil 8C_133/2022 vom 7. September 2022 E. 5.1). Der Devolutiveffekt bewirkt zudem, dass der Entscheid der Beschwerdeinstanz prozessual die angefochtene Verfügung resp. den angefochtenen Einspracheentscheid ersetzt und damit alleiniger Anfechtungsgegenstand für einen nachfolgenden Instanzenzug bildet (BGE 130 V 138 E. 4.2; Art. 86 BGG). Eine mit Art. 53 Abs. 3 ATSG oder Art. 58 VwVG vergleichbare Bestimmung fehlt im hier anwendbaren Prozessrecht (BGG und BZP i.V.m. Art. 71 BGG; Urteile 2C_299/2009 vom 28. Juni 2010 E. 1.3.4; 2C_229/2008 vom 13. Oktober 2008 E. 2). Weshalb der Devolutiveffekt analog den genannten Normen im letztinstanzlichen Verfahren eingeschränkt sein soll (was als Möglichkeit in BGE 130 V 138 E. 4.2 angedeutet wird), ist nicht ersichtlich und wird auch nicht begründet.  
Demnach steht fest, dass die Ausgleichskasse ihre funktionale Zuständigkeit überschreitet und den Devolutiveffekt missachtet, indem sie mit Verfügung vom 28. November 2022, mithin während des bundesgerichtlichen Verfahrens, dem Beschwerdeführer die bislang verweigerte Witwerrente ab dem 1. November 2020 zuspricht. Diese Verfügung ist formellrechtlich als nichtig und in diesem Verfahren als Antrag der Beschwerdegegnerin auf Gutheissung der Beschwerde zu betrachten (vgl. BGE 133 V 530 E. 2; 130 V 138 E. 4.2; Urteil 8C_133/2022 vom 7. September 2022 E. 5.4). Das zieht keine Gegenstandslosigkeit des Verfahrens, sondern eine materielle Beurteilung der Beschwerde nach sich (vgl. Urteil 8C_487/2021 vom 5. Mai 2022 E. 3.2). 
 
2.  
 
2.1. Nach Art. 24 Abs. 2 AHVG erlischt der Anspruch auf eine Witwerrente, zusätzlich zu den in Art. 23 Abs. 4 AHVG aufgezählten Gründen (Wiederverheiratung bzw. Tod der Witwe oder des Witwers), wenn das letzte Kind des Witwers das 18. Altersjahr vollendet hat.  
Mit Urteil 78630/12 Beeler gegen Schweiz vom 11. Oktober 2022 entschied der EGMR (Grosse Kammer), dass durch diese Bestimmung Witwer diskriminiert werden, indem ihre Hinterlassenenrente, anders als jene von Witwen, mit der Volljährigkeit des jüngsten Kindes erlischt. Er stellte in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest. Somit ist zwecks Herstellung eines konventionskonformen Zustandes in vergleichbaren Konstellationen fortan darauf zu verzichten, die Witwerrente allein aufgrund der Volljährigkeit des jüngsten Kindes aufzuheben (vgl. BGE 143 I 50 E. 4.1 und 4.2; 143 I 60 E. 3.3; vgl. auch Urteil 9C_481/2021 vom heutigen Tag E. 2.1). Das erkannte denn auch das BSV in seinen Mitteilungen Nr. 460 vom 21. Oktober 2022 an die AHV-Ausgleichskassen und EL- Durchführungsstellen.  
 
2.2. Die hier zu beurteilende Situation entspricht jener, die dem EGMR-Urteil 78630/12 Beeler gegen Schweiz vom 11. Oktober 2022 zugrunde lag. Demzufolge war die Rentenaufhebung EMRK-widrig; die Beschwerde ist gutzuheissen.  
 
3.  
 
3.1. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der obsiegende, aber nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG i.V.m. Art. 1 des Reglements vom 31. März 2006 über die Parteientschädigung und die Entschädigung für die amtliche Vertretung im Verfahren vor dem Bundesgericht [SR 173.110.210.3]; Urteil 9C_131/2021 vom 24. November 2021 E. 7).  
 
3.2. Was das vorangegangene Verfahren anbelangt, so ändert dieses Urteil nichts an dessen Kostenlosigkeit (vgl. Art. 85bis Abs. 2 AHVG); zudem ist nicht ersichtlich, dass dem auch damals selbst prozessierenden Beschwerdeführer verhältnismässig hohe Kosten erwachsen sein sollen (vgl. Art. 64 Abs. 1 VwVG [SR 172.021]). Eine Neuverlegung der Kosten für das vorinstanzliche Verfahren erübrigt sich (vgl. Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Oktober 2020 und der Einspracheentscheid der Schweizerischen Ausgleichskasse SAK vom 17. Juli 2019 werden aufgehoben. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer die Witwerrente über den 31. Dezember 2018 hinaus auszurichten. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 9. Januar 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann