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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_508/2022  
 
 
Urteil vom 16. Dezember 2022  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichterin Jametti, 
Bundesrichter Haag, 
Gerichtsschreiber Dold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Adrian Dumitrescu, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach, Wildischachenstrasse 14, 5200 Brugg AG. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Erstellung eines DNA-Profils, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 5. September 2022 (SBK.2022.180). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach des Kantons Aargau führt gegen A.________ eine Strafuntersuchung. Sie verdächtigt ihn der Drohungen, Tätlichkeiten bzw. einfachen Körperverletzungen und der Nötigung zum Nachteil seiner von ihm getrennt lebenden Partnerin B.________ und der gemeinsamen Kinder. A.________ wurde deswegen am 13. Mai 2022 festgenommen. Die Staatsanwaltschaft beantragte daraufhin beim Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau Untersuchungshaft. In seiner Verfügung vom 16. Mai 2022 bejahte das Zwangsmassnahmengericht sowohl den dringenden Tatverdacht (in Bezug auf die Tatbestände der Nötigung und der einfachen Körperverletzung) als auch die besonderen Haftgründe der Kollusions- und der Wiederholungsgefahr. Es erwog jedoch, dass von A.________ keine besondere Gefährlichkeit auszugehen scheine und sich die besonderen Haftgründe auf die Geschädigte bezögen, weshalb ein Kontakt- und Annäherungsverbot (betreffend die Geschädigte) als Ersatzmassnahmen ausreichten. Entsprechend ordnete es die unverzügliche Haftentlassung an. 
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach veranlasste mit Verfügung vom 20. Mai 2022 die Erstellung eines DNA-Profils von A.________. Eine von diesem dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 5. September 2022 ab. 
 
B.  
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 29. September 2022 beantragt A.________, der Entscheid des Obergerichts und die Verfügung der Staatsanwaltschaft seien aufzuheben, eventualiter sei deren Rechtswidrigkeit festzustellen. Die abgenommenen DNA-Proben und ein allfälliges bereits erstelltes DNA-Profil seien umgehend zu vernichten und allfällige bereits erfolgte Einträge in DNA-Datenbanken zu löschen. 
Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer strafrechtlichen Angelegenheit, gegen den die Beschwerde in Strafsachen grundsätzlich offensteht (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG). Der strittigen Zwangsmassnahme, die zu einem Eintrag im DNA-Profil-Informationssystem (Art. 10 ff. des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003 über die Verwendung von DNA-Profilen im Strafverfahren und zur Identifizierung von unbekannten oder vermissten Personen [DNA-Profil-Gesetz; SR 363]) führt, kommt eine über das Strafverfahren hinausgehende eigenständige Bedeutung zu. Der vorinstanzliche Entscheid ist deshalb praxisgemäss als Endentscheid zu behandeln, der nach Art. 90 BGG anfechtbar ist (Urteil 1B_285/2020 vom 22. April 2021 E. 1 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 147 IV 372). Der Beschwerdeführer ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Da auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf seine Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Zur Aufklärung eines Verbrechens oder eines Vergehens kann von der beschuldigten Person eine Probe genommen und ein DNA-Profil erstellt werden (Art. 255 Abs. 1 lit. a StPO). Ein solches Vorgehen ist nicht nur möglich zur Aufklärung bereits begangener und den Strafverfolgungsbehörden bekannter Delikte. Wie aus Art. 259 StPO in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 lit. a DNA-Profil-Gesetz klarer hervorgeht, soll die Erstellung eines DNA-Profils vielmehr auch erlauben, Täterinnen und Täter von Delikten zu identifizieren, die den Strafverfolgungsbehörden noch unbekannt sind. Dabei kann es sich um vergangene oder künftige Delikte handeln. Das DNA-Profil kann so Irrtümer bei der Identifikation einer Person und die Verdächtigung Unschuldiger verhindern. Es kann auch präventiv wirken und damit zum Schutz Dritter beitragen. Auch hinsichtlich derartiger Straftaten bildet Art. 255 Abs. 1 lit. a StPO eine gesetzliche Grundlage für die DNA-Probenahme und Profilerstellung (zum Ganzen: BGE 147 I 372 E. 2.1 mit Hinweisen).  
 
2.2. Art. 255 StPO ermöglicht aber nicht bei jedem hinreichenden Tatverdacht die routinemässige Entnahme und Analyse von DNA-Proben. Die Entnahme der für die DNA-Analyse notwendigen körpereigenen Vergleichsproben, namentlich eines Wangenschleimhautabstrichs (WSA) oder einer Blutprobe, berührt das in Art. 10 Abs. 2 BV verankerte Grundrecht der körperlichen Integrität, die nachfolgende Erstellung eines DNA-Profils und dessen Bearbeitung durch staatliche Behörden das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gemäss Art. 13 Abs. 2 BV (BGE 128 II 259 E. 3.2 mit Hinweis). Einschränkungen von Grundrechten bedürfen gemäss Art. 36 Abs. 2 und 3 BV einer gesetzlichen Grundlage und müssen durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig sein. Diese Voraussetzungen werden in Art. 197 Abs. 1 StPO präzisiert. Danach können Zwangsmassnahmen nur ergriffen werden, wenn ein hinreichender Tatverdacht vorliegt (lit. b), die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können (lit. c) und die Bedeutung der Straftat die Zwangsmassnahme rechtfertigt (lit. d).  
 
2.3. Das Obergericht schloss sich hinsichtlich des Tatverdachts der Einschätzung des Zwangsmassnahmengerichts an, das seinerseits insbesondere auf die belastenden Aussagen der Geschädigten, eine von dieser eingereichte Audiodatei, den Auszug aus der gemeinsamen Wohnung und den Aufenthalt im Frauenhaus abstellte.  
Die Geschädigte hatte bei ihrer polizeilichen Einvernahme vom 14. Mai 2022 von einer gegen ihren Willen vor knapp 13 Jahren in Afghanistan geschlossenen Zwangsheirat gesprochen. Diese habe sie in der Schweiz nicht registrieren lassen wollen, weil sie den Beschwerdeführer nie geliebt habe. Der Beschwerdeführer habe sie die letzten 12 Jahre nur mit Drohungen gehalten, ihr Kontakte zu Dritten verboten und sie deswegen auch schon brutal zusammengeschlagen. Sie habe Angst, dass er seine Drohungen in Bezug auf ihre Verwandten und ihre Familie in Afghanistan umsetzen könnte. Auch fürchte sie sich selbst vor ihm. Er verdächtige sie, mit anderen Männern Verhältnisse zu haben, und kontrolliere sie. Im April 2021 habe sie den gemeinsamen Haushalt verlassen. Der Beschwerdeführer habe ihr gedroht, er werde ihr Gesicht mit Säure "kaputtmachen", ihre Eltern umbringen lassen und sie als psychisch krank hinstellen, damit man ihr die Kinder wegnehme. Weiter spielte die Geschädigte eine Audiodatei ab, die von der Dolmetscherin wie folgt übersetzt wurde: "Vergiss nicht, dass wenn du mit der Scheidung beginnst, wirst du nur zwei, drei Tage am Leben bleiben." Dass der Beschwerdeführer sie in der Schweiz geohrfeigt habe, sei schon fast Normalität gewesen. Um Weihnachten 2020, kurz bevor sie ins Frauenhaus gegangen sei, habe er sie heftig geschlagen und ins Schlafzimmer gebracht, wo er ihr das Kopfkissen auf das Gesicht gedrückt habe, um sie umzubringen. Sie sei sehr schwach geworden und habe sich nicht mehr bewegen können. 
Das Obergericht erwog, insbesondere die eingereichte Audiodatei wecke Zweifel an den Aussagen des Beschwerdeführers, wonach er der Geschädigten nie gedroht habe, zudem nichts gegen eine Scheidung habe und sogar bereit sei, ihr eine Mitgift zu finanzieren. Ein hinreichender Tatverdacht sei ohne Weiteres zu bejahen. Gestützt darauf sei auch von einer erhöhten Gewaltneigung des Beschwerdeführers auszugehen. Es seien weitere Beziehungsgewalttaten (gegenüber der Geschädigten oder einer allfälligen neuen Partnerin) zu befürchten. Es liege auf der Hand, dass die Erstellung eines DNA-Profils geeignet sei, die mutmasslich erhöhte Gewaltneigung des Beschwerdeführers gegenüber der Geschädigten oder allenfalls auch einer neuen Partnerin bis zu einem gewissen Grad positiv zu beeinflussen, zumal der Beschwerdeführer damit rechnen müsse, dass sich ihm ein allfälliger körperlicher Übergriff eher nachweisen lasse. 
 
2.4. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz verletze die Unschuldsvermutung, wenn sie einzig von den zu untersuchenden Delikten auf eine Gewaltneigung schliesse. Andere erhebliche und konkrete Anhaltspunkte nenne sie nicht. Er sei nicht vorbestraft. Wenn befürchtet werde, dass er gegen seine gegenwärtige oder eine künftige Partnerin gleich geartete Delikte (Drohungen, Gewaltdelikte) begehen könnte, sei nicht einzusehen, weshalb seine Identifizierung problematisch und ein DNA-Profil von Nutzen sein könnte. Zudem sei er in keiner neuen Beziehung, weshalb die Annahmen der Vorinstanz spekulativ seien. Darüber hinaus halte der Eingriff einer Güterabwägung nicht stand.  
 
2.5. Nach dem Ausgeführten kann die Anordnung einer DNA-Analyse auch präventiven Zwecken dienen. Wenn ihre Erforderlichkeit insofern einzig mit noch nicht rechtskräftig beurteilten Tatvorwürfen gerechtfertigt wird, verletzt dies die Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK) nicht, denn mit der Annahme eines Tatverdachts allein erfolgt noch keine Vorverurteilung (Urteil 1B_334/2018 vom 30. Juli 2018 E. 4.2 mit Hinweis). Die Begründung der Gefahr weiterer Delikte in einem Entscheid über Zwangsmassnahmen verletzt die Unschuldsvermutung nicht, solange sie erkennen lässt, dass die betreffende Gefahr auf Verdachtsgründen beruht (Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Yasar Kemal Gökçeli gegen die Türkei vom 4. März 2003, Nr. 27215/95, §§ 41-48). Dies trifft auf den angefochtenen Entscheid zu, da er keinerlei Feststellungen enthält, die nahelegen, der Beschwerdeführer sei schuldig. Die Rüge ist deshalb unbegründet.  
 
2.6. Dient die DNA-Analyse nicht der Aufklärung bereits begangener, sondern der Aufklärung und Verhütung künftiger Straftaten, müssen vor dem Hintergrund des Verhältnismässigkeitsgebots allerdings erhebliche und konkrete Anhaltspunkte für die Gefahr derartiger künftiger Straftaten bestehen. Diese haben zudem von einer gewissen Schwere zu sein. Zu berücksichtigen ist im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung auch, ob der Beschuldigte vorbestraft ist. Trifft dies nicht zu, schliesst das allein die DNA-Analyse jedoch nicht aus (zum Ganzen: BGE 145 IV 263 E. 3.4 mit Hinweisen; s.a. BGE 147 I 372 E. 4.3.2).  
 
2.7. Der gegen den Beschwerdeführer bestehende Tatverdacht beschränkt sich auf Delikte im Rahmen der langjährigen Beziehung zu seiner mittlerweile von ihm getrennt lebenden Partnerin. Das Zwangsmassnahmengericht ging diesbezüglich im Verfahren betreffend Anordnung von Untersuchungshaft von Wiederholungsgefahr aus, erachtete jedoch ein Kontakt- und Annäherungsverbot als ausreichend, um diese zu bannen. Weitere Ersatzmassnahmen ordnete es nicht an (siehe die in Art. 237 Abs. 2 StPO in nicht abschliessender Weise aufgezählten Ersatzmassnahmen). Hinweise dafür, dass der Beschwerdeführer eine neue Beziehung eingegangen ist, sind nicht erkennbar. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer nicht vorbestraft ist und es auch keine anderweitigen Anzeichen gibt, dass er ausserhalb seiner Beziehung zur Geschädigten straffällig geworden ist. Vor diesem Hintergrund ist äusserst fraglich, ob nach der erfolgten Anordnung eines Kontakt- und Annäherungsverbots noch von erheblichen und konkreten Anhaltspunkten für die Gefahr künftiger Straftaten ausgegangen werden kann.  
 
2.8. Als entscheidend erweist sich jedoch, dass es im Falle eines künftigen Beziehungsdelikts ohnehin kaum um die Identifikation des Täters gehen dürfte (Art. 1 Abs. 2 lit. a Ziff. 1 DNA-Profil-Gesetz), sondern höchstens um die Unterstützung der Beweisführung (Art. 1 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 DNA-Profil-Gesetz). Diesbezüglich sind jedoch von einer bereits vorsorglich durchgeführten DNA-Analyse keine massgeblichen Vorteile zu erwarten. Sollte der Beschwerdeführer tatsächlich erneut eines gleichartigen Delikts verdächtigt werden und ist in jenem Zeitpunkt davon auszugehen, dass sein DNA-Profil ein geeignetes Beweismittel darstellt (vgl. Art. 139 Abs. 1 StPO), so kann ein solches Profil ohne Weiteres dannzumal noch angeordnet werden. Dies bereits jetzt "auf Vorrat" zu tun, ist nicht erforderlich, weshalb der damit einhergehende Grundrechtseingriff unverhältnismässig ist (vgl. E. 2.2 hiervor).  
 
3.  
Die Beschwerde ist aus diesen Erwägungen gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Die Staatsanwaltschaft als anordnende Behörde (Art. 7 DNA-Profil-Gesetz) wird angewiesen, die Vernichtung der Probe, des weiteren Analysematerials, des DNA-Profils und des darauf basierenden Eintrags im DNA-Profil-Informationssystem zu veranlassen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Der diesbezüglich in der eingereichten Kostennote ausgewiesene Betrag ist angemessen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau vom 5. September 2022 aufgehoben. Die Staatsanwaltschaft wird angewiesen, die Vernichtung der Probe, des weiteren Analysematerials, des DNA-Profils und des darauf basierenden Eintrags im DNA-Profil-Informationssystem zu veranlassen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Aargau hat Rechtsanwalt Adrian Dumitrescu mit Fr. 2'350.40 zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 16. Dezember 2022 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Der Gerichtsschreiber: Dold